Linguistic Turn

Linguistic Turn

Mit dem Begriff linguistische Wende (auch: sprachkritische Wende; engl.: linguistic turn) wird ein wissenschaftlicher Paradigmenwechsel bezeichnet, der im 20. Jahrhundert eine herausragende Bedeutung für die Geistes- und Sozialwissenschaften hatte. Dabei bezieht sich der Begriff der linguistischen Wende auf eine eng eingegrenzte Entwicklung in der Wissenschaft des 20. Jahrhunderts, insbesondere der Philosophie, Linguistik und Semiotik, die jedoch weitreichende Auswirkungen auf die meisten anderen Geisteswissenschaften hatte. Bekannt wurde das Schlagwort durch die 1967 von Richard Rorty herausgegebene Anthologie The Linguistic Turn. Essays in Philosophical Method.

Inhaltsverzeichnis

Philosophische Grundlagen

Als „linguistische Wende“ bezeichnet man in der Philosophie eine Entwicklung hauptsächlich des 20. Jahrhunderts, die mit einer verstärkten Hinwendung zum Phänomen der Sprache und ihrer Bedeutung einhergeht. Eine Voraussetzung zu dieser Hinwendung zur Sprache ist unter anderem die „Kopernikanische Wende in der Philosophie“, die durch Immanuel Kant mit dessen „kritischen Schriften“ (seit Erscheinen der Kritik der reinen Vernunft) eingeleitet wurde. Kant fragt im Gegensatz zur gesamten philosophischen Tradition nicht mehr ontologisch nach dem Sein der „Dinge an sich“, sondern nach den Bedingungen der Möglichkeit von Erfahrung. Diese Bedingungen sind vor allem die reinen Formen der Anschauung (Zeit und Raum) und die reinen Formen des Verstandes (die „Kategorien“), durch die hindurch wir Wirklichkeit immer schon wahrnehmen und vor aller Erfahrung (d.h. a priori) strukturieren. Dieser Blick weg vom Objekt und hin zum Subjekt des Erkennens bezeichnet man als das mentalistische Paradigma.

Auf das mentalistische folgte das linguistische Paradigma, die der Erkenntnis geschuldet war, dass sich alle Erfahrung nur sprachlich vermitteln lässt. Ein anschauliches Beispiel für die Hinwendung zur Sprache bietet die durch George Edward Moore angeregte Entwicklung der Metaethik: Nicht die Frage nach dem Guten steht im Zentrum dieser „Ethik“, sondern die Frage, welcher Art der Begriff „gut“ eigentlich ist. Ist er auf präskriptive (vorschreibende) Ausdrücke, zum Beispiel „sollen“, oder auf deskriptive (beschreibende) Ausdrücke, zum Beispiel „nützlich“, zurückzuführen? Oder sind deskriptive Ausdrücke hier gar grundsätzlich unzulässig und ein, wie Moore es nennt, „naturalistischer Fehlschluss“? Diese Erörterungen sind nicht mehr ethisch im eigentlichen Sinne des Wortes, sondern gehören einer „Metaethik“ an, einem Sprechen über die Sprache der Ethik. Dies verdeutlicht den grundlegenden Perspektivenwechsel, den die linguistische Wende mit sich brachte.

Im Kontext der unter anderem von Gottlob Frege, Ludwig Wittgenstein und Bertrand Russell geprägten Analytischen Philosophie wurde Ende des 19. und Anfang des 20. Jahrhunderts versucht, Sprache systematisch zu analysieren. Mit Hilfe einer eindeutigen und widerspruchsfreien, an die Mathematik angelehnten künstlichen Sprache sollten zahlreiche philosophische Probleme der Tradition besser begriffen und zum Teil auch, wie im Falle einiger Paradoxa, aufgelöst werden. In der Folge etablierte sich die Sprachphilosophie als eigenständige Disziplin. Auch die Philosophie der normalen Sprache glaubt durch die genaue Beschreibung der Alltagssprache zu philosophischen Erkenntnissen zu gelangen.

Die Philosophie wird im Kontext der Sprachphilosophie zu einer Disziplin zweiter Ordnung: Sie untersucht nicht mehr, wie die Welt ist, sondern wie die Welt beschrieben wird. Doch nicht nur die Sprachphilosophie beschäftigt sich im 20. Jahrhundert eingehend mit der Sprache, auch andere Bereiche der Philosophie wie beispielsweise die Phänomenologie von Maurice Merleau-Ponty, die philosophische Anthropologie von Ernst Cassirer, aber auch die Philosophie Martin Heideggers beschäftigen sich aus verschiedenen Blickwinkeln mit dem Problem der Sprache.

Die Auswirkungen auf die Geisteswissenschaften

Die linguistische Wende im engeren Sinne kann als Weiterführung und Anwendung der sprachlichen Wende auf das Gebiet der Kultur und der Geisteswissenschaften allgemein angesehen werden. Im Zentrum steht die Einsicht, dass alle Erkenntnis stets der Logik der Sprache folgen muss und somit die sprachliche Struktur sowohl die Voraussetzung als auch die Grenze des Erkennbaren bildet. Sprache wird nicht mehr nur als neutrales Medium von Mitteilung angesehen, sondern als bestimmten Regeln gehorchender Diskurs, innerhalb dessen Aussagen jeder Art überhaupt erst möglich sind. Letztlich, so die Auffassung der radikalen Vertreter des „linguistic turn“, sind auch die nicht im engeren Sinn sprachlichen Phänomene nach den diskursiven Regeln der Sprache strukturiert und als Text entzifferbar.

Um die Logik der Sprache zu untersuchen, wurden insbesondere die Linguistik sowie die neu etablierte Disziplin der Semiotik (Zeichentheorie) herangezogen. Die Ergebnisse dieser Forschungen wurden dann auch auf andere Bereiche wie etwa die Literaturwissenschaft oder die Ethnologie übertragen. Maßgeblich verantwortlich für den Durchbruch des Linguistic Turn in den Geisteswissenschaften waren vor allem die aus dem Strukturalismus und dem Poststrukturalismus hervorgegangenen Arbeiten. Bekannte Vertreter sind unter anderem Claude Levi-Strauss, Michel Foucault, Judith Butler, Jacques Lacan, Luce Irigaray, Julia Kristeva, Roland Barthes, Umberto Eco und Jacques Derrida.

Dabei entspricht die Sichtweise der linguistischen Wende gegenüber dem Phänomen Sprache durchaus nicht dem „gesunden Menschenverstand“ – und auch nicht dem, was die Philosophen lange Zeit über die Sprache zu wissen glaubten. Der herkömmlichen Vorstellung zufolge funktionieren Wörter nämlich wie Etiketten: Es gibt zuerst den wirklichen Stuhl, dann das Vorstellungsbild 'Stuhl' (das Signifikat), dann das Wort „Stuhl“ (den Signifikanten).

Schon 1915 konnte demgegenüber der Genfer Linguist Ferdinand de Saussure zeigen, dass die Signifikanten nicht „Abbilder“ der Signifikate sind, sondern dass Bedeutung vielmehr auf einer internen Differenzierung zwischen den Signifikanten selbst beruht. Sprache ist ein tendenziell autonomes System, das mit dem von ihm Bezeichneten nur willkürlich (arbiträr) verknüpft ist. Saussure gilt sowohl als einflussreichster Begründer der modernen Linguistik wie auch als Wegbereiter des Strukturalismus, der Semiotik und damit des Linguistic Turn.

Die Auswirkungen auf die Sozialwissenschaften

Spätestens in den 1980er-Jahren griff der Paradigmenwechsel der linguistischen Wende auch auf Sozialwissenschaften wie Geschichtswissenschaft oder Soziologie über. Unter dem Einfluss des Postmodernismus und des Poststrukturalismus kam es zu einer Abkehr von dem Anspruch, historische Wahrheiten und harte „Fakten“ zu entdecken. Man wandte sich statt dessen dem Diskurs zu, innerhalb dessen Wahrheiten und Fakten erst sozial artikuliert werden. Als Wegbereiter dieses Ansatzes können Michel Foucault sowie der Geschichtstheoretiker Hayden White gelten. In ihrer Folge traten eine Vielzahl neuer Fragestellungen und Methoden auf, so z.B. die Neue Kulturgeschichte, die historische Anthropologie, die Mikrogeschichte sowie die Frauen- und Geschlechtergeschichte im Rahmen der Gender Studies.

Hayden White analysiert das Problem der Erzählung in der modernen Geschichtstheorie und beschreibt, wie Erzählstrukturen das Verständnis jeder Rekonstruktion von Geschichte lenken und damit manipulieren. Elfried Müller und Alexander Ruoff fassen das Ergebnis seiner Analyse so zusammen: „Erzählt man Geschichte, interpretiert man sie notwendig durch die Art und Weise, in der man ihre einzelnen Daten strukturiert.“

Literatur

Allgemein

  • Richard Rorty: The Linguistic Turn. Essays in Philosophical Method, 1967
  • Jerome Ikechukwu Okonkwo: ‘Linguistic Turn’: The Passage from the Philosophy of Nature to the Philosophy of Language, Prima Philosophia 14(3), (2001), S. 289-300
  • John O'Callaghan: Thomist Realism and the Linguistic Turn: Toward a More Perfect Form of Existence, Notre Dame: University of Notre Dame Press, 2003
  • Doris Bachmann-Medick: Cultural Turns. Neuorientierungen in den Kulturwissenschaften. 3. neu bearb. Aufl., Hamburg: Rowohlt Verlag, 2009

Die linguistische Wende in der Geschichtswissenschaft

  • Peter Schöttler: Wer hat Angst vor dem 'linguistic turn'?, in: Geschichte und Gesellschaft, 23/1997 (1), S. 134-151
  • Hayden White: Das Problem der Erzählung in der modernen Geschichtstheorie, in: Pietro Rossi (Hg.): Theorie der modernen Geschichtsschreibung, Frankfurt/M. 1987
  • Elfriede Müller und Alexander Ruoff: Interpreten des Grauens. Geschichte und Verbrechen im französischen roman noir, in: jour fixe initiative berlin (Hg.): Geschichte nach Auschwitz, Münster, 2002, ISBN 3-89771-409-4

Siehe auch

Weblinks


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