Loi Gayssot

Loi Gayssot

Als Negationismus wird vor allem in Frankreich (Négationnisme), seltener auch in Großbritannien (Negationism) die Leugnung von Völkermorden bezeichnet.

Der Historiker Henry Rousso prägte den Begriff 1987 als Neologismus. Anders als der deutsche Begriff Holocaustleugnung bezieht er sich nicht nur auf das Bestreiten, Verharmlosen und Relativieren des Holocaust am europäischen Judentum, sondern auch auf das Abstreiten oder Minimieren anderer Völkermorde und Demozide. Aktuell ist vor allem die Leugnung des Völkermord an den Armeniern Gegenstand der Rechtsprechung und Strafverfolgung in einigen Staaten Europas.

Inhaltsverzeichnis

Frankreich

Analog zur Strafbarkeit der spezifischen Holocaustleugnung seit 1990 wurde im französischen Parlament in den letzten Jahren mehrmals versucht, auch die Bestreitung des Genozids an den Armeniern unter Strafe zu stellen. Zuletzt scheiterte eine entsprechende parlamentarische Initiative am 18. Mai 2006; der eingebrachte Gesetzentwurf gelangte nach protokollarischer Verzögerungstaktik und entsprechender Intervention des Parlamentspräsidenten erst gar nicht zur Abstimmung. Eine Ausweitung der unter dem Schlagwort „Loi Gayssot“ bekannten Gesetzgebung gegen Rassismus, die bisher nur die Holocaustleugnung unter Strafe stellt, wird in der französischen Gesellschaft sehr kontrovers diskutiert. Das hängt u.a. auch damit zusammen, dass sich eine breite Front von Intellektuellen und Historikern grundsätzlich gegen ein Eingreifen der Legislative in die geschichtswissenschaftliche Forschung ausspricht.[1] Hintergrund ist eine Kontroverse um die historische Beurteilung von Frankreichs Rolle während des Kolonialismus (besonders im Algerienkrieg), die von den regierenden Konservativen ebenfalls per Gesetzentwurf auf eine nicht allzu kritische Haltung festgelegt werden sollte.

Am 12. Oktober 2006 hat die französische Nationalversammlung einen von der Sozialistischen Partei (PS) eingebrachten erneuten Gesetzentwurf mit 106 Jastimmen bei 19 Gegenstimmen angenommen. Sollte das Gesetz vom Senat ratifiziert werden, ist die Leugnung des Genozids an den Armeniern in Frankreich in Zukunft strafbar mit bis zu einem Jahr Gefängnis bzw. 45.000 Euro Geldstrafe.

Die Europäische Union hat den Gesetzentwurf verurteilt. Erweiterungskommissar Olli Rehn machte darauf aufmerksam, dass der Vorstoß gerade in einer kritischen Phase der Beitrittsgespräche mit der Türkei kontraproduktiv sei. Rehn sieht die Gefahr, dass der Reformprozess in der Türkei gebremst werden könnte. Die Unterstützung des EU-Beitritts ist bei der türkischen Bevölkerung im ersten Jahr der Beitrittsgespräche jüngsten Umfragen zufolge von 70 auf 43 Prozent gesunken. Ähnlich äußerte sich auch der Präsident der Europäischen Kommission José Manuel Barroso. Die Tagesschau gibt an, dass in Frankreich eine halbe Million armenischstämmige Menschen wohnen, die von den Parteien als Wähler umworben werden. [2]

Die Grünen haben das Französische Parlament aufgerufen, dieses Gesetz nicht anzunehmen. Sie bewerten dieses Gesetz als durchsichtiges Wahlkampfgeschenk an die radikalen Kräfte in der armenischen Diaspora. Der Vorschlag, eine unabhängige Historikerkommission einzurichten, wird als vernünftiger Weg bezeichnet. Aus Sicht von Hrant Dink, einem der prominentesten armenischen Intellektuellen der Türkei und Herausgeber der türkisch-armenischen Wochenzeitung AGOS, verhindert diese Art von Gesetz jede Debatte zwischen Türken und Armeniern. [3] Hrant Dink betonte, dass man künftig nicht mehr gegen Gesetze argumentieren könne, die es verbieten, die Ereignisse als Völkermord zu klassifizieren, wenn Frankreich nun umgekehrt das Gleiche tut. Dink brachte seinen Protest dadurch zum Ausdruck, dass er der erste sein werde, der nach Paris fährt, um gegen das Gesetz zu verstoßen. Der armenische Patriarch von Istanbul, Mesrop Mutafyan, sieht das Gesetz als schädlich für den Dialog an. Insbesondere die in den letzten Jahren in der Türkei erfolgte positive Wahrnehmung der armenischen und der griechischen Minderheiten Istanbuls sieht der Patriarch von einem Rückschlag gefährdet. Der türkische Ministerpräsident Recep Tayyip Erdoğan sagte, dass eine Lüge eine Lüge bleibe, auch wenn ein anderes Parlament etwas anderes beschließt. Die Türkei werde bei Annahme dieses Gesetzes ökonomisch reagieren. Den aus seiner Fraktion stammenden Vorschlag, die französischen Massaker in Algerien als Völkermord zu klassifizieren, lehnte Erdoğan ab.[4]

Schweiz

In der Schweiz fällt Holocaustleugnung unter den Straftatbestand der Rassendiskriminierung, so dass der Begriff im Sinne des weiter gefassten französischen Terminus Negationismus auf andere Völkermorde ausgedehnt werden kann. Demgemäß eröffneten die Justizbehörden 2005 ein Strafverfahren gegen den Historiker Yusuf Halacoglu (Leiter der Türkischen Historischen Gesellschaft) und den Vorsitzenden der türkischen Arbeiterpartei Doğu Perinçek, die den Völkermord an den Armeniern bestritten hatten. Doğu Perinçek wollte sich nach eigener Aussage gezielt festnehmen lassen, um seinen Protest zu zeigen. [4]

Belgien

In Belgien wurde im November 2005 die Klage eines Politikers türkischen Ursprungs abgewiesen, der vor Gericht Schadenersatz gefordert hatte, nachdem er im Zusammenhang mit dem Völkermord an den Armeniern – seiner Meinung nach zu Unrecht – des Negationismus (bzw. als ’Negationist’) bezichtigt worden war. Das Gericht stellte in seinem Urteil fest, dass „die Position von Herrn E. Kir, die in der Weigerung besteht, die Massaker und Deportationen von Armeniern im Osmanischen Reich 1915-1916 als Völkermord zu qualifizieren, bevor eine Kommission unabhängiger Historiker sich zu dieser Frage geäußert habe, unter Missachtung der zahlreichen zu diesem Thema bereits abgeschlossenen seriösen Arbeiten darauf hinausläuft, jede Entscheidung über eine solche Qualifikation der Vorgänge auf unabsehbare Zeit hinauszuschieben, was de facto bedeutet, dieselbe (d. i. die begriffliche Einordnung der Armeniermassaker als Völkermord) zu negieren.“

Deutschland

In Deutschland hat das Oberverwaltungsgericht Berlin-Brandenburg im Zusammenhang mit der Anfechtung eines Demonstrationsverbots am 17. März 2005 ein bedeutsames Urteil mit Bezug auf die (negationistische) Bezeichnung des Völkermordes an den Armeniern als „Genozid-Lüge“ gefällt. Für die zunächst verbotene, dann durch den OVG-Beschluss wieder zugelassene Demonstration türkischer Vereine in Berlin zu Ehren von Talat Pascha, der 1915-1917 als Innenminister des Osmanischen Reiches einer der Hauptschuldigen am Armenier-Genozid war und 1921 in Berlin bei einem Attentat durch den armenischen Studenten Soghomon Tehlirian ums Leben kam, machte das Urteil zur Auflage, die Qualifizierung der Armenier-Massaker als Genozid weder in Wort noch Schrift als „Völkermord-Lüge“ zu bezeichnen, da hierdurch der Straftatbestand des Artikels 189 StGB (Verunglimpfung des Andenkens Verstorbener) erfüllt sei. [5]

Spanien

In Spanien ist ein Gesetz Kraft (Artikel 607, Absatz 2 des Strafgesetzbuches), das die Leugnung oder Rechtfertigung von Völkermorden in einem sehr umfassenden Sinn mit Gefängnisstrafe bis zu zwei Jahren ahndet. Bisher wurde dieses Gesetz allerdings noch nicht angewandt.

Einordnung

Nach Gunnar Heinsohn befindet sich ein Leugner von Völkermorden in einem merkwürdigen moralischen Paradox:[6]

„Einerseits steht er mit dem Abstreiten im moralischen Konsens der Verurteilung von Völkermorden. Andererseits schützt er mit dem Abstreiten die Mörder und plädiert damit für die Straflosigkeit dieses Völkermordes.“

Nach Deborah Lipstadt stellt die Leugnung eines Völkermordes dessen letzte Stufe dar, da den Opfern und ihren Nachkommen damit auch noch das Recht auf das Gedächtnis an die erlittene Katastrophe genommen wird.

Siehe auch

Einzelbelege

  1. Appel de Blois der Vereinigung Liberté pour L'Histoire
  2. Tagesschau: EU kritisiert Frankreich wegen des Armenien-Gesetzes
  3. Völkermord an den Armeniern: Grüne fordern Rücknahme des französischen Gesetzes zum Völkermord an den Armeniern
  4. a b Der Spiegel: Armenier-Gesetz. Türken über Frankreich erbost
  5. Oberverwaltungsgericht Berlin-Brandenburg, Beschluss vom 17. März 2006
  6. Gunnar Heinsohn: Lexikon der Völkermorde. Rowohlt, Reinbek bei Hamburg 1999, ISBN 3-499-22338-4, S. 238

Weblinks


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