Lotosfüße

Lotosfüße

Als Lotos- (andere Schreibweise Lotus-) oder Lilienfüße bezeichnete man die Füße der Frauen im alten China, die durch extremes Einbinden und Knochenbrechen zu Gunsten eines etwa tausend Jahre lang anhaltenden Schönheitsideals verkrüppelt wurden.

Inhaltsverzeichnis

Hintergründe und Ursprung des Füßebindens

Der Brauch geht angeblich auf eine Geliebte des Kaisers Li Houzhu zurück, des letzten Kaisers der Tang-Dynastie (975). Diese Tänzerin bandagierte sich die Füße, um auf der goldenen, lotosblütenförmigen Bühne, die der Kaiser ihr bauen ließ, besondere Leistungen vollbringen zu können. Yu Huai, ein chinesischer Historiker des 17. Jahrhunderts, spürte der Wurzel des Füßebindens nach und fand dabei Folgendes heraus:

In alten Zeiten bestand zwischen den Füßen der Männer und denen der Frauen kein Unterschied...
Meine Nachforschungen haben ergeben, dass das Fußeinbinden zur Zeit Li Houzhus der Südlichen Tang-Dynastie Mode zu werden begann. Er hatte eine königliche Dienerin namens Yao Niang, die wegen ihrer zarten Schönheit und ihrer Tanzbegabung berühmt wurde. So ließ er eine goldene Lotosblüte anfertigen, die sechs Fuß hoch und mit kostbaren Edelsteinen, Girlanden und Seidenquasten geschmückt war. Diese goldene, in vielen Farben leuchtende Lotosblüte stand in der Mitte der Halle. Yao Niang musste sich nun, die Füße mit Seidenbändern umwunden, in diese Blüte schmiegen und die Form der Mondsichel nachahmen. Sie tanzte auf ihren weißen Socken auf der Lotosblüte, machte Pirouetten und erweckte den Eindruck, als wären die weiten Ärmel ihres Gewandes Wolken. Ihr Stil wurde von vielen nachgeahmt. Yao Niang war also die erste, die mit dem Fußeinbinden begann.

In dieser Zeit wurden die Füße aber nur locker bandagiert, vergleichbar dem Spitzenschuh einer Ballerina, und es kam nicht zu Verstümmelungen wie später. Während des Neokonfuzianismus wurden die Rechte und Möglichkeiten der Frauen beschränkt, und ab der Song-Dynastie war es üblich, die Füße von Mädchen aus den gehobenen Schichten ab dem frühen Kindesalter (die Zahlen schwanken) dergestalt einzubinden.

Der Brauch verbreitete sich bis zu Beginn des 20. Jahrhunderts in allen Schichten der Bevölkerung; mit Ausnahme der ärmsten Bauern, die für die Feldarbeit Frauen mit intakten Füßen benötigten. Auch die Mandschus (die von 1644 bis 1911 China regierten) und die Mongolen schlossen sich diesem Brauch nicht an. Im Gegensatz zu den Han-Chinesen hielten die Mandschuren nichts von Lotosfüßen, daher konnte man Mandschurinnen leicht an ihren normal entwickelten Füßen erkennen.

Beschreibung der Prozedur

Den meisten Mädchen wurden die Füße im Alter von fünf bis acht Jahren von der Mutter oder der Großmutter abgebunden. Zunächst wurde der Fuß in einer Flüssigkeit aus Kräutern und Tierblut eingeweicht, die Zehnägel so kurz wie möglich geschnitten, um ein Einwachsen und damit einhergehende Infektionen zu vermeiden und der Fuß dann massiert. Die Fußknochen wurden anschließend mit einem Stein gebrochen. Der Fuß wurde dann so eng mit Bandagen umschlungen, dass er nicht nur im Wachstum gehemmt und zum Klumpfuß verformt wurde, sondern aufgrund mangelnder Durchblutung oft auch teilweise oder ganz abstarb. Mit Ausnahme der großen Zehe wurden alle Zehen gebrochen und unter die Fußsohle gebogen. Den jungen Mädchen wurden die Zehen dabei alle zwei Tage erneut mit nassen und immer engeren Bandagen, die beim Trocknen auch wiederum enger wurden, unter die Fußsohle geschnürt, damit sie schmale, spitze Füße bekamen. Häufig kam es nach dieser Prozedur zu Fäulnisprozessen, die teilweise auch mit Zugabe von Porzellanscherben, Schlamm und Würmern gefördert wurden, um das Absterben des Fußes zu erzwingen und somit späteren Schmerzen vorzubeugen. Wenn es gelungen war, die Füße auf diese Weise zu deformieren, konnten die Frauen keine weiteren Strecken mehr gehen.[1]

Gesellschaftliche Bedeutung

Frauen mit abgebundenen Füßen

Als ideale Fußlänge galten zehn Zentimeter, was etwa der Schuhgröße 17 entspricht. Tatsächlich erreichten jedoch nur wenige Frauen diese Länge. Die meisten abgebundenen Füße maßen im Durchschnitt 13 bis 14 Zentimeter.[1] Lebenslange Schmerzen und die körperliche Behinderung wurden selbstverständlich akzeptiert und machten junge Frauen bei Männern attraktiv.[2]

Spezialschuhe für Lotosfüße

Es kam sogar vor, dass Männer gar nicht mehr auf das Gesicht ihrer Braut achteten, wenn nur die Füße klein waren und Frauen mit größeren Füßen gesellschaftlicher Ächtung unterlagen. Die eingeschränkte Bewegungsfähigkeit ließ viele Frauen zudem fülliger werden, was ebenfalls dem damaligen Schönheitsideal entsprach. Die Eltern betrachteten das Abbinden der Füße in der Regel als notwendige Investition in die Zukunft ihrer Töchter.

In der Regel wurden die Bandagen parfümiert und kunstvoll gestaltete, kleine Spezialschuhe getragen. Bandagen und Schuhe wurden meist auch im Bett anbehalten, um das weitere Wachstum der Füße zu verhindern und Entzündungen und faulige Gerüche zu kaschieren.

Frau um 1900

Wohlstand

Frauen mit Lotosfüßen waren meist nicht mehr in der Lage sich ohne fremde Hilfe weitere Strecken fortzubewegen. Zu dieser Zeit galt es gar als unschicklich für eine wohlhabende Frau das Haus zu verlassen. Die reichen Frauen ließen sich sowieso in einer Sänfte tragen, die von allen Seiten verhängt war. Mit der Zeit verband sich das Schönheitsideal kleiner Füße mit der Tugend, das Haus nicht zu verlassen, so dass das Füßebinden in den oberen Bevölkerungsschichten allgemein üblich und zum Zeichen von Wohlstand wurde.
Lediglich die Töchter ärmerer Familien aus der Landwirtschaft bekamen die Füße in der Regel nicht abgebunden, da sie bei der Feldarbeit benötigt wurden.[2]

Erotische Darstellung einer Frau mit Lotosfüßen

Erotik

Der kleinschrittige Gang solcher Frauen wurde von chinesischen Dichtern und Poeten als erotisch beschrieben und die kleinen Füße häufig als der erotischste Teil des weiblichen Körpers wahrgenommen. Angeblich weckten die hilflosen Bewegungen dieser Frauen den „Beschützerinstinkt“ der Männer. Die Prozedur der Verformung resultierte in einer verminderten Fortbewegungsfähigkeit der Frau, was wahrscheinlich ähnlich erotisierend auf Männer wirkte wie Bondage-Szenarien. Zudem bewirkte sie Trippelschritte, deren erotische Ausstrahlung der von Stöckelschuhen ähnelt. Außerdem sollte der schwankende Gang die Oberschenkelmuskulatur kräftigen und die Vagina verengen.[2].

Unterwürfigkeit

Während die Stellung der Frauen zur Zeit der liberal geprägten Tang-Dynastie innerhalb der Familie und der Ehe von Achtung und Selbstbewusstsein geprägt war, änderte sich dieses Rollenbild allmählich während der darauffolgenden Song-Dynastie. Die zeitgleich aufkommende Mode der Lotosfüße begünstigte dabei die zunehmend unterwürfige Position der Frau. Aufgrund der stark eingeschränkten Bewegungsfähigkeit waren Frauen meist zu Hause und entsprechend ihrer Möglichkeiten an den Haushalt gebunden. Sie waren somit ihren Männern unterworfen und stellten zudem keine Bedrohung für die männliche Oberherrschaft dar. Ebenso waren sie den Umständen zufolge zur Treue gezwungen.[2]

Abschaffung des Füßebindens

Noch während der späten Qing-Dynastie (Anfang des 20. Jahrhunderts) und in der Republik China war es üblich, den Mädchen die Füße zu binden. Während der Industrialisierung entstand jedoch zunehmend der Bedarf nach Arbeitskräften um gegenüber den USA, Europa und Japan konkurrenzfähig zu bleiben. Auch entstanden mehrere gesellschaftliche Bewegungen, die das Füßebinden ablehnten und unter anderem von der Frauenrechtlerin Qiu Jin unterstützt und wie folgt kommentiert wurden:

Warum lassen wir Frauen uns das gefallen, dass wir unser Leben für zwei Füße opfern, deren Knochen zerquetscht und deren Füße verkümmert sind? (...) Die Ursache liegt nur bei euch selbst, die ihr euch für wertlose Wesen haltet und die ihr nicht danach trachtet, euch beruflich zu qualifizieren, so dass ihr eueren Lebensunterhalt selbst verdienen könnt. Es ist eure Schuld, dass ihr euch immer den Männern anvertraut und eure ganze Energie daran wendet, ihnen zu schmeicheln und tausend neue Wege zu finden, wie ihr euch bei ihnen lieb Kind machen könnt.
Normale und abgebundene Füße

Die Überwindung der kulturellen Praktik wurde unter anderem auch durch die Gründung von Elterngruppen forciert, die sich gegenseitig versprachen weder ihren Töchtern die Füße zu brechen und zu binden noch ihre Söhne an Frauen mit gebundenen Füßen zu verheiraten. Damit wurden Kollektive mit neuen Verhaltensmustern geschaffen, die von den Eltern als Bezugsgruppen akzeptiert wurden.
Teilweise wurden Lotosfüße als Symbol für das traditionelle China so massiv abgelehnt, dass bereits abgebundene Füße wieder aufgebrochen wurden.

1911 verbot die Republik China das Füßebinden. Es wurde jedoch mit abnehmender Tendenz noch bis in die 1930er Jahre fortgeführt.
Nach Gründung der Volksrepublik China 1949 wurde der Brauch unter Mao Zedong endgültig verboten und geächtet, vermutlich weil die Regierung die Gleichberechtigung der Frau verlangte und Arbeitskräfte benötigt wurden. Frauen mit gebundenen Füßen mussten mit Sanktionen rechnen. Heutzutage ist dieser Brauch sowohl verboten als auch unüblich geworden, da sich viele Chinesen, besonders in den Städten, am westlichen Schönheitsideal orientieren. Auch die früheren chinesischen Damenschuhe werden heutzutage nicht mehr produziert. Die letzte Fabrik, die Spezialschuhe für abgebundene Füße herstellte, schloss 1988. Noch heute leben in China ältere Frauen mit sogenannten Lotusfüßen.

Literatur

  • Jung Chang: Wilde Schwäne, ISBN 3-426-62705-1
  • Michael Andritzky (Hrsg.): z. B. Schuhe, S. 210-213
  • Dorothy Ko, Cinderella’s Sisters: A Revisionist History of Footbinding. Los Angeles: University of California Press, 2005, Paperback edition 2008, ISBN 0520253906
  • Gerry Mackie (1996): Ending Footbinding and Infibulation: A Convention account. American Sociological Review, 61, S. 999-1017
  • Lisa See: "Der Seidenfächer", ISBN 3-570-00875-4
  • Kathryn Harrison: " Die gebundenen Füße" ,398 Seiten, ISBN 3-471-79432-8

Weblinks

Quellen

  1. a b Perverses Schönheitsideal Ärztewoche Online
  2. a b c d Goldener Lotus – Die gebundenen Füße der Frauen in China Bayerischer Rundfunk - Radio Wissen

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