Mitgefühl

Mitgefühl

Als Empathie (westlicher gräzisierter Fachterminus (Kunstwort) ἐμπάθεια empatheia als Übersetzung von deutsch „Mitfühlen“, „Einfühlung“[1]; im Griechischen mit den dortigen Bedeutungen „Vorurteil“, „Gehässigkeit“[2]; stattdessen dort Verwendung von συμπάθεια, „Sympathie“) bezeichnet man die Fähigkeit eines Menschen, einen anderen Menschen von außen (ohne persönliche Grenzen zu überschreiten) möglichst ganzheitlich zu erfassen, dessen Gefühle zu verstehen, ohne diese jedoch notwendigerweise auch teilen zu müssen, und sich damit über dessen Verstehen und Handeln klar zu werden. Der Begriff wird im deutschen Sprachraum seit dem Ende der 1960er Jahre von Psychologen bzw. Psychotherapeuten, Pädagogen, Seelsorgern, Ärzten, Soziologen und Designern verwendet.


Inhaltsverzeichnis

Allgemeines

Allerdings deckt sich der Begriff der Empathie mit dem Begriff Einfühlungsvermögen, den bereits Sigmund Freud definiert hat. Besonders deutlich hat jedoch sein Schüler Theodor Lipps (1906, S.198) diesen Begriff bereits 1906 so definiert, dass er mit dem heutigen Begriff Empathie deckungsgleich ist.

„Anzumerken ist..., dass der heute übliche Terminus Empathie, der den Begriff der Einfühlung mittlerweile abgelöst hat und der hinsichtlich seiner Bedeutung mit ihm als synonym zu betrachten ist, indirekt auf Lipps zurückgeht“

Stefan Liekham, 2004

Die folgenden Anmerkungen betreffen lediglich die psychotherapeutische Behandlungspraxis, besonders die Darstellung von Mitgefühl ist damit nur aus dieser Perspektive zu verstehen. (Hier sei auf die englischen Artikel zu compassion (als Äquivalent zu Mitgefühl) und Empathy verwiesen.

„Die spezifische ‚Einfühlung‘ ist kein Sich-Gleichmachen mit dem Patienten, sondern ein Erschließen des immer unerkennbar bleibenden Realen. Statt sich mit dem Analysanten zu identifizieren (Ich empfinde, was Du meinst), sorgt der Psychoanalytiker für genügend Fremdheit, die jenem erst die Begegnung mit dem eigenen unbewussten Begehren ermöglicht“

Freud: Abriß der Psychoanalyse, Kapitel VIII, in: Gesammelte Werke, 17. Band, S. 127)

Empathie ermöglicht also schon gemäß Freud und Lipps, von Außen unter Beachtung der Grenzen eine andere Person ganzheitlich - also auch unter Einbeziehung derer Emotionalität – zu erfassen, diese im eigenen Bewusstsein als „Alter Ego“ (mit begrenzter Kontingenz, siehe Systemtheorie von Luhmann) zu konstruieren und mit dieser zu kommunizieren.

Veraltet ist die Auffassung, dass Empathie es ermöglicht, Gefühle zu teilen oder gar „in den Anderen einzudringen“. Dieser Vorgang wird mit Gefühlsansteckung (engl.: Emotional Contagion) oder auch "Mitgefühl" bezeichnet (für Therapeuten schwierig, aber nicht immer vermeidbar) oder ist sogar eine Grenzverletzung (für Therapeuten unbedingt zu vermeiden).

Da Gefühlsansteckung und Empathie oft miteinander verflochten auftreten und das Eine mit dem Anderen dann gleichgesetzt wird, ist eine begriffliche Trennung nicht nur für Therapeuten, sondern auch im Alltag von großer Bedeutung. Gefühlsansteckung (und auch „Mitgefühl“) ist immer eine Überschreitung der persönlichen Grenzen, was das Wort „Ansteckung“ ja auch aussagt. Sie kann als positiv oder negativ empfunden, als Hilfe oder Therapie eingesetzt werden oder eher belastend wirken. Gefühlsansteckung geschieht oft unwillentlich, sie kann aber nur kognitiv beendet werden.

Im Gegensatz dazu bedingt Empathie ganz ausdrücklich den Ausschluss jeglicher Überschreitung oder Vermischung beiderseitiger persönlicher Grenzen – es ist ausschließlich die Fähigkeit, eine Person von Außen ganzheitlich wahrzunehmen unter strikter Respektierung der Individualität dieser Person.

Lipps unterscheidet drei Stufen der Empathie: Die erste Ebene beinhaltet generelle Empathie, wenn die Form eines Objekts eine Aktivität hervorruft. Auf der zweiten Ebene vollzieht sich natürliche Empathie. Auf dieser ruft ein Objekt eine Aktivität hervor, die versucht, es in einen realen Kontext bzw. einen kausalen Zusammenhang einzuordnen. Auf dieser Ebene geschieht es, das Objekte "vermenschlicht" werden. Auf der dritten, der höchsten Ebene der Empathie, reagieren wir auf echten menschlichen Ausdruck wie Gesten, Gesichtsausdrücke und Stimmlagen.

Perspektivenübernahme

Perspektivenübernahme ist eine Technik bzw. Fähigkeit aus der Sozialpsychologie, bei der man sich in die Rolle und Position eines anderen hineinversetzt und versucht, die Welt aus dessen Sicht zu sehen.

in den Mokassins eines anderen gehen“ - (Indianische Redensart, vollständig „Urteile nie über einen anderen, bevor Du nicht einen Mond lang in seinen Mokassins gegangen bist“ für: sich in seine Rolle, seine Perspektive einfühlen)

Außerdem wird darunter die Fähigkeit verstanden, auf andere Werthaltungen und Normen einzugehen, um sie in die Person integrieren und neue soziale Rollen annehmen zu können (vgl. Tausch (Soziologie)).

Wesentlich dabei ist, dass der eigene Affektzustand dem Gefühlszustand einer anderen Person entspricht. Dies wird dadurch ausgelöst, dass man die Perspektive der anderen Person einnimmt – „in ihre Haut schlüpft“ – und so ihre emotionalen und anderen Reaktionen begreifen kann. Dies gelingt teilweise sogar in extremen Situationen. Beispielsweise wird in Anti-Aggressions-Therapien die Fähigkeit von (potenziellen) Gewalttätern gefordert, sich empathisch in ihre Opfer hineinzuversetzen.

Die gemeinsame Übernahme einer Perspektive hängt in der Geschichte oft mit demokratischen Tendenzen beziehungsweise mit der Überbrückung von Standesgrenzen zusammen. Das Theater der griechischen Antike war eng mit der Idee der athenischen Demokratie verbunden. Aristoteles prägte in diesem Zusammenhang die Begriffe Mimesis und Katharsis. Diese öffentliche Einfühlung wurde im 18. Jahrhundert mit dem sogenannten Rührstück nachzuahmen versucht. Seit der französischen Revolution entwickelten sich Einfühlungstheorien. Die frühe Psychologie etwa von Sigmund Freud berief sich auf die Theatertheorie („Ödipuskomplex“).

Hirnforschung

Untersuchungen zu Spiegelneuronen lassen zwischen dem Nachahmungsverhalten und der Fähigkeit zur Empathie einen Zusammenhang vermuten, beispielsweise bei dem Gähnen und ansteckendem Lachen. Dieses Phänomen wird jedoch als Gefühlsansteckung bezeichnet und keines Falls als Empathie im oben beschriebenen Sinn (gemäß Freud und Theodor Lipps). Diese Vermischung oder Verwechselung findet sich recht häufig auch in wissenschaftlichen Texten.

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In der aktuellen Hirnforschung (Manfred Spitzer) zeigt sich eine durch Hirnstrukturen beeinflusste Empathie gegenüber Personen in Abhängigkeit von deren fairen bzw. unfairen Verhaltens. Dabei konnte eine unterschiedliche Ausprägung bei Frauen und Männern festgestellt werden. Besagte Hirnstrukturen reagieren bei Männern deutlicher und stärker auf äußere Einflüsse von Fairness oder Unfairness. Die empfundene Empathie wird bei Fairness-Erfahrung in den betroffenen Hirnregionen derart verstärkt, dass Männer z. B. ein größeres bzw. verstärktes Mitgefühl empfinden. Im umgekehrten Falle, also bei Unfairness-Erfahrung, reagieren die Hirnregionen bei Männern mit einem deutlicheren Bestrafungsempfinden. Dagegen ist dieser Effekt bei Frauen sowohl im positiven als auch im negativen Sinne viel schwächer ausgeprägt. (Ob eine funktionell unterschiedliche Reaktion von Hirnstrukturen, die bei beiden Geschlechtern vorhanden sind, tatsächlich durch eine geschlechtsabhängig anatomisch-feingewebliche besondere Beschaffenheit dieser Hirnstrukturen bedingt oder durch andere Faktoren erst erworben oder antrainiert ist, ist durch diese Untersuchungen nicht geklärt – vergleiche z. B. frühkindliche Sehstörungen durch Sensorische Deprivation, wo ebenfalls kein anatomischer, sondern nur ein funktioneller Unterschied zu normal entwickelten, sehenden Kindern besteht.) Auch hier ist zu beachten, dass Mitgefühl und vergleichbare Gefühle nicht synonym mit Empathie bezeichnet werden dürfen. Besonders dann, wenn Vieles gleichzeitig auftritt, besteht die Gefahr einer Überschreitung persönlicher Grenzen, die reine Empathie strikt vermeidet. Die Fähigkeit zur Empathie kann als Evolutionsvorteil gesehen werden, etwa durch das Ermöglichen des Erkennens von Vorwänden.[3]

Verhaltensforschung

Der Verhaltensforscher und Zoologe Frans de Waal sieht in der menschlichen Fähigkeit zur Empathie den Teil unseres evolutionären Erbes auf dem die Voraussetzungen zu sozialem und moralischen Verhalten gründen.

Determinierte und angeborene Fähigkeit zur Empathie

Die außerhalb rein wissenschaftlicher Texte heutzutage wohl häufigste Verwendung des Begriffs Empathie beschreibt das, eigentlich bei allen Säugetieren vorhandene, natürliche Verständnis zwischen Mutter und Neugeborenem. Hier ist jedoch die Unterscheidung zwischen determinierter und angeborener Fähigkeit zur Empathie von großer Bedeutung.

Allgemein wird, unter anderem in der Kinderpsychologie, immer noch davon ausgegangen, dass sich Empathie bei Kleinkindern erst zum Ende des 2.Lebensjahres entwickelt, z. B. ab der Selbsterkennung in Spiegeln. Es wird in der jüngsten Forschung jedoch immer deutlicher, dass diese Empathie nur in sozial determinierter Hinsicht gesucht und gefunden wird. Ein Sozialverhalten von Kleinstkindern vor dieser Entwicklungsstufe wird in den Wissenschaften zwar bereits wahrgenommen, oft jedoch lediglich als „Gefühlsansteckung“ interpretiert und bezeichnet.

Neuere Forschungen der Psychologie, Verhaltensforschung und Neurophysiologie beschreiben jedoch auch eine andere, nicht determinierte Existenz von Empathie hinter der Ebene der Gefühlsansteckung, die Kleinstkinder angeboren mitbringen und die sehr bald durch die determinierte Empathie ganz oder teilweise verdrängt wird.

Determinierte Empathie hat prinzipiell das Ziel, eine gruppenspezifische psychische Identität zu erreichen. Die angeborene Fähigkeit zur Empathie dagegen ermöglicht es Kleinstkindern die Grenzen Anderer zu erkennen. In den dadurch erkannten eigenen Grenzen entwickelt sich die psychische Individualität.

Aus der bereits von Kleinstkindern gezeigten erheblichen Individualität schließen Psychologen wie Arno Gruen auf die Existenz einer angeborenen, nicht determinierten Empathiefähigkeit. Erste (sehr umstrittene) Versuche, Kleinstkindern schon sehr früh mittels Taubstummengesten das Sprechen beizubringen oder gar Akkumulation von Wissen schon in diesem Alter zu beginnen zeigen, dass Kleinstkinder lange vor dem Alter, in dem sie durch determinierte Empathie beeinflussbar sind, kommunikationsfähig und auch -bereit sind. Da Kommunikation jedoch gemäß Carl Rogers (1959) Empathie erfordert, sind offenbar also auch Kleinstkinder bereits empathiefähig.

Nach den Ansichten moderner Erzieher und Psychologen geht diese natürliche, angeborene Fähigkeit zur Empathie durch kulturelle Einflüsse (Erziehung) in den ersten beiden Lebensjahren verloren und wird dann allenfalls durch kognitive Empathie ersetzt. Darüber hinaus werden den Kleinkindern so auch negative Emotionen durch die direkten Bezugspersonen vermittelt (Cierpka, s. u.). Arno Gruen sieht in der daraufhin fehlenden Möglichkeit zu einer individuellen Kommunikationsbereitschaft und der folgenden Erfolgslosigkeit in den heutigen Industriegesellschaften die Hauptursache für individuelle Aggression, die verstärkt von Jugendlichen ausgeht.[4]

Manfred Cierpka (der allerdings prinzipiell Empathie ebenfalls deterministisch definiert) sieht bereits vor dem Erreichen einer determinierten Empathiefähigkeit die positive, aber auch die negative Einflussnahme von direkten Bezugspersonen auf Kleinstkinder lange vor dem 2.Lebensjahr – die im Extremfall zu einer später auftretenden totalen Emotionsverweigerung führen kann.[5] Indirekt bestätigt auch Cierpka hiermit die Existenz der angeborenen Fähigkeit zur Emphathie, da eine reine Gefühlsansteckung diese Folgen nicht haben dürfte – sie löst per Definition keine Kommunikation, also auch keine Bewusstseinsveränderung aus.

Die us-amerikanische Psychologin Waxler hat beobachtet, dass schon einjährige Kinder spielerisch die Bezugspersonen (Mutter) irritieren – z. B. die Kooperation beim Anziehen bewusst verweigern. Diese Spiele sind erste Kommunikationsversuche im Sinne der Systemtheorie nach Luhmann: Das Problem Doppelte Kontingenz wird von Seiten des Kindes durch Errichten eines Alter Ego aufgelöst, mit dem im Bewusstsein „diskutiert“ wird. Durch die Reaktion (Information) der Bezugsperson lernt das Kleinstkind die Grenzen Anderer erkennen und findet seine eigenen Grenzen, das Kind erweitert sein Bewusstsein und zwischen der Bezugsperson und dem Kind bildet sich eine Emergente Ordnung. Wird dieser Kommunikationsversuch des Kindes jedoch nicht wahrgenommen und sogar mit negativen Emotionen (im Regelfall Ärger der Mutter über die Verweigerung) beantwortet, entstehen schon beim Kleinstkind Urängste. [6]

Die Unterscheidung und Trennung von entweder Gefühlsansteckung oder Empathie beiderseits (sowohl seitens des Kindes als auch seitens der Bezugspersonen) wird gerade bei Kleinstkindern für besonders bedeutsam gehalten, da Letztere vom Kind aus nonverbal ausgedrückt und deswegen – auch weil die angeborene Fähigkeit zur Empathie bei Kleinstkindern noch weitgehend unerforscht ist – oft nicht richtig wahrgenommen wird.[7]


Siehe auch

Literatur

  • Davis, M. H. (1996). Empathy: A Social-Psychological Approach. Westview.
  • Decety, J., & Ickes, W. (2009). The Social Neuroscience of Empathy. Cambridge: MIT Press.
  • Becchio, Cristina und Bertone, Cesare (2004): Wittgenstein running: Neural mechanisms of collective intentionality and we-mode. In: Consciousness and Cognition 13 : 123-33.
  • Ciaramicoli, Arthur P. und Ketcham, Katherine Der Empathiefaktor, dtv, ISBN 3-423-24245-0
  • Lichtenberg, J., Bornstein, M. und Silver, D.: Empathy. 3 Bde. Hillsdale, N.J., 1984.
  • Ornstein, P. und Ornstein, A.: Empathie und therapeutischer Dialog. 1985.
  • "Bild der Wissenschaft" Heft 11 2007 ; Artikel von Psychologe Rolf Degen "Nervenbrücke zwischen du und ich?" (Seite 30-33);
  • Bezüge zu Neurologe Giacomo Rizzolatti, Neurologe Vilayanur S.Ramachandran, Entwicklungspsychologin Alison Gopnik

Weblinks

Quellen

  1. http://dictionary.reference.com/search?q=empathy
  2. Dictionary bei www.in.gr http://www.in.gr/dictionary/lookup.asp?Word=%E5%EC%F0%DC%E8%E5%E9%E1
  3. Siehe dazu u.A. Stefan Liekam, 2004, Empathie als Fundament pädagogischer Professionalität, S.27 ff
  4. u.A. Arno Gruen: Falsche Götter. 1991, S.14 ff, deutlicher in Arno Gruen: Verrat am Selbst. 1984, S.24.
  5. Cierpka: Möglichkeiten der Gewaltprävention, 1998, Seite 25 ff)
  6. Zahn-Waxler, C., & Radke-Yarrow, M. (1990). The origins of empathic concern. Motivation and Emotion, 14, 107-130
  7. Georg Greif, Wien 2003, Seite 54 f

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