Arierschein

Arierschein
„Ahnentafel zum Nachweis arischer Abstammung für 5 Generationen“, herausgegeben im Auftrag des Dithmarscher Geschlechterbundes

Der „Ariernachweis“ oder „Arierschein“ sollte in der Zeit des Nationalsozialismus eine Abstammung aus der „arischen Volksgemeinschaft“ dokumentieren. Dies verlangten Staats- und Regierungsbehörden im Deutschen Reich seit April 1933 von Beamten und Angestellten im Öffentlichen Dienst, darunter Wissenschaftlern an deutschen Hochschulen. Damit begann die Ausgrenzung von „Nichtariern“, vor allem Juden, Roma und Sinti, die über die Aberkennung ihrer Bürgerrechte 1935 bis zu Vertreibung, Ghettoisierung, Deportation und Vernichtung im Holocaust (1941-1945) führte.

Entsprechende Nachweise verlangten seit 1933 auch Berufsverbände, viele Unternehmen und ein Teil der Kirchen als Zugangsvoraussetzung für eine Anstellung.

Inhaltsverzeichnis

Vorläufer

In Spanien forderten Königshaus und Kirche nach der Beraubung und Vertreibung der spanischen Juden ab 1492 (Alhambra-Edikt) den Nachweis der „Reinheit des Blutes” (span. limpieza de sangre) von Hofbeamten und höherem Klerus. So sollten von Juden oder Mauren abstammende Personen vom sozialen Aufstieg und Adel ferngehalten werden. Damit entstand die Ideologie, dass das „gute Blut“, also die Abstammung, einen wichtigen Stellenwert für die gesellschaftliche Position habe. Simon Wiesenthal wies hier auf einige starke Analogien zum Ariernachweis hin.[1]

Grundlagen

Das 25-Punkte-Programm der NSDAP von 1920 hatte bereits gezeigt, gegen wen der Rassismus der Nationalsozialisten primär gerichtet sein würde: Es verlangte die Ausweisung aller seit 1914 eingewanderten Juden und den Entzug der Bürgerrechte für alle deutschen Juden. Es definierte die Begriffe „Arier“ und „Nichtarier“ jedoch nicht.

Rechtsgrundlage für den Ariernachweis war Paragraph 3 (der sogenannte Arierparagraph) im „Gesetz zur Wiederherstellung des Berufsbeamtentums“ vom 7. April 1933. Es war das erste rassistisch begründete Gesetz im Deutschen Reich seit 1871, das zugleich die Unmöglichkeit und Willkür einer rassischen Definition von „Jude“ oder „Nichtarier“ bewies. So bestimmte die erste Durchführungsverordnung vom 11. April 1933 entsprechend unklar:[2]

„Als nicht arisch gilt, wer von nicht arischen, insbesondere jüdischen Eltern oder Großeltern abstammt. Es genügt, wenn ein Elternteil oder ein Großelternteil nicht arisch ist. Dies ist insbesondere dann anzunehmen, wenn ein Elternteil oder ein Großelternteil der jüdischen Religion angehört hat.“

Da es keinerlei spezifische Rasse-Merkmale für Juden gibt, wurde hier die jüdische Religion als Definitionsmerkmal zu Hilfe genommen. Als arisch galt nur der, der eine Abstammung von nichtjüdischen Großeltern beweisen konnte. Von wem die Urgroßeltern abstammten und welcher Religion sie angehört hatten, ließ das Gesetz außer Betracht. Dies führte zu absurden Widersprüchen:

Hatten jüdische Urgroßeltern ihre Kinder christlich taufen lassen, dann waren deren Kinder und Enkel laut Gesetz „reinrassige Arier“. Hatten die Urgroßeltern sie nicht taufen lassen, dann waren dieselben Enkel und Urenkel „Nichtarier“. Trat ein Enkel christlicher Großeltern zum Judentum über, so waren seine Kinder und Enkel fortan ebenfalls „Nichtarier“, auch wenn ihre Vorfahren alle Christen gewesen waren. Auch ein Deutscher, dessen Eltern getaufte Christen waren, blieb „Nichtarier“, wenn nur einer seiner Großeltern Mitglied einer jüdischen Gemeinde war.

So bestimmte die zufällige Religionswahl im Dritten Reich über die Rassenzugehörigkeit, und das Gesetz vermehrte die Zahl der als „Juden“ definierten Personen. Für den Nachweis „arischer“ Abstammung reichte weder eine generationenlange Ansässigkeit und Zugehörigkeit zu einem der Völker vor allem Nordeuropas, die als „arische Völkergemeinschaft“ definiert wurden, noch ein den Ariern von Rassisten zugeschriebenes Aussehen, eine Charaktereigenschaft, ein Verhalten oder eine Leistung. Damit bewies das Gesetz selbst die Unmöglichkeit, „Rasse“ zur objektiven Eigenschaft zu machen und nachprüfbar festzustellen.

Seine ideologische Basis waren Rassentheorien, die Vertreter wie Arthur de Gobineau, Karl Eugen Dühring, Houston Stewart Chamberlain, Ernst Haeckel und andere seit etwa 1860 formuliert und propagiert hatten. Diese hatten den aus der Sprachwissenschaft stammenden Arierbegriff für die Sprachfamilie der Indogermanen, den die Rassenkunde nicht kennt, auf eine angebliche nordische Rasse bezogen, um so ein Kriterium zur Diskriminierung, Ausgrenzung und Vertreibung der jüdischen Minderheit aus dem eigenen Volkstum zu gewinnen (siehe dazu Antisemitismus (bis 1945)).

Durchführung

Ariernachweis (Vor- und Rückseite) von 1943

„Kleiner Ariernachweis“

Der Nachweis der „arischen“ Abstammung erfolgte durch die Vorlage von sieben Geburts- oder Taufurkunden (des Probanden, der Eltern und der vier Großeltern) sowie drei Heiratsurkunden (der Eltern und Großeltern). Diese mussten von Pastoren, Standesbeamten und Archivaren offiziell beglaubigt worden sein. Ersatzweise konnten ein beglaubigter Ahnenpass oder eine beglaubigte Ahnentafel vorgelegt werden.

Bei der Überprüfung dieser Vorlagen wirkten die deutschen Kirchen mit, indem katholische Diözesen und evangelische Pfarrämter den Staatsbehörden ab April 1933 freiwillig ihre Kirchenbücher, die über das 18. Jahrhundert zurück reichten, zur Verfügung stellten. Sie bescheinigten den Staatsbehörden auf Einzelnachfrage, was diese wissen wollten; die Kirchenverwaltungen ließen dazu eigene Formulare drucken. Einzelne, vor allem den Deutschen Christen zugehörige oder nahestehende Pfarrer suchten von sich aus Christen jüdischer Abstammung aus ihren Tauf- und Trauregistern heraus und meldeten sie den Behörden. Katholische Priester waren weniger entgegenkommend, aber eine Weigerung, staatliche Auskunftsfragen zu beantworten, ist auch von ihnen in keinem Fall überliefert. So halfen sie dem NS-Regime dabei, die frühere Religionszugehörigkeit von Personen, auch Religionswechsel ihrer Eltern und Großeltern, festzustellen.[3]

Seit 1934 wurde der Personenkreis, der den „kleinen Ariernachweis“ bis zu den Großeltern zu erbringen hatte, u. a. auf alle Angestellten und Arbeiter des Reiches und der Gemeinden, auf Ärzte, Juristen und Schüler höherer Schulen ausgedehnt.

Bei ungeklärten Familienverhältnissen – etwa Findlingskindern, un- und außerehelichen Geburten – und in allen Zweifelsfällen entschied die „Reichsstelle für Sippenforschung“ im Reichsministerium des Innern über den Einzelfall. Dabei lieferten ihr Universitätsinstitute oft „erb- und rassebiologische“ Gutachten.

Ahnenpass: Nachweis über die Abstammung im Dritten Reich

„Großer Ariernachweis“

Das „Reichserbhofgesetz“ und die NSDAP verlangten den Nachweis der „rein arischen“ Abstammung – auch für den Ehepartner – bis 1800, für Bewerber für die SS sogar bis 1750 zurück („großer Ariernachweis“). In dieser Ahnentafel mussten alle Vorfahren des SS-Angehörigen bzw. seiner Frau oder Braut bis frühestens 1. Januar 1800 aufgelistet sein, bei Rängen ab SS-Führer aufwärts sogar bis 1750. Bei jeder aufgeführten Person musste Name, Beruf, Religion und Geburts- und Sterbedatum eingetragen werden. Um die Erarbeitung der Ahnentafel musste sich der Betreffende selbst kümmern. Es wurde außerdem darum gebeten, die dafür notwendigen Geburts-, Todes- und Heiratsurkunden beizulegen und an das Rasse- und Siedlungshauptamt zu schicken.

Auch hier wirkten die Kirchen mit. So legte etwa die Evangelische Kirche in Berlin-Brandenburg eigene alphabetische Taufverzeichnisse für die Zeit von 1800 bis 1874 an – bis kurz nach der Reichsgründung, nach der staatliche Standesämter ähnliche Register führten – und führten außerdem besondere Karteien für getaufte Juden und „Zigeuner“.[4]

Folgen

Der gesetzlich geforderte Abstammungsnachweis war ein sehr wirksames Instrument der nationalsozialistischen Rassenpolitik. Wer ihn nicht erbringen konnte, war damit in fast allen Bereichen der Gesellschaft stigmatisiert. Damit begann das NS-Regime, die als „Voll-“, „Halb-“ und „Vierteljuden“ oder sonstige „Fremdrassige“ definierten Bevölkerungsgruppen ihrer in der formal weiterhin gültigen Weimarer Verfassung garantierten Bürgerrechte zu berauben. Sie wurden in den meisten Fällen aus ihrem Beruf entlassen und durften diesen nicht mehr oder nur noch eingeschränkt ausüben.

Die Nürnberger Gesetze vom 15. September 1935 machten den Ariernachweis für alle Bürger des Deutschen Reichs verpflichtend und alltäglich. Das „Reichsbürgergesetz“ entzog Juden alle noch verbliebenen Staatsbürgerrechte und machte diese Gruppen zu Bürgern zweiter Klasse. Das „Gesetz zum Schutz des deutschen Blutes und der deutschen Ehre“ verbot zudem Eheschließungen zwischen jüdischen und nichtjüdischen Deutschen.

Die nunmehr von Millionen Deutschen zu erbringenden „Ariernachweise“ führten zu einer Zunahme der Genealogie bzw. der scheinwissenschaftlichen „Sippenforschung“, die erst 1945 ihr Ende fand.

Die gesetzliche Ausgrenzung von amtlich definierten „Nichtariern“ wurde bis 1945 durch zahlreiche Folgegesetze und Verordnungen ständig verschärft und ausgedehnt. Letztlich entschied der Ariernachweis über Leben und Tod. Ab Juni 1941 wurden die durch ihn ausgegrenzten Juden, Sinti und Roma deportiert, ghettoisiert und schließlich im Holocaust ermordet.

Siehe auch

Einzelbelege

  1. Simon Wiesenthal: Segel der Hoffnung. Christoph Columbus auf der Suche nach dem gelobten Land. Ullstein, Berlin 1991, ISBN 3-550-06189-7, S. 9f
  2. Erste Verordnung zur Durchführung des Gesetzes zur Wiederherstellung des Berufsbeamtentums (11.04.1933)
  3. Manfred Gailus (Hrsg.): Kirchliche Amtshilfe. Die Kirche und die Judenverfolgung im „Dritten Reich“. Vandenhoeck & Ruprecht, Göttingen 2008
  4. Götz Aly, Karl Heinz Roth: Die restlose Erfassung, Berlin 1984, S. 70f.

Literatur

  • Hans Mühlbacher: Zwischen Technik und Musik. Ohne „Ariernachweis“ in der Raketenforschung des Dritten Reiches, Edition Atelier, 2003, ISBN 3853080901.
  • Günther Selb: Ohne Ariernachweis durch das Dritte Reich. Ein autobiographisches Fragment von 1932 bis 1945, Haag + Herchen, 1998, ISBN 3861374153.

Weblinks


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