Münchhausen-By-Proxy-Syndrom

Münchhausen-By-Proxy-Syndrom
Klassifikation nach ICD-10
F68.1 Artifizielle Störung (absichtliches Erzeugen oder Vortäuschen von körperlichen oder psychischen Symptomen oder Behinderungen)
T74.8 Sonstige Formen des Missbrauchs von Personen
ICD-10 online (WHO-Version 2006)

Das Münchhausen-Stellvertreter-Syndrom (engl. MSBP Munchausen Syndrome by Proxy, Munchausen by Proxy Syndrome oder FDP Factitious Disorder by Proxy) ist eine psychiatrische Erkrankung, bei der, so die gängige Beschreibung, der Erkrankte bei einem anderen Menschen Krankheiten vortäuscht oder bewusst herbeiführt, um anschließend dessen medizinische Behandlung zu verlangen. Die Erkrankung kann demnach eine subtile Form der Kindesmisshandlung sein, die bis zum Tod des Opfers führen kann. Häufig ist der Erkrankte ein Elternteil (meist die Mutter) oder ein Sorgeberechtigter. Das Krankheitsbild gehört wie das sogenannte Münchhausen-Syndrom zu den artifiziellen Störungen [1] und hat als Artifizielle Störung by proxy im psychiatrischen Klassifikationssystem DSM-IV Eingang gefunden.

Inhaltsverzeichnis

Epidemiologie

Diese Erkrankung ist relativ selten. Seit der ersten Beschreibung durch den Pädiater Roy Meadow (Universität Leeds) 1977 im Fachblatt The Lancet sind einige hundert Fälle weltweit benannt worden. Auffällig ist, dass dieses Verhalten fast ausschließlich Frauen (in der Regel Mütter) zeigen sollen, die zudem in ihrem sonstigen Erziehungsverhalten als fürsorgend beschrieben werden. Laut dem Rechtsmediziner Martin Krupinski (Universität Würzburg) gehen konservative Schätzungen von 0,2 bis 0,4 Missbrauchsfällen pro 100.000 Kinder und Jugendlichen bis 16 Jahren aus, die Mortalitätsrate der Opfer liege je nach Studie zwischen 5 und 35 Prozent.[2]

Ursachen

Eine Erklärung für die Verhaltensweise gibt es in der medizinischen Fachliteratur bisher nicht. Meadow vermutete als Motiv durch eine herbeigeführte Erkrankung des Kindes erzielte Aufmerksamkeit und Zuwendung von Angehörigen und medizinischem Personal. Oft gab es in der Lebensgeschichte vorher Selbstbeschädigungen, so dass anzunehmen ist, die Täter misshandeln stellvertretend für die eigene Person. Charakteristisch scheint eine „symbiotische“ Beziehung zu dem Kind zu sein.[3]

Psychopathologie

Nach Rosenberg (1987) müssen vier Merkmale zutreffen:

  • Erkrankungen eines Kindes werden durch eine nahe Bezugsperson, beispielsweise die Mutter, fälschlich angegeben, vorgetäuscht oder künstlich erzeugt bzw. aufrechterhalten.
  • Das Kind wird, häufig wiederholt, zu medizinischen Untersuchungen und Behandlungen vorgestellt.
  • Die wahren Ursachen für das angegebene oder vom Kind gezeigte Beschwerdebild werden bei medizinischen Vorstellungen nicht angegeben.
  • Eventuell vorhandene akute Symptome oder Beschwerden beim Kind bilden sich zurück, wenn es zu einer Trennung von der verursachenden Person kommt. [4]

Zu den vorgetäuschten Krankheiten gehören häufig vom Arzt nicht oder nur schwer nachweisbare Symptome bzw. Erkrankungen wie z. B. epileptische Anfälle, Schizophrenie, Bulimie. Eine beinahe unbegrenzte Anzahl von vorgetäuschten Erkrankungen ist denkbar.

Es wurde auch beschrieben, dass Erkrankte ihre Opfer bewusst vergiften, z.B. mit Medikamenten, um bestimmte Symptome hervorzurufen. Nach der vorherrschenden Meinung haben viele der meist weiblichen Erkrankten ein relativ gutes medizinisches Fachwissen, sind gehäuft Angehörige einer medizinischen Berufsgruppe und können zu der erfundenen Krankheit auch auf Befragung die dazugehörigen Anzeichen nennen, so dass der Charakter der „Krankheit“ nicht auffällt und nur die Häufung der Arztbesuche und die Beharrlichkeit, mit der eine Behandlung eingefordert wird, schließlich zu Misstrauen führt.

Die Opfer werden nach den bisherigen Beschreibungen oft unter Druck gesetzt, so dass sie häufig Beobachtungen des Elternteils bei Arztbesuchen bestätigen. Gelegentlich drohen die erkrankten Personen dem Opfer mit Selbstmord (Suizid). Sollte das Opfer aus dem engen und durch solche Drohungen belasteten Verhältnis zum Erkrankten ausbrechen, fällt der am Münchhausen-Stellvertreter-Syndrom erkrankte Patient häufig in Depressionen.

Diagnose

Eine sichere Diagnostik oder klinisch erprobte Behandlung des Münchhausen-Stellvertreter-Syndroms gibt es angesichts der geringen Fallzahlen nicht. Aufgrund der relativ großen Gefahr von Falschbeschuldigungen wird die Erkrankung häufig nicht bekannt bzw. die Diagnose zurückgehalten.

Typischerweise wird eine Person mit Münchhausen-by-Proxy-Syndrom so lange Ärzte und andere Spezialisten aufsuchen, bis eine Bestätigung der angestrebten eigenen Diagnose erfolgt und eine entsprechende Behandlung beginnt.

Kritik

Einige Experten vermuten eine hohe Zahl von Fehldiagnosen des Münchhausen-Stellvertreter-Syndroms, vereinzelt wird die Existenz des Krankheitsbildes als solches bezweifelt. [5][6]

Meadow musste sich 2004 einer Untersuchung durch die britischen Aufsichtsbehörden stellen.[7] In England wurden 258 Fälle wegen des Vorwurfs neu aufgerollt, dass Meadows Gutachten fehlerhaft gewesen seien. [8][9] Einige Urteile gegen angebliche Täterinnen wurden bereits aufgehoben. Die Untersuchung bezieht sich auf Gerichtsgutachten, die die Wahrscheinlichkeit von zwei Fällen von plötzlichem Säuglingstod in einer Familie beleuchtet.[10] Eine Disziplinarkammer des britischen General Medical Council strich Meadow im Jahr 2005 aus dem Medizinischen Register, weil er „seine Position als Doktor missbraucht“ habe. In einem Berufungsverfahren wurde die Entscheidung 2006 aufgehoben, allerdings wies auch diese Kammer darauf hin, Meadow sei beruflicher Verfehlungen schuldig. In Deutschland kritisieren unter anderem Vertreter des Kinderschutzbunds [11] und der Aktion Rechte für Kinder Meadows Schlüsse als fragwürdig. Sie unterstützen mehrere Frauen, denen wegen des Vorwurfs eines Münchhausen-Stellvertretersyndroms ihre Kinder entzogen wurden, vor Gericht.

Thematik in der populären Kultur

  • In dem Thriller Devil´s Waltz des US-Autors Jonathan Kellerman (1993) (deutsch Exit, 1994) wird das Thema behandelt
  • Die Krankheit wurde 2003 in der Folge „Der schwarze Troll“ (533) der ARD-Serie Tatort thematisiert.
  • Im Film Glass House - The Good Mother (2006) wird nach und nach erkennbar, dass die Mutter an MSS leidet und zur Gefahr der beiden Pflegekinder wird.
  • In dem Film The Night Listener – Der nächtliche Lauscher (2006) täuscht eine Frau die Existenz eines von ihr angeblich aufopferungsvoll gepflegten Ziehsohnes vor, der an AIDS erkrankt ist.
  • 2007 wurde die Krankheit im Spielfilm „Schattenkinder“ (WDR) thematisiert.
  • In dem Psycho-Thriller The Sixth Sense leidet eine Frau möglicherweise unter dem Syndrom und tötet ihr eigenes Kind.[12]
  • In dem japanischen Horrorfilm The Call taucht die Krankheit bei der Mutter der Protagonistin sowie der Mutter der Antagonistin auf.
  • Im Buch 'Die Therapie' von Sebastian Fitzek stellt sich heraus, dass der Protagonist an MSS leidet und sein Kind vergiftet hat.

Einzelbelege

  1. Therapie-Handbuch: Q 7.2 Artifizielle Störungen (H. J. Freyberger)
  2. Pharmazeutische Zeitung: Die Mutter als Täterin
  3. Institut für Rechtsmedizin der Universität Leipzig
  4. Noeker M, Keller KM (2002) Münchhausen-by-Proxy-Syndrom als Kindesmissshandlung. Monatschr Kinderheilkd. 150: 1357-1369
  5. Allison, D. and Roberts, M. (1998) Disordered Mother or Disordered Diagnosis? Munchausen Syndrome by Proxy, Hillsdale: The Analytic Press;
    Pankratz, L.: Persistent Problems With the Munchausen Syndrome by Proxy Label, J Am Acad Psychiatry Law 34:90 - 5, 2006
  6. Harvard-Brown, H. (1999) False and highly Questionable Allegations of Munchhausen Syndrome by Proxy, 7th Australasian Child Abuse and Neglect Conference in Perth
  7. Wikipedia-Eintrag über Meadow auf englisch
  8. Nature 427, 384 - 384 (29 Jan 2004) News]
  9. Berliner Zeitung vom 5.4.2004: Roy Meadow und die Mütter
  10. Wissenschaft.de: Statistik im Namen des Volkes
  11. Kinderschutzbund Leer: Münchhausen-by-proxy-Syndrom
  12. MentalHelp.net

Literatur

  • M. E. Helfer, R. S. Kempfe, R. D. Krugman [Hrsg.]: Das mißhandelte Kind. Körperliche und psychische Gewalt; Sexueller Missbrauch; Gedeihstörungen; Münchhausen-by-proxy-Syndrom; Vernachlässigung, Frankfurt am Main: Suhrkamp, 2002, ISBN 3-518-58358-1.
  • Gregory, Julie: Du hast mich krank gemacht. Meine Mutter ließ mich leiden (Erfahrungsbericht)
  • Marc D. Feldmann: Wenn Menschen krank spielen, Münchhausen - Syndrom und artifizielle Störungen
  • Volker Laubert: Vorsicht mit dem Münchhausen-by-proxy-Syndrom - auch Mütter sind keine Hexen, Vertrieb über: www.buendnis-rechte-fuer-kinder.de/Fachbeitraege.htm

Weblinks

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