Sanatorium Bellevue

Sanatorium Bellevue

Das Sanatorium Bellevue war von 1857–1980 eine private psychiatrische Heilanstalt in Kreuzlingen, die über vier Generationen von der Familie Binswanger geleitet wurde, aus der eine Reihe bekannt gewordener Psychiater stammen.

Inhaltsverzeichnis

Ludwig Binswanger d. Ä. (1820–1880)

Auf dem Gebiet des alten Klosters Kreuzlingen hatte 1842 Ignaz Vanotti aus Konstanz ein grosses Grundstück gekauft und darauf 1843 ein Wohn- und Geschäftshaus für die Emigranten-Druckerei Bellevue erbaut, die bis dahin in der Römerburg eingerichtet war. 1857 erwarb Dr. Ludwig Binswanger d. Ä., seit 1850 Direktor der Irrenanstalt im nahegelegenen Münsterlingen, die Liegenschaft und eröffnete auf ihr eine Privatanstalt für heilfähige Kranke und Pfleglinge aus den besseren Ständen der Schweiz und des Auslandes. Die Klinik hatte bald regen Zulauf und blieb unter Führung der Familie Binswanger während 124 Jahren eine Heil- und Forschungsstätte, aus der wichtige Impulse für die Psychiatrie als Wissenschaft und Praxis kamen.

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Robert Binswanger (1850–1910)

Nach dem Tod von Ludwig Binswanger übernahm sein Sohn Robert Binswanger die Leitung des Sanatorium, das er wegen seines Erfolges kontinuierlich ausbaute. Die Klientel stammte aus wohlhabenden Familien und dem deutschen, russischen und italienischem Adel. Josef Breuer aus Wien, mit dem zusammen Sigmund Freud das Buch Studien über Hysterie (1895) verfasst hatte, überwies seine berühmte Anna O. (Bertha Pappenheim) zu Binswanger, die erste Patientin überhaupt, die psychoanalytisch behandelt worden war. Als Therapeut vertraute Binswanger zum einen auf physikalische Therapien in Form von Ernährungs-, Hydro-, Elektro- und pharmakologischer Therapie, zum anderen auf die "therapeutische Gemeinschschaft": Wie schon sein Vater bezog auch er seine ganze Familie in die Betreuung der Kranken ein.

Ludwig Binswanger (1881–1966)

Als Robert Binswanger 1910 starb, übernahm sein Sohn Ludwig Binswanger – nach Studium und Assistentenjahren bei Eugen Bleuler im Burghölzli in Zürich sowie bei seinem Onkel Otto Binswanger in Jena, während denen er 1907 von Carl Gustav Jung mit Sigmund Freud bekannt gemacht wurde, mit dem er bis zu dessen Tod verbunden blieb – mit ebenfalls knapp 30 Jahren die Leitung des Sanatoriums. Sein jüngerer Bruder Otto hatte die wirtschaftliche Leitung der Anstalt inne, so dass er sich auf seine wissenschaftliche Arbeit konzentrieren konnte. Ludwig Binswanger ist als Begründer der Daseinsanalyse, einer Synthese von Psychoanalyse und Existenzphilosophie, bekannt geworden. Zahlreiche Künstler und Wissenschaftler wie der Maler Ernst Ludwig Kirchner, der Tänzer Vaslav Nijinsky, der Dichter Simon Frank, der Schauspieler und Regisseur Gustaf Gründgens oder der Kulturanthropologe Aby Warburg waren seine Patienten. Ludwig Binswanger war aussergewöhnlich gebildet, er las gerne Homer im Original, stand in regem Briefwechsel und in persönlichem Kontakt zu Kollegen und Geistesgrössen seiner Zeit wie Karl Jaspers, Oskar Kohnstamm, Arthur Kronfeld, Edmund Husserl, Max Scheler, Kurt Goldstein, Leopold Ziegler, Martin Buber, Werner Bergengruen, Leonhard Frank, Rudolf Alexander Schröder, Edwin Fischer, Henry van de Velde oder Emil Staiger.

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Nachnutzung

1956 übergab Ludwig Binswanger die Leitung seinem Sohn Wolfgang (1914-1993), dem letzten Binswanger im Bellevue. Dieser stellt im Jahr 1980 den Betrieb des Sanatoriums aus finanziellen Gründen ein. Von seinen zahlreichen Bauten sind heute nur noch wenige vorhanden. Die noch verbliebenen Gebäude wurden renoviert und umgebaut. Im ehemaligen Haupthaus an der Hauptstrasse befinden sich heute Geschäfts- und Büroräume. Das ursprüngliche Parkhaus am andern Ende des Parks beherbergt heute die "Venenklinik Bellevue", eine auf Venen spezialisierte Privatklinik. Der Hauptteil des Areals wurde in den 1990er Jahren für den Bau einer Wohnanlage genutzt.

Literatur

  • Jörg Aeschbacher: Begegnung mit dem Sanatorium Bellevue. In: Ludwig Binswanger - Ein Heft zum hundertsten Geburtstag von Dr. med., Dr. med. h.c. und Dr. phil. h.c. Ludwig Binswanger. Kreuzlingen 1981, S. 21-44.
  • Julia Gnann: Binswangers Kuranstalt Bellevue 1906–1910. Tübingen 2006, urn:nbn:de:bsz:21-opus-22390. (Dissertation Universität Tübingen)
  • Annett Moses und Albrecht Hirschmüller (unter Mitarbeit von Claudia Schöllkopf, Claudia Stäbler, Sandra Josefin Schweizer, Stefanie Weismann-Günzler, Daniela Meile und Ursula Wittern): Binswangers psychiatrische Klinik Bellevue in Kreuzlingen. Das "Asyl" unter Ludwig Binswanger sen. 1857 - 1880. Frankfurt am Main 2004.
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Weblinks

 Commons: Sanatorium Bellevue – Sammlung von Bildern und/oder Videos und Audiodateien
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