Schechina

Schechina

Der Begriff Schechina (hebr.: שכינה), bezeichnet in der jüdischen Religion die „Einwohnung“ oder „Wohnstatt“ Gottes in Israel, die als Inbegriff der Gegenwart Gottes bei seinem Volk verstanden werden kann. Das Bedeutungsspektrum schließt eine Reihe von Nebenbedeutungen wie „Ruhe“, „Glück“, „Heiligkeit“ oder „Frieden“ ein, immer als Merkmale, die den Wirkungskreis der Gegenwart Gottes charakterisieren und für den Menschen spürbar werden lassen.

Inhaltsverzeichnis

Ursprung und Bedeutung

Die Vorgeschichte dieses Begriffs und der damit verbundenen theologischen Konzeption von „Gottes Heimstätte auf Erden“, die später in der rabbinischen Überlieferung zu einem zentralen Topos jüdischer Theologie geworden ist, reicht in die persisch-hellenistische Zeit zurück. Zwar kommt das Substantiv Schechina selbst im Tanach nicht vor, die Wurzel ist allerdings häufig anzutreffen, insbesondere in dem Verb schachan (שכן, „wohnen“, „zelten“) und dem Substantiv Mischkan (משכן, „Wohnsitz, Stiftszelt“). Von seinem Ursprung und seiner Grundbedeutung her weist der Begriff auf die Begegnung des Volkes Israel mit seinem Gott in der Wüste zurück. Gottes Gegenwart manifestiert sich in seinem „Zelten“ mitten unter dem Volk (vgl. Ex 25,8-9 EU). Dementsprechend bestand das erste israelitische Heiligtum aus einem beweglichen Zelt und der darin aufgestellten Bundeslade. Die Schechina als Inbegriff der Nähe und Präsenz Gottes ging später auf den Jerusalemer Tempel und den heiligen Bezirk der Stadt über.

Die Wurzel ist auch in dem im Tanach zahlreich erwähnten Eigennamen Schechanjahu oder Schechanja (auch Schekanja) enthalten, der ebenfalls auf die Bedeutung „Einwohnung Gottes“ hinweist (Esra 8,3-5;10,2, Neh 3,29;6,18;12,3, 2. Chr 31,15).

In der altgriechischen Bibelübersetzung (Septuaginta) wird das hebräische Wort Schechina im allgemeinen mit Doxa (zu Deutsch etwa „Herrlichkeit [Gottes]“) wiedergegeben. In einigen Texten der Septuaginta wird jedoch auch die Bezeichnung (kata)skēnosis (κατα'σκήνοσις) als griechisches Äquivalent der hebräischen Wurzel Schin-Kaf-Nun (שכנ) verwendet, ein Begriff, der in Anlehnung an das Schrifttum der Wüstenväter später in der lateinischen Übersetzung als „Tabernakel“ (tabernaculum) auch Eingang in die christliche Spiritualität fand.

Rabbinische Tradition

In der rabbinischen Literatur taucht der Begriff Schechina neben ha-qadosh baruch hu (der Heilige, gepriesen sei er), shamayim (Himmel) und ha-schem (der Name) als Gottesbezeichnung auf, wobei die besondere Betonung auf das Wohnen der göttlichen Macht in Jerusalem und inmitten des Volkes Israel liegt.

Diese Auffassung ändert sich im Mittelalter, als Saadia Gaon in seinem Werk Ha-emunot we-ha-deot (Glaubensüberzeugungen und Ideen), den Begriff Schechina verwendet, um das Problem der anthropomorphen Darstellungen Gottes in der Bibel zu lösen. Er meint, alle diese Hinweise bezögen sich auf einen von Gott geschaffenen Engel, der bald kavod (Glanz, Ehre) und bald schechina genannt wurde.

Im 11. und 12.Jh. erfährt dieses Konzept wiederum eine Erweiterung, indem z.B. Abraham ibn Esra sie als direkt aus Gott emanierte göttliche Kraft auffasst.

Eine besondere Betonung der Weiblichkeit dieses Konzeptes liegt jedoch in all diesen rabbinischen Konzeptionen noch nicht vor.

Kabbalah und Chassidismus

Bahir

Das Sefer ha-Bahir ist das erste Werk, das die Schechina in einem weiblichen Kontext erwähnt, indem es sie als Frau, Braut und Tochter der männlichen Kraft beschreibt. Die später im Zohar anzutreffenden erotischen Konnotationen fehlen hier jedoch völlig.

Übernommen wird dieses Bild von Abraham Abulafia und anderen Kabbalisten aus Gerona und Kastilien.

Gershom Scholem deutete die Idee einer weiblichen Schechina als Manifestation einer gnostisch-dualistischen Vorstellung in der frühen Kabbala, die seit der Antike im Verborgenen ruhte und erst im Mittelalter an die Oberfläche tritt. Neuere Forschungen betrachten diese Wendung jedoch als Übernahme der Madonnenverehrung des Christentums, die im 12.Jahrhundert ihren Höhepunkt fand, jedoch kann diese These ebenso wenig wie die Gnosis-These Scholems anhand von Textfunden bewiesen werden. Eine dritte Hypothese geht davon aus, dass es sich hierbei um eine individuelle Erfindung des Verfassers des Bahir handelt, wofür auch textimmanent-hermeneutische Argumente angeführt werden können.

Zohar

Im Zohar werden die Funktionen der Schechina schließlich in großer Ausführlichkeit beschrieben und das Bestreben mit ihr in geistige Berührung zu kommen bildet einen Hauptbestandteil kabbalistischer Rituale. Sie steht als niedrigste Sefira den Leiden des Volkes Israel am nächsten, befindet sich wie dieses im Exil und ist am stärksten den Kräften des Bösen ausgesetzt, die sich ihrer weiblichen Schwäche bedienen, um Macht über sie zu gewinnen und sie von der Sefira Tif'eret wegziehen wollen. Durch das kabbalistische Ritual soll die Wiedervereinigung mit ihrem Mann erwirkt werden.[1]

Lurianische Kabbalah

In der Vorstellung des Kreises um Isaak Luria entsteht die Schöpfung aus göttlichen Kontraktionen und Strömungen. In der lurianischen Darstellung eines aus Sefirot bestehenden Urbildes des Menschen (Adam Qadmon) geht aus der letzten Sefira die untere Welt hervor. Diese Sefira wird Schechina genannt (auch Malchut, was Königreich oder Herrlichkeit bedeutet). Funken der Schechina, also göttliche Funken, sind bei der Schöpfung in die Welt gefallen. Dabei wird die Schechina der weiblichen Sphäre zugeordnet und als ergänzende, weibliche Dimension Gottes begriffen, was sich bspw. im Bild der Braut äußert. Das Brautmotiv stellt metaphorisch die „Gemeinschaft“ zwischen derSchechina und Gott dar, also die Einheit zwischen dem für menschliche Begriffe unfassbaren Gott im Himmel und seiner Vergegenwärtigung in der Welt.

Lecha Dodi

Das akrostische GebetLecha Dodi“, dessen Anfangsbuchstaben auf den Verfasser Schlomo Alkabez, einen Schüler aus dem kabbalistischen Kreis von Isaak Luria, hinweisen, gehört bis heute zur Liturgie am Vorabend des Schabbats. Das Gebet mit der Anfangszeile „Geh, mein Geliebter, der Braut entgegen...“ ist als Jubel über die Heimkehr der Braut (identifiziert mit dem Schabbat bzw. der Schechina) in messianischer Zeit konzipiert.

Chassidische Tradition

Im Chassidismus können die Menschen eine aktive Rolle bei der Erlösung spielen, indem sie die Funken der Schechina einsammeln. Die Chassidim gehen von göttlicher Immanenz in der Welt aus.

Christliche Mystik

In christlichen Interpretationen des kabbalistischen Lebensbaums (Sephiroth) findet über die Weisheitstradition eine Gleichsetzung nicht nur von Malchut (Gottesreich) und Schechina, sondern auch von Chokhma (hebr.) bzw. Sophia (grch. Weisheit) und Schechina statt. In seinen mystischen Abhandlungen schildert Jakob Böhme die personifizierte Weisheit Jesu Christi und beschreibt die Gemeinschaft zwischen der Weisheit und dem Menschen als Erleuchtungserfahrung. Die Erlösung durch Jesus Christus wird in der Begegnung des Menschen mit dieser Weisheit im Hier und Jetzt vergegenwärtigt. Schechina und Sophia können zwar nicht per se gleichgesetzt werden, personifizieren aber beide die weibliche Dimension Gottes, die sowohl der Schöpfung als auch der Erlösung innewohnt. Beide Vorstellungen sind auch mit messianischen Erwartungen verbunden, die der Christ in Jesus Christus erfüllt sieht. Besonders Friedrich Christoph Oetinger zogen die messianischen Tendenzen der Kabbala an.

Islamische Verwendung des Begriffes

Mit Sakina kennt auch der Islam einen sprachlich und inhaltlich eng verwandten Begriff, der ebenfalls die Gegenwart Allahs und den damit verbundenen glückseligen und friedlichen Seelenzustand bezeichnet.

Zusammenfassender Ausblick

Die Schechina bezeichnet die Gegenwart Gottes in der Welt, also seine Immanenz. Die Schechina trägt verschiedene Namen (z.B. die hier erwähnten Malchut und Schabbath). Sie bietet Anknüpfungspunkte für ein ökumenisches Gespräch. Ihre Vorstellung als einer weiblichen göttlichen Dimension bietet auch Anknüpfungspunkte für die feministische Theologie. Aufgrund mancher tradierter negativer Beschreibung von weiblichen Aspekten ergeben sich daraus auch Ansätze zur Kritik: Beispiele zur Kritik an der kabbalistischen Tradition sind die Vorstellung der Passivität des Weiblichen oder die Vorstellung, dass alles Böse aus dem Weiblichen entspringt. Das Gesamtkonzept zielt auf kosmisches Gleichgewicht. Die Idee der Einheit von Ursprung und Ziel ist schon platonisch und findet sich auch in Gnosis und Gnostizismus.

Ausgewählte Literatur

  • Joseph Dan: Die Kabbalah. Eine kleine Einführung. Reclam, Stuttgart, 2007.
  • Pnina Nave-Levinson: Einführung in die rabbinische Theologie. 2. Auflage 1987.
  • Ernst Müller (Hrsg.): Der Sohar. Das heilige Buch der Kabbala. 5. Auflage 1991.
  • Gershom Scholem: Schechinah. Das passiv-weibliche Moment in der Gottheit. In ders. Von der mystischen Gestalt der Gottheit. 1977.
  • J. Abelson: The Immanence of God in Rabbinical Literature. 1912.
  • Arnold M. Goldberg: Untersuchungen über die Vorstellung von der Schekhina in der frühen rabbinischen Literatur. Talmud und Midrasch. 1969.
  • Louis Jacob: The Palm Tree of Deborah. 1960.
  • Ariel Bension: The Zohar in Moslem and Christian Spain. 1932.
  • Ernst Benz: Die christliche Kabbalah. 1958.
  • Thoma, Clemens: Die Sekina und der Christus, in Judaica 40. 1984. Seiten 237-247.
  • Plaskow, Judith: Feministischer Antijudaismus und der christliche Gott, in: Kirche und Israel. 1. 1990, S. 9-25.
  • Moltmann, Jürgen: Gott in der Schöpfung. 1985.

Einzelnachweise

  1. Joseph Dan. Die Kabbala, S. 65f.

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