Albert Salomon

Albert Salomon

Albert Salomon (* 8. Dezember 1891 in Berlin; † 18. Dezember 1966 in New York, NY) war ein deutsch-jüdischer Sozialwissenschaftler, der 1935 nach New York emigrierte und dort bis zu seinem Tod an der New School for Social Research forschte und lehrte.

Inhaltsverzeichnis

Leben

Albert Salomon entstammt einer seit 1765 in Berlin ansässigen jüdischen Familie. Sein Vater, Ernst Salomon, war Lederimporteur, seine Mutter Marianne war die Tochter des Hamburger Kaffeeimporteurs Leopold Bunzel. Seine Tante Alice Salomon war eine bekannte Sozialreformerin und Frauenrechtlerin.

Sein Studium beginnt er 1910 an der Berliner Universität. Hier studiert er zunächst Kunstgeschichte bei Heinrich Wölfflin und Religionsgeschichte bei Adolf von Harnack, beschäftigt sich mit den Arbeiten Wilhelm Diltheys und lässt sich nachhaltig von Georg Simmel beeindrucken. Später geht er nach Süddeutschland und studiert zunächst kurzfristig bei Heinrich Rickert in Freiburg; anschließend besucht er in Heidelberg geisteswissenschaftliche Vorlesungen und Seminare, u. a. bei Erich Frank, Karl Jaspers, Emil Lask und Friedrich Gundolf, über den er mit dem George-Kreis in Berührung kommt. Näher als der George-Kreis ist ihm die zum jour fixe bei Marianne Weber und Max Weber versammelte Runde; hier wird er bekannt mit Ernst Bloch, Emil Lederer, Georg Lukács, Karl Mannheim, Hans Staudinger und anderen.

Während des ersten Weltkriegs dient Salomon als einfacher Soldat in einem Feldlazarett. Anschließend arbeitet er im Lederimportgeschäft seines Vaters und als Bankangestellter. 1921 wird er mit der Studie Der Freundschaftskult des 18. Jahrhunderts in Deutschland[1] von Gerhard Anschütz, Eberhard Gothein, Emil Lederer und Heinrich Rickert in Heidelberg promoviert.

Nachdem Salomon sich zunächst aus der akademischen Welt zurückgezogen hat, holt ihn 1926 Hans Simons als Dozenten an die 1920 gegründete Deutsche Hochschule für Politik in Berlin. Im selben Jahr veröffentlicht er einen grundlegenden Aufsatz über Max Weber[2] in der Zeitschrift Die Gesellschaft. Internationale Revue für Sozialismus und Politik, deren redaktionelle Verantwortung er 1928 anstelle des zum Finanzminister berufenen Rudolf Hilferding übernimmt. Da er als Herausgeber vornehmlich auf junge, seinerzeit kaum bekannte Autoren wie z.B. Hannah Arendt, Walter Benjamin, Ernst Fraenkel, Theodor Geiger, Eckart Kehr oder Herbert Marcuse setzt, bekommt die Zeitschrift unter seiner Ägide ein neues Gesicht; Salomon spricht davon, er habe "eine Elite von Radikalen" in der Gesellschaft versammeln wollen.[3]

1931 erhält Salomon einen Ruf als Honorarprofessor für Soziologie an das Berufspädagogische Institut in Köln. Kurz darauf erkrankt er an Polio, was zu einer lebenslangen Behinderung führt. 1933 verliert er sein Amt im Zuge des sog. Gesetz zur Wiederherstellung des Berufsbeamtentums. 1935 emigriert er mit Frau und Tochter - sein Sohn wird bereits im Exil geboren - über die Schweiz nach New York, wo er an der „University in Exile“ der New School for Social Research bis zu seinem Tod 1966 tätig ist. Die bekanntesten seiner dortigen Schüler sind Peter L. Berger und Thomas Luckmann.

Werk

Mit seinen Arbeiten während der Weimarer Epoche stellt Salomon sich in die Tradition der verstehenden Soziologie Max Webers, den er 1926 in seinem Aufsatz für "Die Gesellschaft" zu einem „bürgerlichen Marx“ erklärt.[4] Damit deutet sich zugleich die zweite Traditionslinie an, durch die Salomons Frühwerk geprägt ist: Salomon positioniert sich auf der Seite einer sozialistischen und gegenüber einer bürgerlichen Soziologie, da er im Sinne von Karl Marx die bürgerliche Epoche ihrem Ende entgegengehen sieht. Allerdings legt er Wert auf die Feststellung, dass "der Geist von Marx nicht mit den Marxisten" ist;[5] in seinem Sozialismus-Verständnis folgt er seinem Förderer Emil Lederer.[6]

Nach der Emigration, an der New School, ist es zunächst Salomons Anliegen, das geisteswissenschaftliche Erbe Europas und insbesondere die kontinentaleuropäische Soziologie in seiner neuen Heimat zu verankern. Neben Arbeiten über Autoren, die während seiner Berliner und Heidelberger Zeit zu seinem Umfeld gehört hatten, wie Georg Simmel, Karl Mannheim, Max Weber und Alfred Weber oder Ferdinand Tönnies, verlagert sich sein Forschungsschwerpunkt in der Folge immer mehr auf Denker der Vor-und Frühgeschichte der Soziologie, wobei er eine eigenwillige, gleichwohl systematisch begründete Auswahl trifft. Deutlich erkennbar präferiert er Goethe, Alexis de Tocqueville und Jacob Burckhardt, während er soziologische ‚Klassiker‘ wie Claude-Henri de Saint-Simon oder Auguste Comte ebenso wie Hegel und nun auch Marx kritisiert, weil sie die Soziologie mit Elementen einer säkularen Religion aufgeladen hätten.[7] In seinen Lehrveranstaltungen beschäftigt Salomon sich auch mit der antiken Stoa, mit Thomas von Aquin, Francisco Suarez, de Maistre, Bonald und Donoso Cortés, oder auch mit Wilhelm von Humboldt, Kierkegaard und Nietzsche. In seinen Publikationen findet dieser ideengeschichtliche Zugang zu den Sozialwissenschaften seinen Niederschlag in soziologischen Portraits, die z.B. Erasmus von Rotterdam, Hugo Grotius, Fontenelle, Goethe, Montesquieu oder Adam Smith gelten. Die methodologische Relevanz dieser Portraits liegt in der Beschreibung der Wechselwirkung von biographischen, sozioökonomischen und epistemologischen Entwicklungen. Die Portraits bilden soziologische Manifestationen des gestalttheoretischen Ansatzes, dem Salomon im Kollegium der New School in der Person von Max Wertheimer begegnet.

Salomon versteht sich als Protagonist einer humanistischen Denk- und Lebensform, als deren wichtigsten Repräsentanten er Jacob Burckhardt betrachtet;[8] entsprechend kann als sein bedeutendster Beitrag zu den Sozialwissenschaften die Grundlegung einer humanistischen Soziologie gelten.[9] Gemäß dieser Traditionslinie setzt Salomon sich zunehmend kritisch mit Ideen der Moderne auseinander, die das Humanum zur randständigen Größe herabmindern und den Gedanken des Fortschritts zum unreflektierten Axiom erheben; Salomon erkennt darin – in einer Parallelaktion zu Karl Löwith, Leo Strauss und Eric Voegelin, mit denen er auch Kontakt pflegt – eine Ersatzreligion, die in den Totalitarismen des 20. Jahrhunderts gemündet ist. Salomons Soziologie versteht sich ebenso als Aspekt der Aufklärung - die für ihn keine zeitgeschichtliche Epoche, sondern ein transhistorisch gültiges Postulat ist - wie sie selbst der Aufklärung bedarf. Salomons Kritik gilt einer Soziologie, deren erster Grund nicht der in seiner Wirklichkeit und Wirksamkeit zu verstehende Mensch "als Handelnder und Behandelter, Strebender und Leidender" ist, "der ewige Mensch, der in wechselnder Verkleidung stets derselbe bleibt",[10] sondern die sich im Glauben an die eigene wissenschaftliche Methode und in der Verklärung derselben erschöpft.

Gegenwartsrelevanz

Die soziologische Traditionslinie, der Salomons Kritik gilt, ist die in der Soziologie des 21. Jahrhunderts vorherrschende – z.B. in Gestalt der Systemtheorie Niklas Luhmanns oder der Theorie der rationalen Entscheidung, insbesondere aber in Gestalt der epistemologisch anspruchs- und empirisch belanglosen Praxis der quantifizierenden Sozialforschung. Andererseits sind verschiedene gegenwärtige Ansätze, z.B. die Hermeneutische Wissenssoziologie oder auch Spielarten der Akteur-Netzwerk-Theorie mit Salomons Denkweise kompatiblel; sie erfahren durch seine Arbeiten eine gehaltvolle geisteswissenschaftliche Begründung und können zugleich als produktive Fortschreibung seines Ansatzes verstanden werden, so dass Salomons Werk von unveränderter Aktualität ist.

Seinen Plan einer umfassenden Monographie zur Geschichte der Sozialwissenschaften konnte Salomon zu Lebzeiten nicht mehr umsetzen. Letzteres dürfte ein Grund dafür sein, dass er, verglichen mit anderen seiner Kollegen an der New School, etwa mit Alfred Schütz, trotz der Anschlussfähigkeit seines Denkens eine zumeist nur beiläufig erwähnte Randexistenz im Fach führt, zumal sein Werk bis vor Kurzem nur schwer zugänglich war. Derzeit ist am Fachbereich Gesellschaftswissenschaften an der Universität Frankfurt am Main eine fünf Bände umfassende Werkausgabe in Arbeit, deren letzter Band für 2012 angekündigt ist; auch erste Ergebnisse einer systematischen Rezeption des Werkes Salomons liegen inzwischen vor.

Einzelnachweise

  1. Albert Salomon: Der Freundschaftskult des 18. Jahrhunderts in Deutschland. Versuch zur Soziologie einer Lebensform. In: ders., Werke, Bd. 1: Biographische Materialien und Schriften 1921-1933. VS Verlag 2008, S. 81-133.
  2. Albert Salomon: Max Weber. In: ders., Werke, Bd. 1: Biographische Materialien und Schriften 1921-1933. VS Verlag 2008, S. 135-156.
  3. Albert Salomon: Im Schatten einer endlosen großen Zeit. In: ders., Werke, Bd. 1: Biographische Materialien und Schriften 1921-1933. VS Verlag 2008, S. 13-29, hier S. 26.
  4. Albert Salomon: Max Weber. In: ders., Werke, Bd. 1: Biographische Materialien und Schriften 1921-1933. VS Verlag 2008, S. 135-156, hier S. 154.
  5. Albert Salomon: Im Schatten einer endlosen großen Zeit. In: ders., Werke, Bd. 1: Biographische Materialien und Schriften 1921-1933. VS Verlag 2008, S. 13-29, hier S. 26.
  6. Albert Salomon: Emil Lederer 1882-1939. In: ders., Werke, Bd. 2: Schriften 1934-1942. VS Verlag 2008, S. 217-224.
  7. Albert Salomon: Die Religion des Fortschritts. In: ders., Werke, Bd. 3: Schriften 1942-1949. VS Verlag 2010, S. 191-210.
  8. Albert Salomon: Jenseits der Geschichte: Jacob Burckhardt. In: ders., Werke, Bd. 3: Schriften 1942-1949. VS Verlag 2010, S. 137-190.
  9. Peter-Ulrich Merz-Benz: Die humanistische Bestimmung der Soziologie - oder warum soziologische Bildung noch immer unabdingbar ist. In: Peter Gostmann und Claudius Härpfer (Hg.), Verlassene Stufen der Reflexion. Albert Salomon und die Aufklärung der Soziologie. VS Verlag 2011, S. 57-96.
  10. Albert Salomon: Krise - Geschichte - Menschenbild. In: ders., Werke, Bd. 2: Schriften 1934-1942. VS Verlag 2008, S. 225-248, hier S. 244.

Werke (Auswahl)

  • Salomon, Albert, 1921: Der Freundschaftskult im 18. Jahrhundert in Deutschland. Versuch zur Soziologie einer Lebensform. Universität Heidelberg, Dissertation (Microfiche). Wieder abgedruckt in: Zeitschrift für Soziologie, 1979, S. 279-308.
  • Salomon, Albert, 1955: The Tyranny of Progress. Reflections on the Origins of Sociology. New York: Noonday Press. In deutscher Übersetzung von M. Rainer Lepsius: Fortschritt als Schicksal und Verhängnis. Betrachtungen zum Ursprung der Soziologie. Stuttgart: Enke 1957
  • Salomon, Albert, 1963: In Praise of Enlightenment. Cleveland: Meridian Press.
  • Salomon, Albert, 2008: Werke, Bd. 1: Biographische Materialien und Schriften 1921-1933. Mit einem Vorwort von Norman Birnbaum. Wiesbaden: VS Verlag für Sozialwissenschaften.
  • Salomon, Albert, 2008: Werke, Bd. 2: Schriften 1934-1942. Mit einem Vorwort von Guy Oakes. Wiesbaden: VS Verlag für Sozialwissenschaften.
  • Salomon, Albert, 2010: Werke, Bd. 3: Schriften 1942-1949. Mit einem Vorwort von Dirk Kaesler. Wiesbaden: VS Verlag für Sozialwissenschaften.

Literatur

  • Grathoff, Richard, 1995: Portrait: Albert Salomon 1891-1966, S.235-242 in: International Sociology, 10
  • Gostmann, Peter; Ikas, Karin und Wagner, Gerhard, 2005: Emigration, Dauerreflexion und Identität. Albert Salomons Beitrag zur Geschichte der Soziologie, S.267-284 in: Soziologie. Forum der Deutschen Gesellschaft für Soziologie, Jg. 34, Heft 3.
  • Gostmann, Peter und Claudius Härpfer, 2006: "Die Welt von Gestern im Eingedenken der Soziologie. Albert Salomon und das Tikkun", S. 23-47 in: Amalia Barboza und Christoph Henning, Deutsch-jüdische Wissenschaftsschicksale. Studien über Identitätskonstruktionen in der Sozialwissenschaft. Bielefeld: transcript.
  • Gostmann, Peter und Claudius Härpfer (Hg.), 2011: Verlassene Stufen der Reflexion. Albert Salomon und die Aufklärung der Soziologie. Wiesbaden: VS Verlag für Sozialwissenschaften.
  • Härpfer, Claudius, 2009: Humanismus als Lebensform. Albert Salomons Verklärung der Realität. Wiesbaden: VS Verlag für Sozialwissenschaften.
  • Matthiesen, Ulf, 1988: „Im Schatten einer endlosen Zeit.“ Etappen der intellektuellen Biographie Albert Salomons, S.299 - 350 in: Srubar, Ilja (Hg.) Exil Wissenschaft Identität: Die Emigration deutscher Sozialwissenschaftler 1933 – 1945 Frankfurt am Main: Suhrkamp
  • Mayer, Carl, 1967: In Memoriam: Albert Salomon 1891 - 1966, S.213-225 in: Social Research, 34, 2
  • Vaitkus, Steven, 1995: Albert Salomon´s Sociology of Culture, S.127-138: International Sociology, 10

Weblinks


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