Gorgias (Platon)

Gorgias (Platon)

Der Dialog Gorgias, entstanden nach 399 v. Chr. ist der letzte Dialog aus Platons Frühwerk.

Wahrscheinlich geschrieben, kurz bevor Platon Athen das erste Mal verließ, stellt dieser Dialog eine harte Abrechnung mit den Athenern und der athenischen Demokratie dar.

Inhaltsverzeichnis

Aufbau

Der Dialog gliedert sich in drei Teile: Zunächst lässt Platon Sokrates mit dem damals berühmten Redner und Sophisten Gorgias über die Redekunst diskutieren, danach mit Polos über das Verhältnis von Unrechtleiden und Unrechttun in Bezug auf das Gute. Im Anschluss daran spricht Sokrates mit dem Politiker Kallikles über die Rolle der Tugend in der Staatsführung.

Gespräch mit Gorgias

Sokrates begibt sich zu Gorgias, um diesen über die Redekunst zu befragen. Gorgias ist der Meinung, dass die Redekunst die höchste der Künste sei, da sie sich auf die wichtigsten menschlichen Dinge beziehe; er sieht ihre Wirkung im Überreden der Massen.

Sokrates weist Gorgias zunächst nach, dass er nur die Unkundigen überreden kann und lässt ihn somit eingestehen, dass die Redekunst allenfalls Glauben erwecken kann, nicht aber Einsicht hervorruft. Beide kommen überein, dass der Redner einen Kenntnis Habenden nicht überreden könne, wohl aber könne er überzeugender als dieser vor den Unkundigen wirken.

Dieser durch die Redekunst erweckte Glauben bezieht sich darauf, was gut und gerecht ist, sowohl in rechtlich-politischen als auch in allen anderen Angelegenheiten. Eine Kenntnis der zugrunde liegenden Materie (des spezifischen Wissens, z.B. des Gerechten) kann die Redekunst allerdings nicht für sich geltend machen.

Am Schluss des Gesprächs verwickelt Sokrates Gorgias in einen Widerspruch: Einerseits nimmt demnach die Redekunst in Anspruch, eine Kunst in Bezug auf die Gerechtigkeit zu sein (so dass der Redner insofern immer Gerechtes sagt und tut), andererseits gibt es auch Redekünstler, welche die Redekunst benutzten, um Unrechtes zu tun.

Daraufhin schreitet Polos ein und verlangt eine Aussage von Sokrates, was dann die Redekunst sei. Sokrates antwortet, dass die Redekunst eine Kunst sei, welche sich auf die Lust und das Wohlgefallen beziehe, nicht aber auf ein bestimmtes Wissen. Sie sei insofern Schmeichelei und gleichzeitig ein Schattenbild eines Teils der Staatskunst.

Aufgefordert, weiteres zu erklären, entwickelt Sokrates folgende Analogie: die Kunst der Seele sei die Staatskunst (Rechtsgabe und Rechtspflege), wogegen die Künste des Leibes die Heilkunst und die Turnkunst seien. Beide haben ein zugrunde liegendes Wissen, dessen was "gerecht" sei oder mache bzw. dessen was gesund sei oder gesund halte, auf das sie sich beziehen.

Der Heilkunst und Turnkunst stellt Sokrates dann das Kochen bzw. das (Sich-Selbst-Heraus-)Putzen gegenüber, der Rechtsgabe und Rechtspflege die Rhetorik und die Sophistik. Kochen und Putzen seien keine Künste, da sie sich nicht auf ein Wissen um die Gesundheit beziehen, sondern nur auf die Lust/das Wohlgefallen der Menschen. Der Koch könne nur dem Gaumen schmeicheln, nicht aber heilen; das Putzen könne nur den Anschein von Gesundheit und Schönheit erwecken, nicht aber gesund und schön machen.

Ebenso die Rhetorik (←→ Rechtspflege) und Sophistik (←→ Rechtsgabe), da sie sich auf kein zugrunde liegendes Wissen über das Gerechte beziehen, sondern nur zum Glauben eines Gerechten überreden, nicht aber dessen Einsicht bewirken können.

Dem Redner käme es nicht darauf an, dem Volk Gutes zu sagen, sondern darauf, ihm nach dem Munde zu reden. Sokrates vergleicht den Redekundigen mit einem Koch, der möglichst schmackhafte Speisen zubereitet, während der Philosoph einem Arzt gleiche, dem es um die (seelische) Gesundheit der Menschen ginge.

Gespräch mit Polos

Ausgehend hiervon entspinnt sich ein Gespräch mit Polos über die Macht der Redner. Sokrates behauptet, die Redner und die Tyrannen seien die machtlosesten unter den Menschen eines Staates, was Polos bestreitet. Sokrates argumentiert: Tyrannen und Redner täten zwar, was sie für gut hielten, aber nicht was sie wollten. Das nämlich, was sie wollen, das ihnen auch nützlich ist, kennen weder Tyrannen noch Redner und sind insofern, durch ihre Unkenntnis dessen, de facto machtlos. Es sei also nicht ungereimt, dass jemand zwar immerzu erfolgreich durchführe, was er für gut halte, in Bezug auf das, was ihm tatsächlich nützt, allerdings machtlos ist.

Angestoßen hiervon ergibt sich eine Diskussion über das Verhältnis von Unrecht tun und Unrecht leiden. Polos äußert, dass er einen solchen für beneidenswert halte, der töte oder beraube, wen er wolle. Sokrates dagegen sagt, dass dies, selbst wenn es im Recht geschehe, nicht beneidenswert sei, grundsätzlich aber Unrecht zu erleiden besser sei als Unrecht zu tun. Zunächst überzeugt er Polos davon, dass das Unrechttun hässlich ist und insofern ungut. Gleichzeitig geht aus den vorangegangenen Überlegungen hervor, dass der Unrechttuende aus Nicht-Erkennen des Guten und Schönen und insofern nie schön und gut handelt. Derjenige aber, der das tut, wird einen Unrechttuenden strafen, um diesem so die Schlechtigkeit zu nehmen. Durch diese Teilhabe am Schönen und Guten ergibt sich der Vorrang des Unrechtleidens vor dem Unrechttun. Der Tyrann, der befreit ist von der Möglichkeit, durch Strafe am Schönen teilzuhaben, ist also in zweierlei Hinsicht elend: weder kennt er das Gute und Schöne, noch kann er durch Belehrung an ihm teilhaben.

Gespräch mit Kallikles

Es folgt ein Dialog zwischen Sokrates und dem Politiker Kallikles. Kallikles greift Sokrates an. Er vertritt die Auffassung, dass Philosophie in der Jugend etwas Gutes ist, bei erwachsenen Männern aber Narretei. Sokrates solle sich stattdessen in die praktische Politik begeben.

Der Politiker betont, dass die von Natur aus Besseren normalerweise im Staat auch die Mächtigeren sind und dass ihnen (bezüglich der Verteilungs-Gerechtigkeit) mehr zukomme, nicht durch die Gesetze, sondern aufgrund ihrer starken Natur, die ihnen helfe, die als widernatürlich aufgefassten staatlichen Gesetze zu überwinden. Kallikles' Auftritt verdeutlicht die im Gespräch mit Polos bereits implizit angeklungene Antinomie zwischen Nomos und Physis.

Sokrates wendet sich zuerst dagegen, dass von Natur aus stark im Staat die Menge an Menschen sei, nicht aber der Einzelne. Da eben jene aber die gerechte Verteilung, die Kallikles als widernatürlich bezeichnet, einfordern, ergibt sich ein Widerspruch. Kallikles wird also gezwungen sich zu verbessern und trägt nun vor, dass die in Staatsdingen Einsichtsvolleren und Tapferen die Stärkeren seien und herrschen sollen.

Der Philosoph fragt nun, ob die Stärkeren über sich selbst oder nur über die Menge herrschen. Kallikles antwortet, es sei derjenige glücklich, der nicht beherrscht wird. Die Position des Sokrates, der Bessere als der Besonnene beherrsche sich selbst verwirft er: Der Besonnene sei einfältig, da gerade die Zügellosigkeit, als Unbändigkeit vor jedem Gesetz verstanden, die höchste Tugend sei.

Sokrates versteht dieses Argument als Gleichsetzung des Guten mit dem Lustvollen und widerlegt Kallikles: Es sei möglich, gleichermaßen von Lust und Unlust befallen zu sein, nicht aber, gut und schlecht gleichzeitig zu sein. Ein schlechter Mensch könne Lust empfinden, was nicht bedeute, dass der gut sei. Er wiederholt an dieser Stelle sein Argument gegenüber Gorgias und Polos, dass einige Tätigkeiten nur auf Lust beruhten, andere wie die Wissenschaften tatsächlich Wissen von Gutem und Schlechtem umfassten. Auf die Tugend (d.h. auf die Seele) bezogen heißt das, so argumentiert Sokrates, die Tätigkeit der Seele, welche nur die Lust bedient, gleich der Redekunst und Kochkunst bei Gorgias schmeichelt nur, weiß aber nicht. Die Tätigkeit, die auf der Tugend aufbaut, hat eine gewisse Ordnung, vergleichbar mit der Ordnung eines Haushaltes, welche sich immer auf das Gute bezieht. Diese Bildungsregel findet sich in der Besonnenheit und Gerechtigkeit, welche somit den Handelnden gut bzw. besser macht. Insofern ist nur derjenige, der gut, besonnen und gerecht handelt – nicht etwa der, welcher der Lust nachjagt – gut und glückselig.

In Bezug auf die Staatsführung heißt das für Sokrates: Der Führer des Staates, er nennt hier Perikles, der nicht gerecht, besonnen und gut ist, tut durch sein Vorbild Unrecht, da die Untergebenen ihm nacheifern. Insofern besteht die gute Staatsführung in der Anleitung der Seele des Einzelnen zum Guten. Weder die Politik noch die Sophistik oder Rhetorik erfüllten diesen Anspruch. Gerade die die Mächtigsten sind hingegen oft die Unglücklichsten, da Macht viele Möglichkeiten eröffne, Unrecht zu tun; Unrecht ist aber das Schlimmste, was einem Menschen widerfahren kann. Allein die gute Seele ist das Ziel, nicht aber äußerliche Anerkennung, die sich in Schmeichelei oder materiellem Reichtum zeigt.

Interpretation

Der Dialog zeigt in einem vergleichsweise aggressiven Tonfall die Einstellung Platons zu den realpolitischen Begebenheiten Athens; insbesondere greift er den fehlenden Bezug der Sophistik, Rhetorik und Politik auf das Gute und Gerechte an. Er demonstriert, dass die angeführten Tätigkeiten keine Künste seien, da sie sich nicht auf eine Kenntnis des Guten und Gerechten beziehen, sondern das nur für sich in Anspruch nehmen, aber keineswegs einhalten.

Sokrates erklärt sich durch Platon folgerichtig (in seinem Selbstverständnis als Erzieher der Seele zum Guten und Gerechten) am Ende des Dialoges zum einzigen wahrhaften Staatsmann.

Rezeption

Die politische Philosophin Hannah Arendt bezieht sich in ihrer posthum erschienen Arbeit Das Denken[1] auf dieses Frühwerk Platons, um ihre Auffassung über das Böse und das Individuum darzulegen. Sie unterscheidet dabei zwischen der ihrer Ansicht nach geschlossenen dichotomen der Tyrannis zugeneigten Philosophie Platons und dem dialogischen offenen Denken des Sokrates, der in diesen Dialogen eine Theorie des inneren Gesprächs, des Zwiegesprächs mit sich selbst, entwickelt habe, bei dem der Einzelne freiwillig Gutes tut und Böses unterlässt, um im Einklang mit sich selbst leben zu können, unabhängig davon, was die Menge vertritt.

Einzelnachweise

  1. The Life of the Mind, New York 1978, dt. Vom Leben des Geistes. Das Denken. Das Wollen. Piper, Erstausgabe 1979, hier Taschenbuch 2001, ISBN 3-492-22555-1, S. 180-186. Das Buch beruht auf Vorlesungen aus den Jahren 1973 und 1974.

Literatur

  • Theo Kobusch: Sprechen und Moral. Überlegungen zum platonischen Gorgias. In: Philosophisches Jahrbuch 85 (1978), S. 87-108.
  • Theo Kobusch: Wie man Leben soll: Gorgias. In: Platon - Seine Dialoge in der Sicht neuer Forschungen. Hrsg. v. Th. Kobusch u. B. Mojsisch, WBG, Darmstadt, 1996, S. 47-63.
  • Richard McKim: Shame and Truth in Plato's Gorgias. In: Platonic writing - Platonic Readings. Hrsg. v. Charles L. Griswold, S. 34-48.

Weblinks


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