Lemuriformes

Lemuriformes
Lemuren
Schwarzweißer Vari (Varecia variegata)

Schwarzweißer Vari (Varecia variegata)

Systematik
Klasse: Säugetiere (Mammalia)
Unterklasse: Höhere Säugetiere (Eutheria)
Überordnung: Euarchontoglires
Ordnung: Primaten (Primates)
Unterordnung: Feuchtnasenaffen (Strepsirhini)
Teilordnung: Lemuren
Wissenschaftlicher Name
Lemuriformes
Gray, 1821

Die Lemuren (Lemuriformes) sind eine Teilordnung der Primaten aus der Gruppe der Feuchtnasenaffen (früher „Halbaffen“). Sie fassen alle auf Madagaskar lebenden Tiere dieser Ordnung zusammen, nach heutiger Sichtweise an die 100 Arten. Es ist eine in Bezug auf Körperformen und Lebensweisen sehr vielfältige Gruppe, die meisten Arten leben jedoch auf Bäumen und sind Pflanzen- oder Allesfresser. Viele Vertreter sind durch die Zerstörung ihres Lebensraums in ihrem Bestand bedroht, einige Gattungen, etwa die Riesenlemuren sind ausgestorben. Der Name der Tiere leitet sich von den Lemures, römischen Totengeistern ab und spielt auf ihre oft nächtliche Lebensweise und ihrer dank der großen Augen markanten Gesichter an.

Inhaltsverzeichnis

Merkmale

Mausmakis sind die kleinsten Lemuren

Die Lemuren sind eine vielgestaltige Gruppe. Die Körpergröße variiert von 30 Gramm bei den Mausmakis – der Berthe-Mausmaki ist der kleinste Primat überhaupt – bis zum Indri, der 10 Kilogramm erreichen kann. Ausgestorbene Formen wie Archaeoindris waren deutlich größer und konnten bis zu 200 Kilogramm erreichen. Ein Geschlechtsdimorphismus hinsichtlich des Gewichts ist nur schwach ausgeprägt, die Männchen und Weibchen sind ungefähr gleich groß, auch die bei zahlreichen anderen Primaten vorkommenden Unterschiede in der Größe der Eckzähne finden sich bei Lemuren nicht. Allerdings unterscheiden sich bei einigen Arten der Großen Makis (Eulemur) die Geschlechter beträchtlich hinsichtlich der Fellfärbung. Bei den meisten Arten ist der Schwanz gleich lang wie der Rumpf oder länger, nur der Indri ist annähernd schwanzlos. Bei den lebenden Arten sie die Beine stets länger als die Arme, nur bei den ausgestorbenen Palaeopropithecinae und Megaladapidae war es umgekehrt. Bei den Lemuren, die sich vorwiegend vierbeinig durch das Geäst bewegen, ist der Unterschied nur schwach ausgeprägt, die Vertreter, die sich senkrecht kletternd und springend fortbewegen, sind die Hinterbeine deutlich länger als die Vorderbeine, etwa bei den Wieselmakis und vielen Indriartigen. Alle Finger und Zehen tragen Fingernägel mit Ausnahme der bei allen Feuchtnasenaffen vorhandenen Putzkralle an der zweiten Zehe.

Sifakas, hier der Diademsifaka, zählen zu den farbenprächtigsten Lemuren

Die Länge des Fells ist variabel, auch seine Färbung variiert und kann von weiß über verschiedene Grau- und Brauntöne bis zu schwarz reichen. Die tagaktiveren Lemuren wie manche Sifakas oder Gewöhnlichen Makis können auch farbenprächtig gefärbt sein. Das Gesicht ist häufig unbehaart, manchmal sind auch Ohrbüschel oder bartähnliche Haare an den Wangen oder am Kinn vorhanden.

Die Kopfform ist variabel, neben Lemuren mit rundlichem Kopf gibt es auch Arten mit langgestreckter, hundeartiger Schnauze, etwa die Varis. Die Augen sind relativ groß, insbesondere bei den nachtaktiven Arten, und mit einem Tapetum lucidum, einer lichtreflektierenden Schicht hinter den Netzhaut, versehen. Die Nase ist wie bei allen Feuchtnasenaffen mit einem Nasenspiegel ausgestattet, was für einen gut entwickelten Geruchssinn sorgt, die Oberlippe ist durch eine Spalte, das Philtrum, geteilt. Die Form und Anzahl der Zähne ist je nach Ernährung variabel, die Zahnformel lautet I0-2/1-2 C0-1/0-1 P 1-3/0-3 M3/3. Mit Ausnahme der Fingertiere haben alle Lemuren einen Zahnkamm, das sind die nach vorne ragenden Schneide- und Eckzähne des Unterkiefers. Fingertiere haben das abweichendste Gebiss aller Lemuren, das sich konvergent zu dem der Nagetiere entwickelt hat. So sind die Schneidezähne nagezahnähnlich umgebildet und wachsen zeitlebens, die Eckzähne und die Mehrzahl der Prämolaren fehlen – nur im Oberkiefer ist einer vorhanden. Weitere Modifikationen im Gebiss der Lemuren sind die fehlenden Schneidezähne des Oberkiefers bei Wieselmakis und den ausgestorbenen Megaladapidae sowie der Verlust einen Schneidezahns pro Kieferhälfte im Unterkiefer der Indriartigen.

Verbreitung und Lebensraum

Lemuren kommen natürlicherweise nur auf der Insel Madagaskar vor der Ostküste Afrikas vor.

Das natürliche Verbreitungsgebiet der Lemuren umfasst die Insel Madagaskar vor der Ostküste Afrikas. Zwei Arten, der Mongozmaki und der Braune Maki, wurden darüber hinaus auf den Komoren angesiedelt.

Früher waren die Tiere auf der gesamten Insel verbreitet, heute sind sie auf die Wälder in den Küstenregionen beschränkt und fehlen in den unbewaldeten Gebieten wie dem zentralen Hochland. Weniger als 10% der Fläche der Insel verbleiben soweit unberührt, um als Lebensraum dieser Tiere dienen zu können, sodass die Lemuren insgesamt heute nur auf 50.000 bis 60.000 km² Fläche leben.[1].

Lebensraum der meisten Lemuren sind Wälder, wobei sie in verschiedenen Waldtypen leben. So kommen sie sowohl in den trockenen Laubwäldern der Westküste und den Dornwälder des Südwestens als auch in den Regenwäldern der Ostküste vor. Einzig der Katta kann sich im größeren Ausmaß auch in unbewaldeten Savannen- und Gebirgsregionen behaupten. Die ausgestorbenen Lemurenarten wiesen vermutlich eine größere Vielfalt der Lebensräume auf, so könnte Hadropithecus vorwiegend in Grasländern gelebt haben.

Lebensweise

Fortbewegung und Aktivitätszeiten

Fettschwanzmakis sind wie die Mehrzahl der Lemuren nachtaktiv.

Die heute lebenden Arten sind mit Ausnahme des semi-terrestrischen (teilweise am Boden lebenden) Katta Baumbewohner, die höchstens gelegentlich auf den Boden kommen. Sie haben mehrere Fortbewegungsmuster entwickelt, vorwiegend das senkrechte Klettern und Springen und das vierbeinige Gehen (arboreale Quadrupedie). Bei den ausgestorbenen Lemuren fand sich eine noch größere Vielfalt: So gab es die vermutlich faultierähnlich an den Ästen hängenden Palaeopropithecinae, die koalaähnlich langsam kletternden oder hopsenden Megaladapidae oder den riesenfaultierähnlichen Archaeoindris, für die es allesamt unter den übrigen Primaten keine Analogien gibt.

Die Lemuren haben sich vermutlich aus nachtaktiven Vorfahren entwickelt und bis heute hat die Mehrzahl der Lemurenarten dieses Aktivitätsmuster beibehalten. Die meisten nachtaktiven Arten errichten zum Schlafen Blätternester oder ziehen sich in Baumhöhlen, Pflanzendickichte oder andere Verstecke zurück. Einige Arten haben sich jedoch an eine tagaktive Lebensweise angepasst, hierzu zählen etwa der Indri, die Sifakas oder die Varis. Daneben gibt es auch Arten mit kathemeraler Lebensweise, das heißt ohne festen Tag-Nacht-Rhythmus, die über den ganzen 24-Stunden-Zyklus aktiv sein können. Das kann beispielsweise von der Jahreszeit und dem damit verbundenen Nahrungsangebot und von der Witterung abhängen. Diese flexible Kathemeralität, die sich bei mehreren Arten der Gewöhnlichen Makis findet, ist ansonsten bei Primaten unbekannt.[2]

Wie bei anderen Säugetieren auch korreliert bei den Lemuren die Aktivitätszeit grob mit der Körpergröße: So sind die kleineren Arten ausschließlich nachtaktiv und wiegen meist weniger als 1 Kilogramm, nur das Fingertier ist mit bis zu 3 Kilogramm deutlich schwerer. Im Gegensatz dazu sind die größeren Arten sind meist tagaktiv oder kathemeral.[3]. Die oben erwähnten tagaktiven drei Gattungen sind gleichzeitig die größten lebenden Lemuren.

Um mit dem jahreszeitlich schwankenden Nahrungsangeboit insbesondere im Westen Madagaskars umzugehen, haben die Lemuren einige für Primaten einzigartige Strategien entwickelt. Der Schwanz der Fettschwanzmakis und im schwächeren Ausmaß der Mausmakis fungiert als Fettspeicher. In der Regenzeit nehmen sie verstärkt Nahrung zu sich, wodurch sie deutlich an Gewicht zulegen können, und lagern Fett in ihrem Schwanz ab, in der nahrungsärmeren Trockenzeit zehren sie dann von diesen Reserven. Zu dieser Zeit allen sie häufig in einen kurzzeitigen Torpor (Starrezustand), um Energie einzusparen. Die Fettschwanzmakis sind die einzigen Primaten, die einen längeren Winterschlaf halten: die Körpertemperatur wird nicht auf einem stabilen Niveau gehalten, sondern fluktuiert mit den Außentemperatur, die Stoffwechselrate geht deutlich zurück und die Tiere können in dieser Zeit die Hälfte ihres Gewichtes verlieren.

Sozialverhalten

Weibchendominierte Gruppen sind bei vielen Lemuren, wie beim Katta, üblich.

Die Sozialstrukturen der Lemuren sind variabel, bei vielen Arten allerdings noch kaum bekannt. Generell lässt sich allerdings, wie bei Primaten allgemein, ein hoher Grad an Sozialverhalten beobachten, strikte Einzelgänger gibt es nicht. Bei den nachtaktiven Arten ist es häufig, dass sich das Streifgebiet eines Männchens mit dem mehrerer Weibchen überlappt. Manchmal schlafen sogar mehrere Tiere tagsüber gemeinsam in einem Unterschlupf, gehen aber getrennt auf Nahrungssuche. Daneben gibt es auch monogame Arten, bei denen ein Männchen und ein Weibchen in Familiengruppen leben und oft jahrelang zusammenbleiben. Von zumindest einer Art, dem Westlichen Fettschwanzmaki ist bekannt, dass er zwar in monogamen Gruppen lebt, die Weibchen aber häufig „fremdgehen“ und die Nachkommen nicht von dem Männchen gezeugt werden, mit dem sie zusammenleben.[4]

Wieder andere Arten leben in größeren Gruppen mit mehreren ausgewachsenen Männchen und Weibchen sowie den Jungtieren. Diese Gruppen werden oft von Weibchen dominiert, was unter anderem daran sichtbar wird, dass die Weibchen die Routen der Tagesstreifzüge bestimmen und an Nahrungsquellen bevorzugten Zugang haben. In diesen gemischten Gruppen ist die Konkurrenz zwischen den Männchen außerhalb der Paarungszeit häufig nur schwach ausgeprägt. Andere Sozialstrukturen, die von anderen Primaten bekannt sind, wie etwa männchendominierte gemischte Gruppen oder gar Haremsgruppen, bei denen ein Männchen mehrere Weibchen um sich schart, sind bei den Lemuren nicht bekannt.


Systematik

Äußere Systematik

Die Lemuren bilden innerhalb der Primaten zusammen mit den Loris und Galagos, die als Loriartige (Lorisiformes) zusammengefasst werden, die Gruppe der Feuchtnasenaffen (Strepsirrhini) – die Klassifizierung als „Halbaffen“ ist heute veraltet. Die Monophylie der Lemuren ist aufgrund genetischer Daten relativ gesichert, es gibt aber nur wenige morphologische Merkmale, die diese Aufteilung unterstützen. Hierzu zählen der Bau der Ohrregion und der Blutversorgung des Schädels – so ist die Arteria carotis interna bei den Lorisiformes im Gegensatz zu den Lemuren rückgebildet.

Die Stellung der Lemuren im Stammbaum der Primaten kommt in folgendem Kladogramm zum Ausdruck[5]

Primaten (Primates)
  ├──Trockennasenaffen (Haplorhini)
  └──Feuchtnasenaffen (Strepsirrhini)
       ├──Loriartige (Lorisiformes)
       └──Lemuren (Lemuriformes)

Innere Systematik

Die Anzahl der bekannten Arten hat sich in den letzten Jahren deutlich erhöht. 1999 wurden 31 lebende Arten unterschieden[6], aufgrund von Beschreibungen neuer Artten und der Erhöhung von bislang als Unterarten geführter Population wurden 2008 bereits 97 lebende Arten[7] unterschieden.

Die nachfolgende Liste gibt die Systematik bis zur Gattungsebene wieder[8]:

Die Aufteilung der lebenden Vertreter in fünf Familien ist morphologisch und genetisch gut abgesichert, die Abstammungsverhältnisse sind jedoch nicht restlos geklärt. Die Fingertiere (Daubentoniidae) dürften die früheste Abspaltung und die Schwestergruppe aller übrigen Lemuren bilden. Ein mögliches Kladogramm der lebenden Lemurenfamilien sieht folgendermaßen aus[9]:

Lemuren (Lemuriformes)
  ├──Fingertiere (Daubentoniidae)
  └──N.N.
     ├──Katzenmakis (Cheirogaleidae)
     ├──Wieselmakis (Lepilemuridae)
     └──N.N.
        ├──Gewöhnliche Makis (Lemuridae)
        └──Indriartige (Indriidae)

Die Position der Megaladapidae ist nicht geklärt. Ein früher vermutete enge Verwandtschaft zu den Wieselmakis, die sich in Ähnlichkeiten im Bau der Zähne begründete, konnte durch genetische Studien nicht bestätigt werden.

Literatur

  • Thomas Geissmann: Vergleichende Primatologie. Springer, Berlin 2003. ISBN 3540436456
  • Ronald M. Nowak: Walker's Mammals of the World. Johns Hopkins University Press, 1999 ISBN 0801857899
  • Nick Garbutt: Mammals of Madagascar. A Complete Guide. Yale University Press, New Haven & London 2007, ISBN 978-0-300-12550-4
  • R. Mittermeier, J. Ganzhorn, W. Konstant, K. Glander, I. Tattersall, C. Groves, A. Rylands, A. Hapke, J. Ratsimbazafy, M. Mayor, E. Louis jr., Y. Rumpler, C. Schwitzer und R. Rasoloarison: Lemur Diversity in Madagascar. In: International Journal of Primatology 29 (2008), S. 1607–1656.

Einzelnachweise

  1. Zahlen nach Mittermeier et al., 2008
  2. Geissmann (2003), S. 75
  3. Geissmann (2003), S. 38-39
  4. N. Schwensow, J. Fietz, K. H. Dausmann und S. Sommer: MHC-associated mating strategies and the importance of overall genetic diversity in an obligate pair-living primate. In: Evol Ecol, 2007, doi:10.1007/s10682-007-9186-4.
  5. nach Geissmann (2003), S. 19
  6. Nowak (1999)
  7. Mittermeier et al. (2008)
  8. lebende Artern nach Mittermeier et al (2008), ausgestorbene Gattungen nach Nowak (1999)
  9. nach Geissmann (2003), S. 49

Weblinks


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