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Ein Taschentuch ist ein Stück Stoff oder Papier, das vor allem zur Säuberung der Nase verwendet wird. Taschentücher gibt es als waschbare Stofftaschentücher oder als Papiertaschentücher, die nach dem Gebrauch entsorgt werden. Nicht in jeder Kultur wird zum Naseputzen ein Taschentuch benutzt und auch in Europa war das bis in die Neuzeit hinein nicht üblich.
Eine Sonderform des Taschentuchs ist das Einstecktuch, das Herren zu festlichen Anlässen oft in der Brusttasche des Sakkos tragen; es dient nur der Dekoration und hat keine praktische Funktion.
Inhaltsverzeichnis
Geschichte und Entwicklung
Anfänge
In der römischen Antike gab es Schweiß- und Mundtücher, die von Historikern als Etikettetücher bezeichnet werden. Zum Naseputzen wurden sie nicht benutzt. Schweißtücher erwähnt erstmals der Dichter Catullus mit der Bezeichnung Sudarium (lat. sudor = Schweiß); sie waren aus ägyptischem Leinen und wurden in eine Gewandfalte der Toga gesteckt. Ein Jahrhundert später kam das so genannte Orarium (lat. oris = Mund) auf. Außerdem gab es in der Antike bereits Servietten, die Mappa hießen. Unter Kaiser Aurelian wurde es Sitte, im Theater hohe Persönlichkeiten und beliebte Schauspieler durch das Schwenken farbiger Tücher zu begrüßen. Mappa und Orarium sind als liturgische Symbole in der christlichen Messzeremonie erhalten geblieben.[1]
Der Zeitraum um 1096 bis 1270 spielt eine wichtige Rolle in der Geschichte des Taschentuches. Der Orient baute immer stärker die Handelsbeziehungen mit Europa aus. Besonders die Stadt Venedig, die als der „europäische Orient“ bezeichnet wurde, galt damals als reichste Handelsstadt. Neben Gewürzen, Teppichen und anderen orientalischen Handelsgütern kam auch der Stoff erstmals nach Europa. Als um 1300 der Trittwebstuhl nach Europa kam (er war schon im 6. Jahrhundert v. Chr. in China in Gebrauch), begann sich allmählich auch hier das Weben durchzusetzen.
Seit dem 11. Jahrhundert spielten Tücher eine Rolle als heimliches Liebespfand beim Minnedienst. Als Treuepfand nahmen Ritter es mit in den Kampf und gaben es der Angebeten, meist getränkt mit Schweiß und Blut, hinterher zurück.[1] Mitunter wurden solche Tücher auch offen an der Lanze befestigt, wenn die Besitzerin nicht mit einem anderen verheiratet war.
Der Weber Baptiste Chambray aus Cambrai (Flandern) stellte um 1300 angeblich die ersten Taschentücher aus Stoff her. Unter dem Namen Drapesello panetto di naso (ital.: einfache Tücher aus Stoff zum Naseputzen) wurde es aber nur vereinzelt gebraucht. Es wurde in einer Tasche am Gürtel aufbewahrt.
Luxusartikel des Adels
Etwa um 1447 wurde das Taschentuch allmählich zum Luxusartikel. In italienischen Kleiderinventaren aus dem 15. Jahrhundert werden verschiedene Tücher genannt: sudarioli (Schweißtücher), paneti und drapeselli (Tüchlein), paneti da naso (Nasentücher), paneti da copa (Halstücher) und fazzoletto (Ziertücher). Die größte Rolle spielten die Ziertücher, die oft reich bestickt waren und offen in der Hand getragen wurden. Die kostbarsten Tücher dieser Art wurden in Venedig hergestellt und exportiert, vor allem nach Frankreich.[1]
Sultan Mehmed II. Fatih (1432–1481) erließ ca. 1453 im Osmanischen Reich ein Gesetz, nach dem nur er und sein engster Stab Taschentücher in der Öffentlichkeit tragen durften. Wer diesem Gesetz zuwider handelte, wurde mit Haft und oft sogar mit dem Tod bestraft.
Katharina von Medici führte im 16. Jahrhundert das Toilettetuch am französischen Hof ein. Es wurde mouchoir genannt und diente vor allem repräsentativen Zwecken. Zum Schnäuzen benutzte auch der Adel zu dieser Zeit im Allgemeinen noch die Finger. Erasmus von Rotterdam, der einem Inventar zufolge 39 Taschentücher besaß, gilt als Ausnahme. Die Ziertücher wurden von den Damen mit Parfum getränkt und als Liebespfand an Herren verschenkt; die Bezeichnung dafür ist mouchoir de Vénus. König Heinrich III. von Frankreich beschenkte damit seine Günstlinge, die Mignons genannt wurden.[1]
In Deutschland war das Ziertuch seit Anfang des 16. Jahrhunderts beim Adel als Fazinetel oder Fazittlein bekannt. Wegen der üblichen Parfümierung wurden sie in den Kleiderordnungen auch als Schnüffeltücher bezeichnet, die den höheren Ständen vorbehalten waren.[1]
Mit dem Aufkommen des Schnupftabaks und der Verwendung der Ziertücher zur Säuberung der Nase verloren die Tücher ihren Charakter als Luxusartikel. So wurde das Taschentuch im 18. Jahrhundert in der Oberschicht für Männer allmählich zum Gebrauchsgegenstand. Doch noch zur Zeit der Französischen Revolution gilt es als Symbol des Adels. „‚Was, er schneuzt sich nicht durch die Finger? Er hat ein Taschentuch – er muss ein Aristokrat sein. Hängt ihn auf!‘ schreit ein Revolutionär in Büchners ‚Dantons Tod‘.“[2]
Allgemeine Verbreitung
Mit den Erfindungen des Fliegenden Schiffchens durch John Kay 1733 und der Spinning Jenny 1764 durch James Hargreaves wurde die Herstellung von Stoff zunehmend billiger. Dadurch konnten auch die Taschentücher kostengünstiger produziert werden und wurden vom Luxusartikel zunehmend zum Alltagsgegenstand. Zur Zeit des Biedermeier wurde es auch in den bürgerlichen Kreisen zum romantischen Liebessymbol. Damen hielten es oft kokett in der Hand, damit die Stickereien darauf zu sehen waren. Junge Männer trugen das Taschentuch der Angebeteten sichtbar in einem Knopfloch ihrer Jacke. Dieser Brauch soll um 1800 zuerst in London aufgekommen sein und war möglicherweise der Vorläufer des Einstecktuchs bei Männern, das erst ab 1830 belegt ist. In der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts steckten die Damen ihr parfümiertes Taschentuch ins Dekolleté oder in die Ärmel ihres Kleides, um es griffbereit zu haben.[1]
Papiertaschentücher
Das 20. Jahrhundert veränderte die Benutzung des Taschentuchs auf vielfältige Art und Weise. Ausschlaggebend war das kaiserliche Patent in Deutschland über ein glyceringetränktes Papiertaschentuch aus dem Jahre 1894 (Patentnummer: 81094), das G. Krum, der Inhaber einer Göppinger Papierfabrik, anmeldete. Bei der Erfindung handelte es sich um ein sehr dünnes, aber fast normales Papier, das in Glycerin getränkt wurde, um eine bestimmte Weichheit zu erzielen.
Etwa 35 Jahre später, am 29. Januar 1929, reichten die Vereinigten Papierwerke Nürnberg ein Patent für das erste Papiertaschentuch aus reinem Zellstoff beim Reichspatentamt (Patentnummer: 407752) ein. Dieses Taschentuch erhielt den noch heute bekannten Namen Tempo. Die Idee dazu schreibt man dem damaligen Mitinhaber der Vereinigten Papierwerke Oskar Rosenfelder zu. Das Patent basierte auf einem Zellstoffpapier, das mit einer dünnen Schicht Glycerin überzogen war, um damit – wie schon bei G. Krum 1894 – Weichheit zu erzielen.
Ebenfalls 1929 wurde in den USA eine Firma namens Kimberly-Clark gegründet. Sie stellte unter dem Markenname Kleenex Taschentücher her, die aus dem Baumwollersatzstoff Cellucotton (Zellstoffwatte) bestanden. Cellucotton setzte man vor allem während des Ersten Weltkrieges als Verbandsmaterial ein, weil es sich durch seine Saugfähigkeit und Reißfestigkeit auszeichnete.
Die beiden großen Hersteller für Taschentücher aus Zellstoff begannen, den Weltmarkt zu erobern. Während Tempo sich auf dem europäischen Markt verbreitete, trat Kleenex überwiegend auf dem amerikanischen und asiatischen Markt in Erscheinung. Durch immer neue Entwicklungen versuchte man den Absatz zu steigern. So entwickelte Kleenex 1929 eine „Pop-up“-Box. Diese Konstruktion, bei der durch die Entnahme eines Taschentuchs das nächste halb herausgezogen wurde und griffbereit war, hatte großen Erfolg. Die Absatzzahlen und der Verbrauch von Papiertaschentüchern stiegen stetig.
Seit den 1960er Jahren traten einige kleinere Taschentuchproduzenten auf den Markt. Marktführer sind aber auch heute noch Tempo, Softis und Kleenex.
In Deutschland war von 1935 bis 1994 die Schickedanz-Gruppe (bekannt durch das Versandhaus "Quelle") Eigentümer der Vereinigten Papierwerke (VP) Nürnberg mit ihrer Marke Tempo. In dieser Zeit war die VP mit Tempo Marktführer und bedeutendster Hersteller von Papiertaschentüchern vor den Papierwerken Mannheim mit ihrer Taschentuchmarke Softis. 1994 übernahm die amerikanische Firma Procter & Gamble die VP und verkaufte sie in 2007 an die SCA weiter. Da die SCA inzwischen die Taschentuchmarke Softis sowie die Produktionswerke von den Papierwerken Mannheim erworben hatten, musste sie diese zur Vermeidung einer marktbeherrschenden Stellung abgeben. Ende 2007 erwarb der italienische Tissue-Hersteller Sofidel die Taschentuchmarke Softis sowie die dazugehörigen Lizenzen, Patente und Produktionsanlagen. Tempo wird im deutschen Sprachraum nicht nur als Markenbezeichnung – neben vielen anderen –, sondern auch als Synonym für Papiertaschentuch überhaupt gebraucht.
Aussehen
Die Ziertaschentücher wurden teilweise mit Goldfäden bestickt und mit Diamanten versehen. Sie waren mit etwa 60 × 50 cm wesentlich größer als heutige Taschentücher aus Stoff.
Nach der Möglichkeit, Stofftaschentücher industriell zu fertigen, wollte man der sich einstellenden Eintönigkeit entgegenwirken. Als erste Maßnahme wurden die Taschentücher mit Monogrammen bestickt. Die kunstvoll verzierten Kürzel der Besitzer machten nicht nur äußerlich viel her, sondern trugen auch zur Individualität des Taschentuches bei, da nun keines dem anderen glich.
1785 erfand Thomas Bell das Rouleauxdruck- oder Walzendruckverfahren. Damit konnten die Stofftaschentücher mit Farbe bedruckt werden. Bei diesem Verfahren übertragen Druckwalzen, die mit eingravierten Mustern versehen sind, Farbe auf den Stoff. Es können bis zu 16 Walzen gleichzeitig eingesetzt werden. Diese befinden sich auf Spindeln und werden an die Druckunterlage gepresst. Die Druckfarben werden aus Farbtrögen auf die Walzen aufgetragen. Dabei entspricht jede Walze einer Farbe. Jedoch konnte diese Druckmöglichkeit nur dort wirtschaftlich eingesetzt werden, wo größere Partien zu drucken waren, da das Auswechseln der Druckwalzen hohe Rüstzeiten erforderte. Die Methode zeichnete sich aber durch eine hohe Leistungsfähigkeit aus. Somit konnten bis zu 5000 Meter Stoff pro Stunde bedruckt werden. Auch heute findet der Rouleauxdruck noch verstärkt Anwendung, da er wirtschaftlich sehr effektiv ist.
Nicht nur Druckverfahren wurden angewendet. Bereits 1809 entwickelte John Heathcoat die Technik, Spitze industriell zu fertigen.
Bald wurden bedruckte Taschentücher wie Zeitungen verwendet. Dabei zählten politische Ereignisse wie die Französische Revolution, Weltkarten und Karikaturen zu den beliebtesten Motiven der Konsumenten. John Churchill, 1. Duke of Marlborough, ließ 1702 seine militärischen Erfolge auf Taschentücher drucken und 1710 seine im Parlament gehaltene Rede. 1870 wurden im Deutsch-Französischen Krieg an die Soldaten Taschentücher verteilt mit Anleitungen zum Gebrauch des Gewehrs sowie Landkarten.[1]
Die Größe von Papiertaschentüchern ist den Herstellern überlassen. Sie unterliegt keiner DIN-Norm. Papiertaschentücher der Marke Tempo sind mit 21 x 20,5 cm fast quadratisch und weiß.
Herstellung von Papiertaschentüchern
Für die Herstellung von Papiertaschentüchern wird nicht – wie der alternative Name Zellstofftaschentuch suggeriert – Zellstoff benutzt, sondern Zelluloseregeneratfasern. Diese sind saugfähiger, weicher und elastischer als der normale Zellstoff, der zur Papierherstellung genutzt wird. Um jedoch ein Taschentuch zu produzieren, muss man zunächst Zelluloseregeneratfaserplatten haben, die durch Veredelung von normalen Zellstoff entstehen. Als Rohstoff für die Zellstoffproduktion wird vor allem Holz verwendet. Zunehmend wird jedoch auch Schilfrohr, Espartogras und Stroh in die Produktion eingebunden, um die Baumbestände zu schonen.
Zur Herstellung der Taschentücher müssen zwölf Schritte durchlaufen werden. Diese beginnen schon mit dem Ernten des Rohstoffs, also mit dem Fällen von Bäumen oder dem Sammeln von anderen Ausgangsstoffen wie zum Beispiel verschiedene Grasarten. Diese Ausgangsstoffe, die einen hohen Zellulosegehalt haben sollten, müssen in einer Hackmaschine zerkleinert werden. Holz wird zuvor entrindet. Die entstehenden Hackschnitzel werden zusammen mit den für das Verfahren notwendigen Chemikalien in einen Kocher gegeben. Nach der Stoffumsetzung werden die in Lösung vorliegenden Zelluloseregeneratfasern entwässert und anschließend in die gewünschte Form gebracht.
Es gibt viele verschiedene Möglichkeiten, um die gewünschten Zelluloseregeneratfasern zu gewinnen. Jede Variante hat ihre Vorteile und ihre Nachteile. Die am häufigsten verwendeten Verfahren sind das Sulfitverfahren und das Sulfatverfahren. Weitere Verfahren sind zum Beispiel das Natronverfahren, das Natriumsulfitverfahren, das Pomilloverfahren und der Salpetersäureaufschluss.
Sulfitverfahren
Beim Sulfitverfahren wird vornehmlich altes abgelagertes Holz verwendet. Das zerkleinerte Material wird in ca. 400 m³ große, druck- und säurefeste Stahlbehälter gefüllt. Zu dem Holz wird dann Calciumhydrogensulfit und ein Überschuss an schwefliger Säure gegeben. Dieses Stoffgemisch wird dann 12 bis 20 Stunden bei ca. 140 °C und einem Druck von 5 bis 7 bar gekocht. Neuerdings wird auch Magnesiumhydrogensulfit oder Ammoniumhydrogensulfit eingesetzt, um ein schonenderes Kochen zu bewirken. Bei diesem Vorgang wird das Lignin zu löslicher Ligninsulfonsäure umgesetzt, die ein Bestandteil der Sulfitablauge ist. Diese Sulfitablauge ist außerdem sehr zuckerhaltig und kann daher zur Herstellung von Ethanol benutzt werden. Ein sehr großer Nachteil dieses Verfahrens ist jedoch, dass große Mengen an Abwasser entstehen.
Sulfatverfahren
Das Sulfatverfahren wird vorwiegend zur Verarbeitung von harzreichen Hölzern (Kiefern und Lärchen) in nordischen Ländern verwendet. Das zerkleinerte Holz wird in nur ca. 50 m³ große Behälter gefüllt und mit Natronlauge und Natriumsulfid versetzt. Dabei entsteht Zellstoff und Alkalignin. Der Zellstoff wird vom Alkalignin getrennt und anschließend im Viskoseverfahren zu Zelluloseregeneratfaserplatten verarbeitet. Bei diesem Verfahren entsteht zwar wiederum viel Abwasser, aber auch einige Nebenprodukte wie Terpentin, Harzseife, Tallöl und Kalziumkarbonat (kann als Düngemittel verwendet werden).
Das Sulfatverfahren hat noch weitere Vorteile. Im Unterschied zum Sulfitverfahren kann man alle Holzarten und einjährigen Pflanzen als Rohstoff verwenden. Der Zellstoff aus dem Sulfatverfahren hat eine höhere Festigkeit (bei Taschentüchern nicht unbedingt von Vorteil). Durch das Verbrennen der Ablauge entsteht kein Abwasserproblem.
Die Nachteile des Sulfatverfahrens sind eine geringere Zellstoffausbeute als beim Sulfitverfahren bei gleicher Menge an Rohstoffen. Sulfatzellstoff ist im Vergleich zum weißen Sulfitzellstoff braun. Dadurch entstehen sehr hohe Kosten beim Bleichen. Zudem kommt es bei der Produktion zur Entstehung übelriechender Gase.
Natronverfahren
Beim Natronverfahren wird das zerkleinerte Holz wenige Stunden unter einem Druck von 4–8 bar mit 6- bis 8-prozentiger Natronlauge versetzt. Dabei entsteht Alkalizellstoff und sehr viel Abwasser. Außerdem ist die Natronlauge nur einmal zu verwenden. Dieses Verfahren wird fast gar nicht mehr angewendet, weil es zu teuer ist.
Pomilloverfahren
Das Pomilloverfahren ist eine spezielle Möglichkeit zum Aufschluss von Schilfrohr und Stroh. Die Rohstoffe werden zunächst mit verdünnter Natronlauge behandelt und anschließend mit Chlor oxidiert. Danach extrahiert man mit stärkerer Natronlauge.
Salpetersäureaufschluss
Der Salpetersäureaufschluss wird vorwiegend für die Verarbeitung von Buchenholz verwendet. Es liefert einen sehr hochwertigen Zellstoff. Dabei wird zunächst 14prozentige Salpetersäure bei Temperaturen unterhalb von 50 °C zu dem Holz gegeben. Dies wird solange wiederholt, bis das Lignin völlig oxidiert ist. Diese Phase nennt man Imprägnierungsphase. Danach wird die Konzentration der Salpetersäure durch Verdünnen mit Wasser bei 100 °C auf weniger als ein Prozent gesenkt. Dadurch wird die Zellulose beim siebenstündigen Kochen nicht angegriffen. Nach Entfernen des oxidierten Lignins durch Kochen mit heißer, verdünnter Natronlauge erhält man eine schwarzbraune Lösung. Der Zellstoff wird anschließend durch Behandeln mit Chlor und 10-prozentiger Natronlauge ohne Zuführung von Wärmeenergie weiter veredelt. Sein alpha-Zellulosegehalt steigt dabei bis auf 98 Prozent an.
Viskoseverfahren
Beim Viskoseverfahren wird einfacher Zellstoff mit Natronlauge versetzt. Dabei entsteht Alkalizellstoff, der mit Schwefelkohlenstoff zu Natriumzellulosexanthogenat reagiert. Gibt man nun etwas Natronlauge hinzu, entsteht eine zähflüssige Spinnlösung (Viskose). Wenn man nun diese Spinnlösung in ein Spinnbad aus Natriumsulfat und Schwefelsäure presst, fällt Zellulose aus.
Kulturgeschichte
Schnäuzen in der Öffentlichkeit
Im europäischen Mittelalter schnäuzten sich alle Schichten, auch der Adel, mit den Fingern und wischten diese anschließend an der Kleidung ab. Das stellte keinen Verstoß gegen die guten Sitten dar, denn Taschentücher waren noch nicht in Gebrauch. Ab dem Mittelalter bürgerte sich eine feinere Art des Schnäuzens ein: Während das „niedere“ Volk die rechte Hand benutzte, mit der auch gegessen wurde, schnäuzte man sich in gehobenen Kreisen zumindest während einer Mahlzeit nur mit der linken Hand, vorzugsweise nur mit zwei Fingern.[3]
Die Benutzung des Taschentuchs zum Schnäuzen wurde zunächst in Italien eingeführt und verbreitete sich von dort aus in Adelskreisen. Vornehme Damen trugen das als kostbar geltende Tuch offen am Gürtel. Doch selbst Herrscher besaßen zunächst nur wenige Exemplare. Heinrich IV. von Frankreich hatte Ende des 16. Jahrhunderts lediglich fünf Taschentücher. Erst Ludwig XIV. besaß eine größere Anzahl.[3]
Aus dem 1529 erschienenen Benimmbuch des Erasmus von Rotterdam geht klar hervor, dass zu seiner Zeit das Taschentuch zwar bekannt, aber auch in den Oberschichten wenig verbreitet war. 200 Jahre später gilt es als Unsitte, kein Taschentuch zu benutzen. Das öffentliche Schnäuzen gilt zunehmend als unschicklich.[3]
Als Luxusartikel dienten die Taschentücher vor dem 18. Jahrhundert vor allem als Prestigeobjekte und zu dekorativen Zwecken und wurden allenfalls benutzt, um sich den Schweiß vom Gesicht zu wischen. Mit der aufkommenden Mode des Tabakschnupfens wurden die Tücher aber vor allem für Männer zunehmend zum Gebrauchsgegenstand.
Ab dem 18. Jahrhundert wurden die Peinlichkeitsempfindungen ausgeprägter, so dass man beispielsweise bei Tisch jeglichen Gebrauch von Taschentüchern vermeiden sollte, um die anwesenden Gäste nicht zu verärgern. Falls es jedoch unumgänglich war, den „Körperfluss“ aufzuhalten, sollte man den Vorgang möglichst mit einer Serviette verbergen oder sich zumindest von der Tafel wegdrehen. Der Begriff Peinlichkeit errang eine neue Position in der Gesellschaft, so dass sogar die Benutzung des Wortes Schnäuzen vermieden werden sollte.[4]
In anderen Kulturregionen, wie z. B. Japan oder Korea, ist öffentliches Schnäuzen ein großes Tabu. Es wird – ebenso wie z. B. Flatulenz in der Öffentlichkeit – als sehr unhöflich empfunden. Dagegen gilt das Hochziehen des Nasenschleims als Körperbeherrschung und darf ohne weiteres in der Öffentlichkeit erfolgen.
Entwicklung der Hygienevorstellungen
Lange Zeit galt es als verpönt und als Schande, sich öffentlich die Nase zu putzen. Erst mit dem aufkommenden Hygienebewusstsein in der Neuzeit änderte sich die Einstellung hierzu.
Lange glaubte man, dass Krankheiten durch stinkende Luft ausgelöst würden, unter anderem weil im Mittelalter die großen Seuchen hauptsächlich in den Armenvierteln ausgebrochen waren und der Adel die dort vorherrschende Luft verantwortlich machte. Zwischen 1760 und 1780 entstand die Theorie, dass die Luft aus phlogistischer Luft (N2), fixer Luft (CO2) und Lebensluft (O2) bestand. Die Chemie begann, Luft neu zu definieren und zu begreifen. Besonders Gerüche erhielten erstmals Beschreibungen und Namen.
1794 wurde dann in Paris der erste Lehrstuhl für öffentliche Hygiene an der Société Royale de Médecine geschaffen. Dort begann man sich mit der Ansteckung durch Krankheitserreger zu beschäftigen. Ein Augenmerk waren dabei sogenannte Miasmen. „Miasma“ nannte man damals einen vermuteten Ansteckungsstoff, der außerhalb des Körpers gebildet wurde. Diese Vorstellung hielt bis zur Entdeckung der Bakterien durch Louis Pasteur an.
Verdrängung des Stofftaschentuches
Seit der Erfindung des Zellstofftaschentuches wurde die Zahl der Stofftaschentuchbenutzer erheblich reduziert. Es wurden neue Qualitätsansprüchen an das Stück (Zell)Stoff gestellt. Nicht länger wollte man mit der Ungewissheit leben, dass das vermeintliche „Stück Stoff“ vielleicht bei der vorhergehenden Reinigung nur mangelhaft gesäubert wurde und somit vielleicht noch die eigenen oder sogar fremde Keime vorhanden waren; es galt zunehmend als unhygienisch, ein benutztes Stofftaschentuch in der Hosentasche oder in der Handtasche mit sich herumzutragen und es wiederholt zu benutzen. Daher setzten sich Papiertaschentücher nach und nach gegen das traditionelle Stofftaschentuch durch.
Fast 90 % der deutschen Bevölkerung benutzen heute Zellstofftaschentücher.
Kunstgeschichte
Taschentücher in der Literatur
In der Literatur gibt es Beispiele in den ein Taschentuch eine Rolle spielt. So heißt der Titel eines Romans von Brigitte Kronauer Das Taschentuch.[5] Den gleichen Titel hat auch die vierte Ausgabe des sechsteiligen Horrorromans Die Blackstone Chroniken von John Saul.[6]
In der Komödie Tartuffe von Molière kommt ein Taschentuch im Dritten Aufzug, Zweiter Auftritt vor. Tartuffe reicht in dieser Szene Dorine ein Taschentuch mit den Worten: O Gott! Ich bitte Sie, sich dieses Taschentuch erst vorzustecken, wenn Sie mir etwas auszurichten haben!. Nachdem Dorine fragt: Wozu?, antwortet ihr Tartuffe mit den Worten: Um Ihres Busens Blöße zu bedecken, denn solche Teufelsdinge untergraben die Sittlichkeit und wecken sündige Gedanken.[7]
In Stendhals Die Kartause von Parma lässt Fabrizzio ein Sonett Petrarcas' auf ein seidenes Taschentuch drucken und schickt es vom Lago Maggiore aus an Clelia. Im 26. Kapitel trägt er ihr dann zwei Verse des Sonetts vor: Wie war ich glücklich damals, da die Welt Mich wähnt' im Unglück! Ach, wie hat sich doch Mein Los gewandt!.
Eine wichtige Rolle spielt ein Taschentuch auch in William Shakespeares Othello. Desdemona verliert ein Taschentuch, das ihr Othello geschenkt hat. Das Taschentuch wird für Othello ein Indiz für Desdemonas Untreue, als er es bei Cassio findet. Dieser hatte es unwissentlich von Jago zugesteckt bekommen. Othello erdrosselt und ersticht daraufhin Desdemona.
Taschentücher im Film
Im Film „Préparez vos mouchoirs“ von Bertrand Blier aus dem Jahr 1978 [8] dient ein Taschentuch zum Abtupfen von Tränen und gibt dem Film seinen Namen (Taschentuch auf französisch mouchoir).
Taschentuch von Cholet
Ein rotes Taschentuch ist das Symbol der Stadt Cholet im französischen Département Maine-et-Loire. Der Dichter Théodore Botrel sang 1900 zum ersten Mal sein Chanson Das Rote Taschentuch von Cholet (Originaltitel: Le Mouchoir rouge de Cholet).[9] Darin geht es um die gewonnen Schlacht von Cholet im Oktober 1793 während des Aufstandes der Vendée.[10] Der ortsässige Industrielle Léon Maret greift das Thema des Liedes auf und entwirft ein Rotes Taschentuch auf weißem Grund. Die Farbe rot soll dabei das Blut der Vendée Bewohner symbolisieren. Die Farbe weiß an die Royalisten erinnern. Das Taschentuch wurde damit in Cholet und in ganz Frankreich bekannt.[10]
Taschentücher in Musik und Tänzen
Das Lied Tie a Yellow Ribbon Round the Ole Oak Tree von Tony Orlando geht auf eine amerikanische Sage aus dem 19. Jahrhundert zurück. Ein Soldat aus Georgia schrieb während des Bürgerkrieges seiner Frau, sie solle ein gelbes Taschentuch an den Eichenbaum in der Dorfmitte binden, wenn ihre Liebe zu ihm noch da ist. Als er nach langer Gefangenschaft in seine Heimat in Georgia zurückkehrte, hing ein gelbes Taschentuch an jenem Baum. In den 1970er Jahren wurde diese Geschichte von amerikanischen Liedermachern aufgegriffen, und das von Tony Orlando gesungene Lied erzählt diese Geschichte. Dabei wurde das ursprüngliche gelbe Taschentuch durch eine gelbe Schleife ersetzt. Als Zeichen der Unterstützung für die US-Soldaten im Irak-Krieg und zur Erinnerung an die Vermissten banden 2003 zahlreiche Amerikaner gelbe Schleifen an Fenster und Türen.[11]
Bei verschiedenen Tänzen finden Taschentücher Anwendung. Im peruanischen Tanz Marinera halten beide Tänzer ein weißes Taschentuch in den Händen, die im Rhythmus bewegt werden. Dies ist beim Bolivianischen Tanz Cueca ebenso Brauch.
Auch bei den griechischen Tänzen Syrtos und Mantilatos halten die Tänzer Taschentücher in ihren Händen, um den Ausdruck des Tanzes zu verstärken.
Ebenso nutzen die Han-Chinesen neben Fächern und Stelzen auch Taschentücher beim Yangge, einem chinesischen Tanz.
Sonstiges
Das Taschentuch ist Namensgeber für den Taschentuchbaum, da die weißen Blüten wie Taschentücher in den Ästen liegen.
Zu den unter anderem von Krafft-Ebing in der Psychopathia sexualis beschriebenen Ausprägungen des sexuellen Fetischismus zählt der Taschentuchfetischismus.
In der Schwulenszene existierte der so genannte „Hanky code“ (vom englischen „hanky“ als Kurzform für Taschentuch) vermutlich als erstes. Inzwischen wird er auch von der BDSM-Szene und anderen verwendet. Ein Taschentuch wird sichtbar z. B. in der Gesäßtasche getragen und zeigt über Farbe, Art sowie Tasche, in der es getragen wird, die sexuellen Präferenzen des Trägers an.
Quellen
- ↑ a b c d e f g Ingrid Loschek: Accessoires. Symbolik und Geschichte. München 1993, S. 269 ff..
- ↑ Ingrid Loschek: Accessoires. Symbolik und Geschichte. München 1993, S. 276.
- ↑ a b c Norbert Elias: Über den Prozeß der Zivilisation. 3. Auflage. Bd. 1, 1977, S. 201 ff..
- ↑ Martin Beutelspacher aus „Menschen, Nasen, Taschentüchern“
- ↑ Brigitte Kronauer: Das Taschentuch. Klett-Cotta, Stuttgart 1994, ISBN 3-608-93220-8.
- ↑ John Saul: Das Taschentuch. Die Blackstone Chroniken Teil 4. Bastei Lübbe, Bergisch Gladbach 1998, ISBN 3-404-13990-9.
- ↑ Text Molières Tartuffe letzter Aufruf: 15.05.2007 9:34
- ↑ Préparez vos mouchoirs in der deutschen und englischen Version der Internet Movie Database
- ↑ Text Das Rote Taschentuch von Cholet (französisch) Abruf: 15.05.2007 11:53
- ↑ a b Geschichte des Liedes (französisch) Absatz vier, Abruf: 15.05.2007 11:53
- ↑ Das Band der Sympathie. (Webseite ; Stand: 2007-05-15).
Literatur
- Autorenkollektiv: Altpapier. VEB Fachbuchverlag, Leipzig 1979.
- Autorenkollektiv: Zellstoff – Papier. VEB Fachbuchverlag, Leipzig 1974.
- G. Donder-Langer, H. M. Zwergel: Menschen, Nasen, Taschentücher. Selbstverlag, Kassel 1998.
- Dt. Institut für Normung e. V. (Hrsg.): Papier, Pappe und Zellstoff. Beuth Verlag, Berlin 1991.
- Margarethe Braun-Ronsdorf: The history of the handkerchief. F. Lewis, Leigh-on-Sea 1967.
Weblinks
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