Arthur Orton

Arthur Orton

Der englische Baronet Sir Roger Tichborne (* 5. Januar 1829; † April 1854) war der älteste Sohn und Erbe Sir James Doughty-Tichbornes, des 10. Baronets.

Inhaltsverzeichnis

Leben

Die Tichbornes, schon vor der normannischen Eroberung in Tichborne, einem Dorf im südenglischen Hampshire ansässig, zählten zu den wenigen aristokratischen Familien, die an ihrem katholischen Glauben über die Reformation hinaus festgehalten hatten. Lady Tichborne war zur Hälfte Französin (sie stammte aus einer Nebenlinie der Bourbonen). Ihre Ehe mit Sir James verlief unglücklich, und sie hasste das Leben in England. Sie wollte, dass ihr Sohn Roger in Frankreich aufwächst, doch wurde er vom Vater nach Stonyhurst gesandt, einer damals bekannten und elitären, von Jesuiten geleiteten katholischen Public School. Nach einer kurzen Karriere in der Armee und einer unglücklichen Liebesaffäre mit seiner Cousine, Katherine Doughty, wollte Sir Roger nach Südamerika auswandern. Im April 1854 brach er auf der „Bella“ von Rio de Janeiro nach Kingston (Jamaica) auf. Das Schiff kam nie an; man vermutete, es sei untergegangen und es habe keine Überlebende gegeben.

Nach dem Tod

Lady Tichborne weigerte sich, den Tod des Sohnes zu akzeptieren. Sie glaubte Gerüchten, wonach ein anderes Schiff Überlebende der „Bella“ an Bord genommen und nach Australien gebracht habe. Nach dem Tod ihres Mannes 1862 begann sie, in Zeitungen zu inserieren, um Informationen über das Schicksal ihres Sohnes zu erhalten. Im Mai 1865 kam sie mit Arthur Cubitt in Kontakt, dem Besitzer einer australischen Agentur, die sich um Vermisste bemühte. Die Verbannung von Straftätern nach Australien war erst in den 1850er Jahren beendet worden, das Land war voller Menschen, die ihre Identität zu verbergen suchten. Lady Tichborne beauftragte die Agentur, nach ihrem Sohn zu suchen. Da es bei Sir Tichborne um ein jährliches Einkommen von 20.000 Pfund ging, war das geradezu eine Einladung für Hochstapler. Ein Metzger namens Arthur Orton (* 20. März 1834 in Wapping, London; † 1. April 1898) aus New South Wales erklärte alsbald, dass er in Wahrheit Roger Tichborne sei und den Untergang der „Bella“ überlebt habe.

Im Januar 1866 schrieb der „Anwärter“, wie er nun allgemein genannt wurde, seinen ersten Brief an Lady Tichborne. Es ähnelte den Schreibversuchen eines Analphabeten, wohingegen Roger Tichborne zwölf Jahre zuvor ein gebildeter Mann gewesen war. Dennoch: Als Orton nach Sydney kam, wollten einige den Anwärter als Roger Tichborne wiedererkennen, darunter ein alter schwarzer Diener der Familie Tichborne. Diejenigen, die ihm Glauben schenken wollten, maßen auch dem Umstand Bedeutung bei, dass er seine wahre Identität erst unter dem Druck des Agenten Cubitt und Gibbes, einem eingeschalteten Anwalt, preisgegeben habe.

Noch bevor Lady Tichborne das Geld für seine Überfahrt gesandt hatte, hatte sich der Anwärter mit Frau und Kindern nach England eingeschifft, wo er Weihnachten 1866 eintraf. Von dort reiste er nach Paris weiter, wo er Lady Tichborne traf, die ihn als ihren Sohn bestätigte. Sie starb im folgenden Jahr.

Nun machte die Geschichte Schlagzeilen. Sie wurde auf zahllosen Zeitungsseiten ausgebreitet und rief starke, aber zwiespältige Emotionen hervor. Die restliche Familie wies den Anwärter als Betrüger zurück, ohne ihn gesehen zu haben. Für viele spielten dabei materielle Interessen eine Rolle, bedrohte er doch ihre Erbansprüche.

Aber auch unabhängig davon wollten sie den ungehobelten und ungebildeten Gesellen aus dem australischen Outback nicht als Verwandten akzeptieren. Innerhalb von zwei Jahren nach seiner Ankunft in England wurde dieser 180 Kilogramm dick; der echte Roger Tichborne war dagegen ein schlanker, eleganter Mann gewesen. Gegner des Anwärters wiesen auch darauf hin, dass ihn außer seiner exzentrischen Mutter niemand aus der Tichborne-Familie wiedererkannt habe. Und seine Anhänger hätten ihn mittlerweile hinreichend über die Familiengeschichte informieren können, um die Aufrechterhaltung des Betrugs zu ermöglichen.

Der folgende Gerichtsprozess Orton/Tichborn erregte im England des 19. Jahrhunderts großes Aufsehen. Infolge der zahlreichen, weit hergeholten Schutz- und Belastungszeugen und der Winkelzüge der Advokaten zog er sich lange hin und kostete den Orton-Unterstützern rund 60.000 Englische Pfund, aber Orton wurde 1872 doch zum Betrüger erklärt und 1874 wegen doppelten Meineids zu 14 Jahren Zuchthaus verurteilt.

Meyers Konversationslexikon aus dem Jahr 1888 schrieb: „Obwohl bei den Gerichtsverhandlungen der Tichborne-Prätendent sich als dem Verschollenen ganz unähnlich, überdies roh und ungebildet erwies, wurde die Agitation für ihn auch nach seiner Verurteilung noch einige Zeit sowohl in Tichborne-Meetings und Zeitungsartikeln als auch im Parlament fortgesetzt. Als Orton aber 1884 aus dem Zuchthaus entlassen wurde, war das Interesse für ihn erloschen.“

Literatur

  • Robyn Annear: The Man Who Lost Himself, Constable and Robinson, 2003. ISBN 1841197998
  • Percival Serle: Orton, Arthur. In: Dictionary of Australian Biography. Angus and Robertson. Sydney 1949

Weblinks


Wikimedia Foundation.

Игры ⚽ Поможем сделать НИР

Schlagen Sie auch in anderen Wörterbüchern nach:

  • Arthur Orton — (20 March 1834 ndash;1 April 1898), was the Tichborne claimant of the Victorian era.Orton was born at Wapping, London the son of a butcher named George Orton. He left school early, was employed in his father s shop, and in 1848 was apprenticed to …   Wikipedia

  • ORTON, Arthur (1834-1898) — Tichborne claimant was born at Wapping, London, on 20 March 1834, the son of a butcher named George Orton. He left school early, was employed in his father s shop, and in 1848 was apprenticed to a Captain Brooks of the ship Ocean. The ship sailed …   Dictionary of Australian Biography

  • Arthur Anselm Pearson — Nacimiento 12 de abril de 1874 Londres Fallecimiento 13 de marzo de 1954 Residencia Inglaterra Nacionalidad …   Wikipedia Español

  • Arthur Russell (Sportler) — Arthur Russell (* 13. März 1886 in Walsall, West Midlands; † 23. August 1972 ebenda) war ein britischer Leichtathlet und Olympiasieger. Der aus Staffordshire stammende Russell wurde zwischen 1904 und 1906 dreimal hintereinander britischer Meister …   Deutsch Wikipedia

  • Arthur Russell (Leichtathlet) — Arthur Russell (* 13. März 1886 in Walsall, West Midlands; † 23. August 1972 ebenda) war ein britischer Leichtathlet und Olympiasieger. Der aus Staffordshire stammende Russell wurde zwischen 1904 und 1906 dreimal hintereinander britischer Meister …   Deutsch Wikipedia

  • Arthur Russell (athlète) — Arthur Russell (né le 13 mars 1886 et mort le 23 août 1972) est un athlète britannique spécialiste du steeple. Il remporte la médaille d or sur 3 200 m steeple lors des Jeux de Londres en 1908. v · 1896 (2500 m) :  …   Wikipédia en Français

  • Arthur Newton — Leichtathletik Gold …   Deutsch Wikipedia

  • Orton — /ˈɔtn/ (say awtn) noun 1. Arthur, 1834–98, Australian criminal, born in England; falsely claimed to be the lost son of a wealthy English woman, Lady Tichborne, and hence became known as the Tichborne claimant . 2. Joseph Rennard, 1795–1842,… …  

  • Joe Orton — Born John Kingsley Orton 1 January 1933(1933 01 01) Leicester, England Died 9 August 1967(1967 08 09) (aged 34) Islington, London, England John Kingsley ( Joe ) Orton (1 January 1933 – 9 August …   Wikipedia

  • Joe Orton — Joe Orton, cuyo nombre real era John Kingsley Orton, (Leicester, 1 de enero de 1933 Londres, 9 de agosto de 1967) fue un dramaturgo británico. En su corta pero prolífica carrera desde 1964 hasta su muerte, chocó, ultrajó y asombró a las… …   Wikipedia Español

Share the article and excerpts

Direct link
Do a right-click on the link above
and select “Copy Link”