- Nosce te ipsum
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Gnothi seauton (griechisch Γνῶθι σεαυτόν, transkribiert Gnōthi seautón, altgriechische Aussprache [ˈɡnɔ̂ːtʰi seau̯ˈtǒn]; auch Gnōthi sautón, Γνῶθι σαυτόν, „Erkenne dich selbst!“) ist eine viel zitierte Forderung im antiken griechischen Denken.
Von den Römern wurde sie als Nosce te ipsum ins Lateinische übernommen.
Inhaltsverzeichnis
Herkunft
Der erste Beleg für den Gedanken findet sich in einem Fragment des Philosophen Heraklit (DK 22 B 116): „Allen Menschen ist zuteil, sich selbst zu erkennen und verständig zu denken.“ Zweifel an der Authentizität des Fragments sind unbegründet.[1]
Der Spruch stand – neben den ebenfalls als apollinisch betrachteten Weisheiten (Ἐγγύα, πάρα δ᾽ ἄτα. „Bürgschaft, schon ist Schaden da!“) und Μηδὲν ἄγαν. (mēdèn ágān „Nichts im Übermaß“) – an einer Säule der Vorhalle des Apollontempels in Delphi.[2]
Als Urheber der Aufforderung zu menschlicher Selbsterkenntnis galt in der Antike der Gott Apollon selbst; strittig war aber, welcher Mensch den Spruch zuerst geäußert hat. Schon vor dem Beginn des 4. Jahrhunderts wurden die drei delphischen Sprüche auf die Sieben Weisen zurückgeführt.[3] Das Gnothi seauton wurde meist Chilon zugeteilt, aber auch Zuschreibung an Thales, Solon und Bias von Priene kam in der Antike vor.
Der Aristoteles-Schüler Theophrastos von Eresos bezeichnet den Spruch in seiner Schrift über die Sprichwörter als Sprichwort. Chamaileon ordnet ihn in seinem Buch über die Götter Thales zu. Hermippos schreibt in seinem ersten Buch über Aristoteles, dass ein Eunuche Labys in Delphi, der Tempelwächter im Heiligtum war, diesen Spruch geäußert habe. Klearchos behauptet, es sei ein Gebot des pythischen Apoll gewesen, das Chilon als Orakelspruch gegeben wurde, als er fragte, was die Menschen am ehesten lernen sollten. Aristoteles schreibt Gnothi seauton in seinem Dialog über Philosophie der Pythia zu. Auch Antisthenes behauptet, der Spruch stamme von Phemonoe, der ersten Pythia in Delphi, und Chilon habe ihn sich nur angemaßt.
Bedeutung
Die Forderung, sich selbst zu erkennen, zielte ursprünglich auf Einsicht in die Begrenztheit und Hinfälligkeit des Menschen (im Gegensatz zu den Göttern). Damit war sein Dasein als Gattungswesen gemeint; man dachte aber nicht nur an die Menschheit und an prinzipielle Grenzen des für den Menschen Erreichbaren, sondern der Spruch diente auch oft als Warnung vor der Überschätzung individueller Möglichkeiten. In zahlreichen Texten der griechischen Klassik findet sich die Deutung, dass sich der Mensch bewusst sein solle, sterblich, unvollkommen und begrenzt zu sein.[4] Für Platon rückt hingegen der Aspekt in den Vordergrund, dass der Mensch Wissen um das eigene Nichtwissen erlange.[5] Insgesamt steht das Bemühen um Selbsterkenntnis für Platon im Kontext des zentralen ethischen Projekts der Sorge um die Seele, d. h. um die eigene Tugend (aretē).[6]
Daneben taucht im Platonismus schon früh, nämlich bereits im 4. Jahrhundert v. Chr. in dem Platon zugeschriebenen Dialog Alkibiades I, eine andere Deutung des Gnothi seauton auf, die in die entgegengesetzte Richtung weist. Sie besagt, der Mensch solle sich als das erkennen, was er sei, nämlich eine den Körper bewohnende und gebrauchende unsterbliche und gottähnliche Seele. Dieses Verständnis der anzustrebenden Selbsterkenntnis hatte in der Antike eine beträchtliche Nachwirkung. In diesem Sinne äußerte Cicero in einem Brief an seinen Bruder Quintus, der Sinn des Spruches beschränke sich nicht darauf, die Anmaßung einzudämmen, sondern sei auch eine Aufforderung, das uns eigentümliche Gute (bona nostra) zu erkennen.[7]
Für die Ethik der Stoa ist die Forderung gnothi seauton von zentraler Bedeutung. Sie ist eingebettet in das Bestreben, in „Übereinstimmung mit der Natur zu leben“ (homologoumenōs tē physei zēn).
Siehe auch
Literatur
- Pierre Courcelle: Connais-toi toi-même de Socrate à Saint Bernard, Etudes Augustiniennes, 3 Bände, Paris 1974-1975
- Eliza Gregory Wilkins: The Delphic Maxims in Literature. Chicago 1929.
- Hermann Tränkle: Gnothi seauton. Zu Ursprung und Deutungsgeschichte des delphischen Spruchs. In: Würzburger Jahrbücher für die Altertumswissenschaft, Neue Folge. 11, 1985, S. 19–31.
Anmerkungen
- ↑ Serge N. Mouraviev: Heraclitea, Bd. 3.B.I, Sankt Augustin 2006, S. 295f.; Bd. 3.B.III, Sankt Augustin 2006, S. 136.
- ↑ Zur Frage nach der genauen Örtlichkeit siehe Tränkle S. 21.
- ↑ Tränkle S. 20.
- ↑ Tränkle S. 22-24.
- ↑ Platon, Apologie 23b.
- ↑ Christian Utzinger: gnothi sauton. In: Christoph Horn, Christof Rapp (Hrsg.): Wörterbuch der antiken Philosophie. München 2002, S. 173.
- ↑ Cicero: Ad Quintum fratrem 3.5.7.
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