- Nowgorodfahrergestühl
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Das Rigafahrergestühl (auch: Russe-, Russland-, fälschlich Nowgorod-)Fahrer-Gestühl) ist ein aus dem Mittelalter stammendes Reliefbild in der Stralsunder Nikolaikirche.
Im Seitenschiff der Kirche befindet sich an einer weiß getünchten Mauer das vierteilige, hölzerne, farblich gestaltete Relikt aus der vorreformatorischen Zeit. Das Gestühl war eines von 56 Altären der Stralsunder Nikolaikirche.
Die vier aus Eichenholz geschnitzten Tafeln waren Bestandteil des Altars der Stralsunder Kompanie der Rigafahrer; mittelalterlicher Händler, die hauptsächlich im Handel mit der Stadt Riga in Livland standen; dort kauften sie vornehmlich Pelze und Honig. Die Rigafahrer entwickelten sich als eigenständige Kompanie aus der Kompanie der Tuchhändler (Gewandschneider); sie sind sowohl in Schuldbüchern der Stadt Riga als auch in Urkunden und anderen Aufzeichnungen der Stadt Stralsund erwähnt. Die Kompanie nannte sich "St. Annen-Bruderschaft". Angefertigt wurde das Schnitzwerk wahrscheinlich in Stralsund um 1360 bis 1370. Es schmückte den Altar der Rigafahrer und war im Rücken der vier Vorstände der Kompanie angebracht. Die Darstellung der Handelstätigkeit zeugt auch vom Selbstbewusstsein der Händler.
Das Gestühl ist nahezu einmalig; es existieren kaum weitere Zeugnisse dieser Art. Auf den meisten Altargestühlen, die noch heute erhalten sind, wurden kirchliche Themen dargestellt; so zum Beispiel der Schutzheilige der Kompanie. Auf dem Rigafahrergestühl sind dagegen rein profane Themen zu sehen.
Inhaltsverzeichnis
Anfertigung
Das aus Eichenholz bestehende, farbig gefasste Relief wurde wahrscheinlich durch einen Stralsunder Künstler geschaffen. Es entstand um 1360 bis 1370. Urkundlich ist nicht belegt, wo es entstand, jedoch weisen einige Details auf eine Anfertigung vor Ort hin. Zum einen ist ein Transport einer derart großen Schnitzerei zur damaligen Zeit unwahrscheinlich, da die Rigafahrer dies ja auch zu Hause hätten anfertigen lassen können. Auch sind in der Darstellung selbst einige Details, die eine Ortsunkenntnis des Künstlers nahelegen: Die Blätter der Bäume sind zwar sehr fein ausgearbeitet, lassen sich aber keiner bekannten Baumart zuordnen. Zudem fand die Pelztierjagd im Winter statt; die mediterran anmutenden Bäume aber haben noch ihr volles Blattwerk. Auch die Darstellung der Stadt auf Tafel vier ist zwar sehr fein ausgeführt. Eine eindeutige Zuordnung zu einer Stadt ist aber nicht möglich, was bei einem Künstler mit Ortskenntnissen doch wahrscheinlich gewesen wäre.
Die Tafeln waren mit Stiften am Altar befestigt, was noch heute erkennbar ist.
Standort
Der Standort des Altars ist schwer zu bestimmen. In einem Visitationsprotokoll nach der Reformation wird die Nikolaikirche bis auf das südliche Seitenschiff beschrieben. Da der Altar der Rigafahrer im Protokoll fehlt, kann davon ausgegangen werden, dass es sich in eben diesem südlichen Seitenschiff befindet. In einer Quelle aus dem Jahr 1465 wird das Gestühl als "vor dem roden stole" stehend beschrieben; an der Rückwand der Tafeln ist ein Eisenoxydrot zu sehen. Daraus lässt sich tatsächlich schließen, dass das Gestühl an einer Säule stand, die heute die "bunte Säule" genannt wird. Eine Quelle aus der Mitte des 17. Jahrhunderts nennt einen Standort "mitten in der Diele", also im Mittelschiff der Kirche. Wilhelm Hagemeister orientiert sich bei seiner Darstellung an einem Standort an der Nordseite, auch Ernst von Haselberg übernimmt dies 1902. Allerdings ist dies unwahrscheinlich; hier steht heute die Buchholz-Orgel, und der Platz entspricht in keiner Weise den genannten Beschreibungen.
Künstlerische Bedeutung
Nach der Reformation, die in Stralsund mit einem großen Verlust an Kirchengegenständen verbunden war, blieben die Relieftafeln erhalten, wurden allerdings wohl anderweitig verwendet; so ist nachgewiesen, dass sie im Fußraum des Gestühls der Gewandhausaltermänner, die ihr Gestühl 1820 gemietet hatten, verwendet wurden. 1840 sind die vier Tafeln Bestandteil einer Gesamtaufnahme der Kircheneinrichtung von St. Nikolai durch einen Stralsunder namens Weinrauch im Zusammenhang mit dem Umbauten; hier wurden die Tafeln 1884 "wiederentdeckt". Erstmals wird nun die künstlerische Bedeutung der Tafeln anerkannt und eine Rettung angestrebt.
Die farbliche Darstellung der Handelstätigkeit ist nahezu einmalig. Aus diesem Grund werden die Tafeln nur hinter Glas gezeigt; nur sehr selten werden sie an Ausstellungen verliehen; die gute Erhaltung beruht vorwiegend auf den gleichbleibenden klimatischen Verhältnissen im Kirchenraum.
"Nowgorodfahrergestühl"
Der Name Nowgorodfahrergestühl entstand erst in den 1960er Jahren, als Paul Heinze mangels Betrachtung der vorliegenden Stralsunder Quellen (hier existierte nie eine Kompanie der Nowgorodfahrer) das damals Russlandfahrergestühl genannte Relief genauer einordnen wollte: Da der Nowgoroder Peterhof sehr bekannt war und im vergleichbaren Lübeck eine Kompanie der Nowgorodfahrer parallel zu den Rigafahrern bestand, kam es wohl zu dieser Verwechslung.
Die Darstellungen im Einzelnen
Drei der vier Tafeln zeigen Russen bei der Arbeit: Sie jagen Pelztiere und sammeln Honig und Harz. Die vierte Tafel zeigt den Handel zwischen Russen und den Stralsunder Kaufleuten.
Die ersten drei Tafeln (von links) zeigen Russen in ihren typischen Kitteln und mit gedrehten Bärten bei der Jagd nach den Pelztieren bzw. bei der Honig- und Harzgewinnung. Die Darstellung der Russen ist ebenfalls nahezu einmalig; es gibt hierzu wenige zeitgenössische Darstellungen. Es ist nicht nachvollziehbar, welche Bedeutung die unterschiedlich großen Hüte der Russen haben; möglicherweise handelt es sich um Jäger unterschiedlichen Ranges.
Die Pelztiere in den stilisiert dargestellten Baumkronen werden mit Pfeil und Bogen erlegt und von Hunden gestellt. Allerdings erfolgt die Jagd grundsätzlich im Winter; daher ist die Belaubung, die auch keinerlei Rückschlüsse auf bekannte Baumarten zulässt, unwahrscheinlich und wohl nur als Gestaltungselement zu verstehen.
Auf der vierten Tafel (der rechten) ist der Handel der Russen mit den Vertretern der Rigafahrer aus Stralsund zu sehen. Bedeutsam ist die Darstellung beider Gruppen auf gleicher Höhe; hier ist die Gleichbedeutung hervorgehoben. Im Hintergrund ist eine Stadt zu erkennen. Diese wurde aufgrund der Deutung des Reliefs als Nowgorodfahrergestühl als der Peterhof in Nowgorod gedeutet; allerdings haben Grabungen in Nowgorod ergeben, dass dieser Peterhof eine hölzerne Befestigung hatte; das Relief zeigt eine steinerne Mauer.
Zudem existierte in Stralsund keine Kompanie der Nowgorodfahrer; aber eine der Rigafahrer, die sich auch bereits vor der Zugehörigkeit Rigas zum russischen Zarenreich "Russefahrer" nannte. Es kann sich bei der Stadt daher durchaus um Riga in Livland handeln; die Häuser könnten Giebelhäuser sein und sogar eine Kirche mit Zwiebelturm ist deutbar.
Literatur
- Sabine Maria Weitzel: Diplomarbeit über die liturgische Ausstattung von St. Nikolai in Stralsund (noch nicht veröffentlicht)
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