Paschtunisches Alphabet

Paschtunisches Alphabet
Auszug aus einer 1651 im Nastaliq-Stil verfassten Kopie des Chair al-Bayān, dem ältesten bekannten Dokument in paschtunischer Schrift

Die paschtunische Schrift ist eine Buchstabenschrift zur Schreibung des Paschtu, einer zum ostiranischen Zweig der indoeuropäischen Sprachfamilie gehörenden, hauptsächlich in Afghanistan und Pakistan gesprochenen Sprache. Sie umfasst je nach Zählweise 40 bis 44 Buchstaben und basiert auf dem persischen Alphabet, welches wiederum eine modifizierte Form des arabischen Alphabets darstellt. Wie Arabisch ist Paschtunisch eine reine Kursivschrift und wird von rechts nach links geschrieben. Obwohl die paschtunische Sprache keine Standardvarietät besitzt, hat sich im Schriftgebrauch eine im gesamten Sprachraum weitgehend einheitliche Orthographie herausgebildet. Die Entstehung der Schrift fällt vermutlich mit den Anfängen der paschtunischen Literatur im 16. Jahrhundert zusammen, ihre genauen Ursprünge sind jedoch ungeklärt.

Inhaltsverzeichnis

Die Entwicklung der Schrift

Paschtu besitzt eine im Vergleich zu anderen kleineren südasiatischen Sprachen lange literarische Tradition.[1] Das älteste bekannte Dokument in paschtunischer Sprache ist eine auf den 6. September 1651 datierte Kopie eines Werkes des islamischen Mystikers Bāyazid Ansāri. Die Chair al-Bayān (‏خیرالبیان‎ – „Die beste Offenbarung“) betitelte Sammlung religiöser Verse ist in vier Sprachen geschrieben – neben Paschtu auch in Arabisch, Persisch und Pandschabi. Bāyazid verfasste das Chair al-Bayān etwa ein Jahrhundert zuvor und verwendete für die paschtunischen Abschnitte eine modifizierte arabische Schrift, die sich aber noch von der heutigen paschtunischen Schreibung unterschied.

Der paschtunische Staatsmann und Dichter Ahmad Schāh Abdāli

Ob sich Bāyazid beim Verfassen des Chair al-Bayān an bisher unentdeckten älteren Schriften orientierte oder ob er tatsächlich als erster die paschtunische Sprache verschriftlichte, ist nicht bekannt. Auf das vierzehnte Jahrhundert datierte Manuskripte in choresmischer Sprache weisen verwandte Schreibungen einiger ostiranischer Phoneme auf, was auf eine gemeinsame ältere Tradition beider Schriften hindeutet. Diese Hinweise konnten anhand der bekannten Manuskripte in paschtunischer Sprache jedoch nicht eindeutig bestätigt werden.

Dokumente, die in der Literatur bis zur Mitte des 20. Jahrhunderts gelegentlich als frühere Schriften genannt wurden und damit eine ältere Schrifttradition hätten belegen können, wurden nachträglich als Fälschungen oder Fehldatierungen eingestuft. Besondere negative Berühmtheit erlangte das Pata Chazāna (‏پټه خزانه‎ – „Der versteckte Schatz“), das der afghanische Literaturwissenschaftler Abdul Hay Habibi 1944 in Kandahar behauptete entdeckt zu haben. Die Schrift enthält eine angeblich im Jahr 1729 verfasste Anthologie der paschtunischen Dichtung, in der Werke bisher unbekannter Dichter zusammengestellt sind, die bis in das achte Jahrhundert zurückgehen. Das gesamte Manuskript sowie die darin kolportierten älteren Schriften werden in der Iranistik als Fälschung klassifiziert.[2]

Die nicht in erster Linie religiöse paschtunische Literatur reicht zurück bis zum Anfang des 17. Jahrhundert und wurde vom Clan der Chattaks begründet, dessen bedeutendster Vertreter der Dichter Chuschhāl Chān Chattak war.[3] Obwohl den Chattaks Bāyazids ältere Schriften vermutlich bekannt waren, adaptierten sie unabhängig von ihm das persische Alphabet und passten es an das paschtunische Phonemsystem an. Die Chattaks werden häufig als Begründer der modernen paschtunischen Schrift genannt, das von ihnen geschaffene Schreibsystem stand wie Bāyazids Alphabet aber nicht in Übereinstimmung mit der heute verwendeten Orthographie. Ihr Clan war im Nordosten des paschtunischen Sprachgebietes beheimatet, sie sprachen jedoch vermutlich eine dem heutigen südwestlichen Dialekt von Kandahar ähnliche eigene Färbung und bauten darauf ihr Schriftsystem auf. Dies wird als mögliche Erklärung dafür angeführt, dass die paschtunische Schrift bis heute besser an die südwestlichen Dialekte als an die nördlichen und östlichen Varietäten angepasst ist.[4][5]

Der Beginn des Gedichtes Ka za na wāy von Chuschhāl Chān Chattak in moderner Nasch-Schrift

Die weitgehend einheitliche moderne Orthographie lässt sich bis ins 18. Jahrhundert zurückverfolgen. Das früheste bekannte Dokument, das in dieser Orthographie verfasst wurde, ist eine aus Peschawar stammende Kopie eines Diwan von Ahmad Schāh Abdāli aus dem Jahr 1750. Zu welcher Zeit und unter welchen Umständen sich dieses heute oft als Standardorthographie bezeichnete Schreibsystem herausgebildet hat, wird immer noch kontrovers diskutiert.[6]

Zu weiteren Modifikationen, die die Konsistenz der Schreibungen erhöhen sollten, kam es im Jahr 1936, als Paschtu den Status einer Amtssprache Afghanistans erlangte. Zu den wichtigsten Änderungen gehörte dabei die Einführung von zwei neuen Buchstaben, die sich in der Folge nicht nur in Afghanistan, sondern auch in Pakistan weitgehend durchsetzten.[7] Als Schreibstil hat sich seit dem Ende des 19. Jahrhunderts nicht nur im Druck, sondern auch in Handschriften die arabische Nasch-Schrift durchgesetzt, obgleich in den Anfängen der paschtunischen Schrift einige Autoren wie Bayāzid mit dem persischen Alphabet auch den persischen Nastaliq-Schreibstil übernahmen.[8]

Die Buchstaben des Alphabets

Das paschtunische Alphabet baut auf dem persisch-arabischen Alphabet auf, das im paschtunischen Sprachgebiet durch die Stellung des Persischen als Verkehrssprache und vorherrschende Schriftsprache weit verbreitet war. Wie in vielen Schriftsystemen, die auf dem arabischen Alphabet basieren, wurden ausschließlich arabische Laute repräsentierende Buchstaben aus Respekt vor der heiligen Schrift des Korans nicht umgewidmet. Stattdessen wurde das persisch-arabische Alphabet weitgehend unverändert übernommen und zur Schreibung von spezifisch paschtunischen Phonemen wurden neue modifizierte Buchstaben der Schrift hinzugefügt.

Die vier retroflexen Konsonanten

Insgesamt wurde das Alphabet gegenüber dem arabischen Grundalphabet um 16 Buchstaben erweitert, wovon vier bereits in der persischen Schrift enthalten sind. Acht der zusätzlichen Buchstaben werden ausschließlich in der paschtunischen Schrift verwendet, um die weder im Arabischen noch im Persischen existierenden Phoneme darzustellen. Vier der neu geschaffenen Buchstaben repräsentieren die für das Paschtunische typischen retroflexen Laute und wurden durch die Hinzufügung eines kleinen Kreises, des sogenannten Pandak, von bereits existierenden Buchstaben abgeleitet. Dem retroflexen Nasal wurde erst 1936 mit der afghanischen Schriftreform ein eigener Buchstabe zugeordnet. Zuvor wurde der Laut durch den Digraphen نړ repräsentiert, der sich aus den Buchstaben Nun und Rre zusammensetzte. Die übrigen retroflexen Buchstaben werden hingegen bereits seit der Vereinheitlichung der Schrift im 18. Jahrhundert verwendet.

Die Buchstaben Dze und Tse zur Schreibung der alveolaren Affrikaten
Zwei Buchstaben repräsentieren dialektabhängig unterschiedliche Konsonanten

Die Buchstaben Dze und Tse wurden zur Schreibung der beiden alveolaren Affrikaten eingeführt. Ursprünglich wurden sowohl die stimmhafte als auch die stimmlose Affrikate durch das gleiche Schriftzeichen repräsentiert, das vom arabischen Dschim durch die Hinzufügung von drei Punkten abgeleitet wurde. Eine schriftliche Differenzierung der beiden Laute erfolgte erst mit der Reform 1936. Dabei wurden zur Darstellung der stimmhaften Affrikate die drei Punkte durch ein Hamza-Zeichen ersetzt. Die beiden übrigen neu geschaffenen paschtunischen Buchstaben Ssin und Zze werden durch jeweils einen Punkt oberhalb und unterhalb der arabischen Grundform geschrieben. Sie sind durch eine extrem dialektabhängige Aussprache gekennzeichnet und werden daher in einigen Regionen Xin und Ge genannt. Diese Dialektabhängigkeit betrifft in geringerem Maße auch die Aussprache der Buchstaben Dze und Tse.

Außerdem gibt es zusätzliche modifizierte Formen des arabischen Je (‏ي‎), um die für die paschtunische Grammatik wichtigen Vokalauslaute zu differenzieren. Darüber hinaus wurde die Schreibweise einiger Buchstaben im Vergleich zum Arabischen leicht modifiziert. Es gibt keinen Konsens in der Literatur, inwieweit die insgesamt fünf Varianten des Je eigenständige Buchstaben darstellen, so dass die Anzahl der Buchstaben des paschtunischen Alphabets je nach Sichtweise mit 40 bis 44 angegeben wird.

Wie alle arabisch-basierten Schriften ist Paschtunisch eine Kursivschrift, die Buchstaben werden sowohl im Druck als auch in der Handschrift mit dem nachfolgenden Zeichen verbunden. Die Buchstaben treten daher in vier Formen – Initial-, Medial-, Final- und isolierter Form – auf, abhängig davon, ob sie am Anfang, in der Mitte oder am Ende eines Wortes beziehungsweise einzeln stehen. Zehn Buchstaben können nicht nach links verbunden werden und besitzen deshalb keine Initial- und Medialform.

Das Alphabet

Die Einordnung der zusätzlichen Buchstaben in das persisch-arabische Alphabet ist in der Literatur weitgehend einheitlich, lediglich bei der Reihenfolge innerhalb der auf die Grundform des Dschim (‏ج‎) aufbauenden Gruppe gibt es leichte Abweichungen. Die Reihenfolge des hier tabellarisch dargestellten Alphabets folgt dem Pashto to Pashto Descriptive Dictionary der Abteilung für Linguistik der Afghanischen Akademie der Wissenschaften, dem maßgeblichen Standardnachschlagewerk der paschtunischen Sprache. Die in der Tabelle angegebene Aussprache orientiert sich am südwestlichen Dialekt des Paschtunischen, des sogenannten Kandahari, das meist als der geschriebene Standardsprache zu Grunde liegend angenommen wird.[9]

Name Aussprache Transliteration
nach RAK
Lautschrift Isoliert Final Medial Initial Anmerkungen
Alif langes offenes a ā [ɒ] ا/آ (a) ـا - -
Be b b [b] ب ـب ـبـ بـ
Pe p p [p] پ ـپ ـپـ پـ persischer Buchstabe
Te t t [t] ت ـت ـتـ تـ
Tte retroflexes t ť [ʈ] ټ ـټ ـټـ ټـ paschtunischer Buchstabe
Se stimmloses s [s] ث ـث ـثـ ثـ nur in Lehnwörtern
Dschim stimmhaftes dsch ǧ [] ج ـج ـجـ جـ
Tsche stimmloses tsch č [] چ ـچ ـچـ چـ persischer Buchstabe
Dze stimmhaftes dz(d) c [dz](d) ځ ـځ ـځـ ځـ paschtunischer Buchstabe
Tse stimmloses ts(d) ć [ts](d) څ ـڅ ـڅـ څـ paschtunischer Buchstabe
He h, zwischen h und ch(e) [h,ħ](e) ح ـح ـحـ حـ nur in Lehnwörtern
Che ch wie in Bach [x] خ ـخ ـخـ خـ
Dāl d d [d] د ـد - -
Ddāl retroflexes d ď [ɖ] ډ ـډ - - paschtunischer Buchstabe
Zāl stimmhaftes s [z] ذ ـذ - - nur in Lehnwörtern
Re gerolltes r r [r] ـﺭ - -
Rre retroflexes gerolltes r ŕ [ɽ] ړ ـړ - - paschtunischer Buchstabe
Ze stimmhaftes s z [z] ـﺯ - -
Že j wie in Journal ž [ʒ] ژ ـژ - - persischer Buchstabe
Zze, Ge retroflexes j wie in Journal(d) ẓ̌ [ʐ](d) ږ ـږ - - paschtunischer Buchstabe
Sin stimmloses s s [s] ـس ـسـ سـ
Schin sch š [ʃ] ـش ـشـ شـ
Ssin, Xin retroflexes sch(d) ś [ʂ](d) ښ ـښ ـښـ ښـ paschtunischer Buchstabe
Swād stimmloses s [s] ص ـص ـصـ صـ nur in Lehnwörtern
Zwād stimmhaftes s [z] ـض ـضـ ضـ nur in Lehnwörtern
Twe t [t] ـﻁ ـﻁـ ﻁـ nur in Lehnwörtern
Zwe stimmhaftes s [z] ـظ ـظـ ظـ nur in Lehnwörtern
Ayn Knacklaut vor Vokalen ʿ [ʔ] ـع ـعـ عـ nur in Lehnwörtern
Ghayn ähnlich dem dt. Gaumen-r ġ [ɣ] غ ـغ ـغـ غـ
Fe p, f(e) f [p,f](e) ف ـف ـفـ فـ nur in Lehnwörtern
Qaf k, harter Kehllaut(e) q [k,q](e) ق ـق ـقـ قـ nur in Lehnwörtern
Kaf k k [k] ک ـک ـكـ كـ persische Schreibweise
Gāf g g [g] ګ ـګ ـګـ ګـ persischer Buchstabe
Lām l l [l] ل ـل ـلـ لـ
Mim m m [m] م ـم ـمـ مـ
Nun n n [n] ن ـن ـنـ نـ
Nur retroflexes n [ɳ] ڼ ـڼ ـڼـ ڼـ paschtunischer Buchstabe
Wāw englisches w, u, o w [w, u, o] و ـو - -
He h, a h [h, -a] ه ـه ـهـ هـ
Je j, -ai y [j, -ay] ى ـى ـيـ يـ
Sachta Je langes i ī [i] ي ـي ـيـ يـ
Pasta Je langes e ē [e] ې ـې ـېـ ېـ
Schadzina Je ei ey [-əy] ۍ ـۍ - -
Fe'li Je ei ey [-əy] ـئ - -
(a) Am Wortanfang wird das lange a durch ein Alif mit aufgesetztem Madda repräsentiert, ein einfaches einleitendes Alif hat keinen eigenen Lautwert.
(d) Die Aussprache von vier Konsonanten ist sehr dialektabhängig, der angegebene Lautwert entspricht dem Kandahari-Dialekt.
(e) Bei den drei eleganten Phonemen ist zuerst die normale, danach die gehobene Aussprache angegeben.

Typographie

Das persische Gaf zur Schreibung des g-Lautes wird üblicherweise in einer dem Paschtunischen eigenen Variante ‏ګ‎ verwendet, gelegentlich wird aber die ursprüngliche persische Form ‏گ‎ beibehalten. Für das Kaf wird statt der persischen Schreibweise ‏ک‎ oft auch das arabische Zeichen ‏ك‎ verwendet. Die Buchstaben Lam ‏ل und Alif ‏ا werden üblicherweise zur auch im Persischen und Arabischen existierenden Ligaturلا‎ verbunden. Ein auf ein Lam folgendes Mim ‏م wird außerdem durch eine speziell paschtunische Ligatur dargestellt. Die übrigen Ligaturen der arabischen oder persischen Schrift werden jedoch nicht verwendet. Dies verursacht oft Probleme bei der Verwendung von Computerschriften, da diese meist von Nicht-Paschtu-Sprechern auf der Basis von arabischen und persischen Schriften entwickelt werden und persisch-arabische Ligaturen automatisch einfügen.

Vokalisation

Die vier paschtunischen Vokalisierungszeichen von rechts nach links: Fatha, Kasra, Damma und Zwarakay

Zur Anzeige von kurzen Vokalen wurde das diakritische System, das im Arabischen im Koran sowie gelegentlich in anderen Zusammenhängen wie in Lehrbüchern und zur Schreibung von Lehnwörtern zur Anwendung kommt, übernommen und um ein viertes Vokalzeichen erweitert. Das sogenannte Zwarakay ist ein waagrechter Strich über dem Buchstaben und kennzeichnet ein kurzes e, das sogenannte Schwa [ə]. Die Vokalisierungszeichen werden allerdings im Paschtunischen noch seltener als im Arabischen verwendet.[10]

Außerdem werden die ursprünglich Konsonanten repräsentierenden Buchstaben Alif, Wāw und Je sowie das unbehauchte He auch zur Schreibung von Vokallauten verwendet. Afghanische Sprachwissenschaftler bezeichnen sie daher als Hilfsbuchstaben (‏ امدادي حروف‎, imdādi huruf).[11] Angelehnt an die arabische Orthographie repräsentieren Alif, Waw und Je lange Vokale und Diphthonge, während das He zur Schreibung von kurzen Vokalauslauten verwendet wird, die nicht durch diakritische Zeichen gekennzeichnet werden können. Diese unterschiedliche Schreibung von Kurz- und Langvokalen wird anders als im Arabischen nicht immer einheitlich angewendet. So werden auch kurz ausgesprochene Vokale zunehmend mit Hilfe der Buchstaben Wāw und Je geschrieben.[12]

Im Gegensatz zum Wāw und Je ist die Konsonantenfunktion des Alif nur im Schriftbild erkennbar: Ein einfaches Alif am Wortanfang dient als Trägerzeichen ohne eigenen Lautwert für drei der – praktisch nie ausgeschriebenen – Vokalisierungszeichen; das Zwarakay kommt am Wortanfang nicht vor. Außerdem steht es am Wortbeginn als Dummybuchstabe dem Waw und Je voran, wenn diese lange Vokale repräsentieren. Dieses stumme Alif ist lediglich eine aus dem Arabischen übernommene orthograhische Konvention, da der dem Alif im Arabischen und Persischen zugeordnete konsonantische Lautwert des Glottisschlags im Paschtunischen nicht existiert. Ist das Alif am Wortanfang nicht stumm, sondern repräsentiert den langen Vokal ā, so wird es durch ein aufgesetztes Madda gekennzeichnet. Das Alif Madda wird wie im Arabischen als Ligatur aus zwei aufeinanderfolgenden Alifs erklärt.[13]

Die Varianten des Je

Die fünf Formen des Je von rechts nach links: Persisches Je, Arabisches Je, Madschhula Je, Schadzina Je, Fe'li Je

Das paschtunische Alphabet enthält insgesamt fünf Buchstaben, die auf der Form des arabischen Je aufbauen und mit Ausnahme des j-Lautes im allgemeinen Vokale repräsentieren. Die Vokalintonation im Paschtunischen ist allerdings sehr dialektabhängig, so dass die angegebenen Lautwerte nur Annäherungen an die tatsächliche Aussprache darstellen.

Mit dem persischen Alphabet wurde auch die persische Variante des Je ohne die beiden diakritischen Punkte in der Finalstellung übernommen. Die ursprüngliche arabische Form wird ebenfalls verwendet und oft als Sachta Je (‏سخته يې‎ – „hartes Je“) bezeichnet. Dabei übernimmt das einfache persische Je meist eine Konsonantenfunktion mit dem Lautwert [j], während das arabische Je den langen Vokal [i] repräsentiert. Diese Abgrenzung ist jedoch keineswegs einheitlich, oft werden die beiden Formen austauschbar verwendet. In der Initial- und Medialform sind sie ohnehin ununterscheidbar.

Drei eigene paschtunische Varianten wurden geschaffen, um die Schreibung der für die paschtunische Grammatik wichtigen Endungen -[e] und -[əy] zu ermöglichen. Das lange [e] wird durch ein Je mit zwei übereinander- statt nebeneinandergesetzten diakritischen Punkten repräsentiert. Dieser Buchstabe wird meist Madschhula Je (‏مجهوله يې‎ – „unbekanntes Je“) genannt, da er in anderen arabisch-basierten Schriften nicht vorkommt. Daneben wird auch der Begriff Pasta Je (‏پسته يې‎ – „weiches Je“) verwendet, um es von dem das lange i repräsentierenden Sachta Je zu unterscheiden. Die beiden übrigen Formen übernehmen sehr spezielle Funktionen: Ein Je mit einem zusätzlichen nach unten gerichteten Strich wird benutzt, um die Endung [-əy] bestimmter femininer Nomen zu schreiben. Dieser Buchstabe wird daher Ṣchadzina Je (‏ښځينه يې‎ – „feminines Je“) genannt. Für die ähnlich ausgesprochene Endung von Verben in der 2. Person Plural wird dagegen für beide Genera ein Je mit aufgesetztem Hamza-Zeichen verwendet, das sogenannte Fe'li Je (‏فعلي يې‎ – „verbales Je“).

Durch die Hinzufügung der verschiedenen Je-Varianten gibt es in der paschtunischen Schrift deutlich mehr Möglichkeiten zur Ausschreibung von Vokalen als im Arabischen oder Persischen. Dies wird verstärkt durch die Tendenz, das Wāw und das Sachta Je entgegen der traditionellen Orthographie auch zur Schreibung von kurzen Vokalen zu verwenden.

Abweichende Schreibweisen der Vokalauslaute

In Pakistan, besonders in der Region Peschawar, gibt es gelegentlich Abweichungen in der Schreibung einiger Finalvokale. Diese Schreibungen werden daher manchmal als Peschawar-Orthographie bezeichnet. Zur Schreibung des langen e wird dabei an Stelle des Pasta Je das dem Urdu-Alphabet entlehnte Bari Je (‏ے‎) verwendet. Außerdem wird das unbehauchte He in Fällen, in denen es anstelle des Konsonanten h einen kurzen Vokalauslaut repräsentiert, durch ein aufgesetztes Hamza-Zeichen (‏ۀ‎) gekennzeichnet. Seltener werden auch Ṣchadzina Je und Fe'li Je durch ein Bari Je mit aufgesetztem Hamza (‏ۓ‎) ersetzt.

Geliehene und elegante Phoneme

Zehn der 44 Buchstaben repräsentieren dem Paschtunischen fremde Laute und erscheinen ausschließlich in arabischen oder persischen Lehnwörtern. Sie werden daher arabische Buchstaben (‏ عربی حروف‎, arabi huruf) oder geliehene Laute genannt, die übrigen 34 Schriftzeichen dagegen als Basislaute (‏اصلي آوازونه‎, asli āwāzuna) oder wahre Buchstaben (‏صحیح حروف‎, sahih huruf) bezeichnet.[14] Viele gebildete Paschtunen versuchen, drei der geliehenen Buchstaben – Ḥe ‏ح, Fe ‏ف und Qaf ‏ق – entsprechend ihrem ursprünglichen Lautwert im Arabischen auszusprechen. Von den meisten Sprechern wird ihr Lautwert aber einfach durch vertraute paschtunische Phoneme substituiert. Diese drei Laute werden daher auch als elegante Phoneme bezeichnet. Die verbleibenden sieben geliehenen Schriftzeichen sind lediglich Allographen und repräsentieren im Paschtunischen keine zusätzlichen Phoneme. Ihre Aussprache erfolgt mit der nächsten paschtunischen Entsprechung des ursprünglichen arabischen Lautwertes. Dies führt zu einer Überrepräsentativität der paschtunischen Schrift. So gibt es je nach Dialekt vier bis sechs Buchstaben mit dem Lautwert [s] und drei oder vier Buchstaben mit dem Lautwert [z].

Der Sprachwissenschaftler Herbert Penzl bezeichnete die gehobene Aussprache der eleganten Phoneme als hyperurbanism, als buchstabengetreue Aussprache, die vor dem Hintergrund der niedrigen Alphabetisierung der paschtunischsprachigen Gebiete lediglich die eigene Beherrschung der Schriftsprache hervorheben soll.[15]

Häufigkeit der Buchstaben

Relative Häufigkeit der Buchstaben

Im Jahr 2007 wurde unter Federführung des afghanischen Kommunikationsministeriums erstmals eine Häufigkeitsanalyse der Buchstaben des paschtunischen Alphabets durchgeführt. Die Genauigkeit der Ergebnisse wurde allerdings beschränkt durch die uneinheitlichen Schreibweisen einzelner Buchstaben sowie den begrenzten und unausgewogenen zur Verfügung stehenden Textkorpus. Der am meisten verwendete Buchstabe des paschtunischen Alphabets ist demnach mit einer relativen Häufigkeit von etwa 12 % das Waw, gefolgt vom Alif mit etwa 10 %, dem unbehauchte He mit 8,5 % und der arabischen Form des Je mit knapp 8 % relativer Häufigkeit. Fasst man allerdings alle fünf Varianten des Je zusammen, so stellt dieses mit 16,5 % das am häufigsten benutzte Schriftzeichen dar. Mit gut 1 % relativer Häufigkeit ist der meistverwendete rein paschtunische Buchstabe das retroflexe Rre.[16]

Die Kontroverse um den Ursprung der modernen Orthographie

Die Aussprache des Paschtu ist regional sowie stammesabhängig sehr differenziert, eine Standardvarietät existiert nicht. Doch trotz der Vielfalt sehr unterschiedlicher, bislang nicht vollständig erforschter Dialekte gibt es eine weitgehend einheitliche Orthographie, die das Phoneminventar in der Region Kandahar nachvollzieht:

“The standard Pashto orthography follows the phonemic distinctions as found in the Kandahar dialect. Even the speakers of dialects where the number [of] phonemes differs from the Kandahar dialect use this standard orthography when they write. Even in their dialect, e.g., as in Peshawar, zz has coalesced with g, ss with kh, dz with z, ts with s, they accept the Kandahar orthography as standard and try to make its phonemic distinctions in writing.”

„Die Standorthographie des Paschtunischen folgt den phonemischen Differenzierungen, wie sie im Dialekt Kandahars vorkommen. Sogar Sprecher von Dialekten, deren Phonemzahl vom Kandahardialekt abweicht, verwenden beim Schreiben diese Standardorthographie. Selbst wenn in ihrem Dialekt, wie beispielsweise in dem Peschawars, zz und g, ss und kh, dz and z sowie ts und s zusammengefallen sind, erkennen sie die Kandahar-Orthographie als Standard an und versuchen beim Schreiben deren Lautabgrenzungen nachzuvollziehen.“

Herbert Penzl: Standard Pashto and the Dialects of Pashto[17]

Eine solche Standardorthographie wird dadurch ermöglicht, dass sich die paschtunischen Dialekte kaum morphologisch, sondern lediglich phonetisch unterscheiden.[18] Daher werden die verschiedenen Varietäten zumeist anhand der Aussprache der einzelnen Buchstaben klassifiziert. Umgekehrt wurde versucht, mittels Abgleich der Orthographie mit den verschiedenen Dialekten auf die Entstehungsgeschichte der paschtunischen Schrift zu schließen. Eine herausgehobene Rolle spielen dabei die vier Konsonanten Tse ‏څ‎, Dze ‏ځ‎, Ssin ‏ښ‎ und Zze ‏ږ‎, deren regionale Lautverschiebung besonders ausgeprägt ist. Die dargestellte Einteilung der Aussprachen in vier grundlegende Dialekte folgt dem Iranisten David Neil MacKenzie und wurde auch durch Michael M. T. Henderson und Oktor Skjærvøund vertreten.[19]

Die Verbreitung der paschtunischen Dialekte nach Henderson
Buchstabe Aussprache
Südwestlich
(Kandahar)
Südöstlich
(Quetta)
Nordwestlich
(Dschalalabad)
Nordöstlich
(Peschawar)
څ
[ts] [ts] [s] [s]
ځ
[dz] [dz] [z] [z]
ښ
[ʂ] [ʃ] [ç] [x]
ږ
[ʐ] [ʒ] [j] [g]

Die unterschiedlichen Aussprachen des Ssin ‏ښ‎ sind neben dem Fehlen eines standardisierten Transliterationssystems der Grund für die Vielfalt lateinischer Umschriften für das Wort Paschtu (‏پښتو‎): Die Kandaharis sprechen [pəʂto], die Einwohner von Quetta unterhalten sich auf [pəʃto], die im Nordwesten des Sprachgebietes lebenden Paschtunen auf [pəçto], während in Peschawar [paxto] gesprochen wird.[20] In nichtwissenschaftlicher Umschrift entsprechen diese Aussprachen so unterschiedlichen Schreibweisen wie Paschto, Pachto, Paxto oder – ans Englische angelehnt – Pukhto.

Anhand der Ausspracheverschiebungen der vier Buchstaben lässt sich die Korrespondenz von Schrift und südwestlichem Dialekt nachvollziehen: Während im Kandahari-Dialekt alle vier Buchstaben Laute repräsentieren, die sowohl dem Arabischen als auch dem Persischen fremd sind, werden die den Zeichen in den nordöstlichen Varietäten zugeordneten Phoneme bereits vollständig durch das persisch-arabische Alphabet abgedeckt. Diese Korrespondenz gilt als wichtigster Hinweis auf einen Ursprung der paschtunischen Schrift in der Region Kandahar.[21]

Der norwegische Linguist Georg Morgenstierne wendete allerdings ein, dass im 16. Jahrhundert die Differenzierung der Laute auch in den nordöstlichen Dialekten vermutlich noch vorhanden gewesen sei.[22] Neil MacKenzie verwies außerdem auf die abweichende Orthographie des ältesten Paschtu-Dokuments von Bāyazid Ansāri, die sich bis Ende des 17. Jahrhunderts auch in anderen in paschtunischen Schriften nachweisen lasse, sowie auf eine Schreibung der Vokale in der modernen Orthographie, insbesondere der Finaldiphthonge, die eher mit der nordöstlichen als der südwestlichen Phonetik korrespondiere.

MacKenzie postulierte daher eine bis zum 18. Jahrhundert gesprochene Standardvarietät des Paschtunischen, welche das südwestliche Konsonantensystem mit der Vokalphonetik der nordöstlichen Dialekte verbunden habe. Diese von ihm Standardpaschtu genannte Varietät, aus der sich später die heutigen Dialekte entwickelt haben sollen, vermutet er als Grundlage der paschtunischen Schrift im 17. Jahrhundert.[23] Letztlich konnten Ursprung und Entwicklung der paschtunischen Orthographie jedoch nicht geklärt werden, da historische Quellen in paschtunischer Sprache weder alt genug sind noch in hinreichender Zahl zur Verfügung stehen.[24][25]

Weiterführende Literatur

  • Herbert Penzl: Orthography and Phonemes in Pashto (Afghan). In: Journal of the American Oriental Society, Vol. 74, No. 2, 1954, S. 74-81.
  • David Neil MacKenzie: The Development of the Pashto Script. In: B. Comrie (Hrsg.): Languages and Scripts of Central Asia. Croom Helm, London 1987, S. 137–143

Einzelnachweise

  1. Annemarie Schimmel: Islam in the Indian Subcontinent. Brill 1980, ISBN 9004061177, S. 146 f
  2. David Neil MacKenzie: The Development of the Pashto Script. In: B. Comrie (Hrsg.): Languages and Scripts of Central Asia. Croom Helm, London 1987, S. 138 ff
  3. Annemarie Schimmel, Corinne Attwood, Burzine K. Waghmar: The Empire of the Great Mughals: History, Art and Culture. Reaktion Books 2004, ISBN 1861891857, S. 250 f
  4. David Neil MacKenzie: The Development of the Pashto Script. In: B. Comrie (Hrsg.): Languages and Scripts of Central Asia. Croom Helm, London 1987, S. 140 f
  5. Habibullah Tegey, Barbara Robson: A Reference Grammar of Pashto. Center for Applied Linguistics, Washington, DC 1996, S. 39
  6. David Neil MacKenzie: The Development of the Pashto Script. In: B. Comrie (Hrsg.): Languages and Scripts of Central Asia. Croom Helm, London 1987, S. 140
  7. David Neil MacKenzie: The Development of the Pashto Script. In: B. Comrie (Hrsg.): Languages and Scripts of Central Asia. Croom Helm, London 1987, S. 138
  8. George Cardona, Dhanesh Jain: The Indo-Aryan Languages. Routledge, 2007, ISBN 041577294X, S. 58
  9. Alan S. Kaye, Peter T. Daniels: Phonologies of Asia and Africa. Eisenbrauns 1997, ISBN 1575060191, 9781575060194, S. 739
  10. Habibullah Tegey, Barbara Robson: A Reference Grammar of Pashto. Center for Applied Linguistics, Washington, DC 1996, S. 37
  11. Sadiqullah Rishtin: De Passtoo Keli. Band 6, Kabul 1326 (1947) S. 1. f (In Paschtu)
    Sadiqullah Rishtin: De Passtoo Ishtiqaaquna aw Terkibuna. Kabul 1327 (1948), S. 3 (In Paschtu)
    Abdul Hay Habibi: De Passtoo Adabiaatu Taarikh. Band 1, Kabul 1325 (1946), S. 112 f (In Paschtu)
  12. Herbert Penzl: Orthography and Phonemes in Pashto (Afghan). In: Journal of the American Oriental Society, Vol. 74, No. 2, 1954, S. 77
  13. Abdul Hay Habibi: De Passtoo Adabiaatu Taarikh. Band 1, Kabul 1325 (1946), S. 113 (In Paschtu)
  14. Muhammad 'Azam Ayaazi: De Passtoo Qawaa'id. Kabul 1324 (1945), S. 1 f (In Paschtu)
    Sadiqullah Rishtin: Passtoo Graamar dzhuz i awal. Kabul, Qaws 1327 (December 1948), S. 4-10 (In Persisch)
    Abdul Hay Habibi: De Passtoo Adabiaatu Taarikh. Band 1, Kabul 1325 (1946), S. 116 (In Paschtu)
  15. Herbert Penzl: Orthography and Phonemes in Pashto (Afghan). In: Journal of the American Oriental Society, Vol. 74, No. 2, 1954, S. 81.
  16. Habiburahman Najiullah, Hameedullah Sherani: Research Report on Pashto Keyboard Layouts. Pan Asia Localization/Afghan Ministry of Communication, Kabul 2008.
  17. Herbert Penzl: Standard Pashto and the Dialects of Pashto. In: Afghanistan. 14/3: 8-14, S. 12
  18. David Neil MacKenzie: 1959. A standard Pashto. In: Bulletin of the School of Oriental and African Studies 22, 1959, S. 231
  19. Daniel G. Hallberg: Pashto, Waneci, Ormuri. In: O'Leary, C.F. (Hrsg.): Sociolinguistic Survey of Northern, Bd.4, Islamabad 1992, S. 10 f
  20. Michael M. T. Henderson: Four Varieties of Pashto. American Oriental Society 1983, S. 1
  21. Herbert Penzl: A grammar of Pashto: A descriptive study of the dialect of Kandahar, Afghanistan. Washington, D. C.: American Council of Learned Societies 1955, S. 10
  22. Georg Morgenstierne: Report on a linguistic mission to north-western India. Instituttet for Sammenlignende Kulturforskning, Oslo 1932, S. 17
  23. David Neil MacKenzie: 1959. A standard Pashto. In: Bulletin of the School of Oriental and African Studies 22, 1959, S. 235
  24. Herbert Penzl: Orthography and Phonemes in Pashto (Afghan). In: Journal of the American Oriental Society, Vol. 74, No. 2, 1954, S. 74
  25. David Neil MacKenzie: The Development of the Pashto Script. In: B. Comrie (Hrsg.): Languages and Scripts of Central Asia. Croom Helm, London 1987, S. 143

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