Paschtunwali

Paschtunwali

Paschtunwali ist der Rechts- und Ehrenkodex der Paschtunen und zählt zu den sogenannten Stammesgesetzen. Er übernimmt eine sowohl ideelle als auch physische Schutzfunktion der Familie, des Stammes, der Nation und der Ehre.

Etymologie

Der Begriff Paschtunwali ist zusammengesetzt aus dem Wort Paschtunپۺتون‎, dem Partizio Präsens walوال‎ (der habende) und dem Suffix persisch ‏ى‎, der Persischen Sprache [i] ähnlich wie keit, heit und tum.

Wal bedeutet wie dar in Dari. Dar ist Präsens vom Verb Daschtan d,h. haben wie Shahrdar ( wörtlich „Stadthabender“, also Bürgermeister) in Paschtu ist wie Charwal (Bürgermeister), ähnlich pal पाल in Hindi wie राज्यपाल (Gouverneur). Das Phonem [d] ist in Paschtu zu [l] bzw. [r] geworden. [1]

Demnach bedeutet Paschtunwali wörtlich („Paschtun-habender“) eine Art Paschtunentum. Der Begriff Paschtunwali ist nach den Reformen der Sprache Paschtu im Jahre 1936 kreiiert worden.

Afghanyat und Paschtunwali

Der Begriff Afghanyat persisch ‏افغانيت‎, zusammengesetzt aus der Bezeichnung Afghan persisch ‏افغان‎ und dem persischen Suffix Yat persisch ‏يت‎ wie dt. heit", was Afghanentum bedeutet, ist vor den Reformen der Sprache Paschtu sowie der Eimführung der Nationalsprache 1936 gebraucht worden. Diese Wortbedeutungsänderung wurde erforderlich, da die Bezeichnung Afghan ab 1936 für Staatsbürger Afghanistans verordnet wurde. Noch im Jahre 1939 hat der Paschtune Abdul Rahman Pazhwak, u.a. auch ein UN-Diplomat aus Afghanistan die Gesetze des Paschtu unter dem Namen von Afghanyat in Kabuler Jahrbuch herausgegeben. [2].

Der Begriff Paschtunwali ist eher im Ausland bekannt, wenn nicht dort von Paschtunen entstanden, als im Landesinneren in Afghanistan. Paschtunen selbst verwenden für die Gesetze des Paschtunwali eher Afghanyat oder häufig Paschtu. z.B. da Pashtu di (Das ist Pashtu, gemeint das ist Paschtunwali). Ab 1922 schickte der König Amanulah Afghanen bzw. Paschtunen nach Europa, damit sie dort studieren, wobei das größte Studentenkontingent Deutschland war.

Paschtunwali als Ehrenkodex der Paschtunen

Das Paschtunwali birgt aufgrund seines hohen, vorislamischen Alters alte Traditionen, wie die Vergeltung dem Badal wörtlich für Austausch, die auch in anderen spirituellen und religiösen Kodices der Antike vorkommen. Dabei kann das Badal auch im wahren Sinne des Wortes durch Austausch von Geld, Waren und Heirat erlangt werden.

Die Gastfreundschaft (Melmastya) rangiert im Paschtunwali über allen anderen Werten. Diese ist eng verwickelt mit dem Nanawati wörtlich auch Einlass, das für Vergebung, Unterschlupfgewährung und Teil des Asylrechts. Das Nanawatai muss, sobald das Wort ausgesprochen wird, jedermann gewährt werden, auch dem größten Feind. Das Badal greift somit nur in hartnäckigen, existentiellen Fällen und wird abgeschwächt. Wer kein Nanawatai gewährt, gilt nicht als Edelmann "ghairatman" und zieht Scham und Schande "scharm" auf sich.

Wer gutes "sha" leistet, wird neben "ghairatman" als "nangyalay" (Ehrenmann) betitelt. Die Wortkombination "Nang" und "Namus" spielt dabei eine wichtige Rolle. Nang ist als die "männliche Ehre" zu übersetzen, die durch "Tura" wörtlich für Schwert zu erzielen ist. Der Begriff "Namus" bezieht sich auf die "weibliche Ehre" und erfordert den Schutz von Familie und Grund und Boden, im weitesten Sinne der Heimat. Wer "Tura" leistet, wird als "Turyalay" bezeichnet. Er leistet einen Dienst für die Allgemeinheit wie die Verteidigung der Heimat. Daher das Sprichwort: "Tura ye wokra!", wenn man etwas Wichtiges erzielt.

Die meisten Streitigkeiten entstehen bekanntermassen in diesem Bereich, der als Alliteration "zan, zar und zamin" (Frau, Gold und Boden) bezeichnet wird. Diese Alliteration ist aus den Begriffen der persischen Sprache des Dari wie zan persisch ‏زن‎ , zar persisch ‏زر‎ und zamin persisch ‏زمين‎ gebildet worden, obwohl die Sprache Paschtu eigene Wörter wie Scheza, Tola Khawra für die obigen persischen Wöter kennt.

Zur Schlichtung von Konflikten wird die "Jirga" (Versammlung) einberufen, auf nationaler Ebene die "Loya Jirga" (Große Versammlung). Die streitenden Parteien (Gond) werden durch die "Jirga" versöhnt. Bei Bedarf werden die Beschlüsse der Jirga durch die "Zalwekhti" einer Exekutive aus 40 Mann durchgesetzt. Auch auf politischer Ebene wird eine Partei als "Gond" bezeichnet.

Um eventuell Gruppierungen zu trennen, wird eine Demarkationslinie ausgehandelt, die durch tiga oder kana wörtlich für Stein abgesteckt wird. Keiner der Parteien ist es nun erlaubt, diese Grenze zu verletzen. Die Beschlüsse der Jirga sind bindend. Daher bedeutet das Idiom "de kano kersha", wörtlich für ein mit einem Stein gezogener Strich, soviel wie "Verbindlichkeit".

Erläuterung der einzelnen Komponenten des Pashtunwali (Pakhtunwali)

  • Melmastia: Das erste Gesetz des Pashtunwali. Es steht für die Gastfreundschaft allen Gästen gegenüber ohne die Erwartung einer Gegenleistung, und ggf. Verteidigung der Gäste gegen ihre Feinde.
  • Badal: Das zweite Gesetz des Pashtunwali: Es steht für das "Rache nehmen", wenn einem Ungerechtigkeit/Böses getan wurde. Wörtlich übersetzt bedeutet es "Tausch".
  • Nanawatay: Das dritte Gesetz. Nanawatay leitet sich ab von dem Verb "hingehen, hereingehen" und steht dafür, wenn der Besiegte in das Haus des Siegers geht und um Vergebung bittet. Nanawatay kann nicht eingefordert werden, wenn der Disput die Entehrung oder Verletzung einer Frau beinhaltet.
  • Nang (Ehre): Das vierte Gesetz. Nang besteht aus den untenstehenden Punkten, die zusammengefasst die Ehre eines Pashtunen oder die seiner Familie ausmachen.
  • Tor (Schwarz): Bezieht sich auf Fälle, in denen es um die Ehre einer Frau geht. Tor (Schwarz) kann nur in Spin (Weiß) durch den Tod des Verursachers umgewandelt werden.
  • Tarboor (Cousin): In der pashtunischen Gesellschaft hat der "Tarboor" (oder der Sohn des Bruders des Vaters) die Anmutung bzw. Nebenbedeutung einer Rivalität bzw. Feindschaft.
  • Lashkar: Lashkar ist die Stammesarmee. Sie setzt die Entscheidungen der Jirga um.
  • Jirga: Die Jirga ist die Versammlung der Stammesältesten, die zu verschiedensten Gelegenheiten oder für verschiedenste Fälle einberufen werden bzw. tagen kann. Beispiel: Dispute innerhalb des Stammes oder zwischen verschiedenen Stämmen.
  • Chalweshti / Zalwesti: Das Wort leitet sich von dem Wort "Vierzig" ab und steht für die Umsetzung der Entscheidungen der Jirga, d.h. jeder 40. Mann ist ein Mitglied. In Kurram heißt diese Gruppierung "Shalgoon", welches sich von dem Wort "Zwanzig" ableitet und dafür steht, dass jeder 20. Mann Mitglied dieser Gruppe wird.
  • Teega / Kanrai (Stein): Teega steht für ein festes Datum zu dem alle Feindlichkeiten zwischen streitenden/kämpfenden Parteien unterbrochen werden müssen. Der Stamm sichert dann die Umsetzung der "Teega".
  • Nikkat: Nikkat ist abgeleitet von dem Wort "Nikka", welches für "Großvater" steht. Es steht für die Verteilung von Profiten und Verlusten innerhalb von Stämmen und Unterstämmen. Der Verteilungsschlüssel richtet sich nicht unbedingt nach demographischen Werten, sondern kann auch vor Generationen festgeschrieben sein und einem Außenstehenden ungerecht erscheinen.
  • Badragga: Badragga steht für eine Stammeseskorte, die für gewöhnlich aus Mitgliedern dieses Stammes besteht. Ein Angriff auf eine "Badragga" kann eine Stammesfehde nach sich ziehen.
  • Hamsaya (Nachbar): Hamsaya steht für eine Gruppe von Schutzabhängigen, die sich in den Schutz bzw. die Obhut eines stärkeren begeben. Jeder Angriff auf die "Hamsaya" wird als Angriff auf deren Beschützer gewertet.
  • Qalang (Miete oder Steuer): Qalang wird von dem Gutsherrn gegen seine Pächter erhoben. In diesem Kontext ist er typisch für den Stamm der Yusufzai, kann allerdings auch andere Bedeutungen bei anderen Stämmen haben.
  • Malatar: Malatar steht für die Mitglieder einer Gruppe, die an einem Kampf teilnehmen stellvertretend für deren Führer oder gemeinsam mit ihm.
  • Mu'ajib: Mu'ajib steht für die jährliche oder halbjährliche, feste, Auszahlung eines Betrages an Stämme und/oder Unterstämme durch die politische Macht.
  • Lungi: Lungi steht für die Auszahlung durch die politische Macht an einzelne Führer.
  • Nagha: Nagha ist eine Strafsumme, die durch die Stammesältesten festgelegt und einem Verurteilten / zu bestrafenden auferlegt wird. Die Umsetzung dieser Maßnahme kann ggf. durch die "Lashkar" vollzogen werden.
  • Rogha: Rogha steht für die Niederlegung eines Disputs zwischen streitenden Fraktionen.
  • Hujra: Eine Hujra ist ein Verweil- oder Schlafplatz für Gäste und männliche, unverheiratete Mitglieder eines Dorfes. Die Kosten werden für gewöhnlich durch die Bewohner des Dorfes geteilt. Jede "Hujra" hat für gewöhnlich eine anliegende Moschee, die an die Dorfstruktur gekoppelt ist.
  • Swara: Eine Form der Sühneleistung für Mord, Ehebruch oder Entführung. Eine Frau aus der Sippe des Täters wird mit einem Mann der geschädigten Sippe verheiratet (auf Beschluss der Jirga).

Das Paschtunwali ist ein Kanon an Gesetzen und Verhaltensregeln, ein Kodex aus der Zeit, als moderne Rechtsprechung nicht existierte. Das Paschtunwali führte zu einer Ordnung und bot die Existenzgarantie für die Paschtunen. Ein Teil dieses Kodex mit modernen Rechtsnormen verwoben, könnte eine zukünftige afghanische Rechtsnorm bilden, die auch einfacher von der afghanischen Gesellschaft akzeptiert wird. Viele Elemente des Paschtunwali, z.B. die Jirgas (Loya Jirga, wolesi Jirga) wurden vom afghanischen Staat übernommen, und als die Amerikaner nach dem 11. September 2001, auf der Suche nach einer Neustrukturierung von Afghanistan waren, war es die Loya Jirga, die der Regierung Karzai ihre Legitimität gab.

Einzelnachweise

  1. sie auch Laas (Pashtu) zu Dast (Farsi). Wadi zu Wali (Au bzw. Flußau)
  2. Salnamah e Kabul 1939

Literatur

  • Willi Steul: Pashtunwali und Widerstand - Stammesgesellschaft im Staat: Die Pashtunen in Paktia In: Berliner Institut für vergleichende Sozialforschung [Red.: Kurt Greussing u. Jan-Heeren Grevemeyer] (Hrsg.): Revolution in Iran und Afghanistan - mardom nameh - Jahrbuch zur Geschichte und Gesellschaft des Mittleren Orients Syndikat, Frankfurt am Main 1980, S. 250-263, ISBN 3-8108-0147-X.
  • Christian Sigrist: Pashtunwali - Das Stammesrecht der Pashtunen In: Berliner Institut für vergleichende Sozialforschung [Red.: Kurt Greussing u. Jan-Heeren Grevemeyer] (Hrsg.): Revolution in Iran und Afghanistan - mardom nameh - Jahrbuch zur Geschichte und Gesellschaft des Mittleren Orients Syndikat, Frankfurt am Main 1980, S. 264-279, ISBN 3-8108-0147-X.

Weblinks

siehe auch


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