- Pietismus, Radikaler
-
Radikaler Pietismus war eine kirchenkritische Strömung innerhalb des Pietismus. Die radikalen Pietisten waren davon überzeugt, dass wahres Christentum nur außerhalb der verfassten Kirche gelebt werden könne. Deshalb blieben sie den Gottesdiensten und Abendmahlsfeiern fern. Viele verweigerten Taufe und Konfirmation der Kinder und hielten diese von der Schule fern. Außerdem lehnten die radikalen Pietisten die Eidesleistung und den Militärdienst ab.
Inhaltsverzeichnis
Geschichte
Die Bewegung kam mit dem Pietismus im späten 17. Jahrhundert auf. Der mit Philipp Jakob Spener befreundete Frankfurter Rechtsanwalt Johann Jakob Schütz (1640-1690) wandte sich zunehmend von der Kirche ab, nahm mystisch-spiritualistische Gedanken auf und wurde schließlich zur Führungspersönlichkeit des frühen Radikalen Pietismus. Rasch entwickelte sich ein internationales Netzwerk von Gleichgesinnten. Zur Verbreitung radikalpietistischer Gedanken trugen vor allem Erbauungsbücher bei. Es entstand eine eigene radikalpietistische Bibelausgabe mit Kommentaren heterodoxer Ausrichtung, die Berleburger Bibel. Auch ein eigenes Liederbuch, das Davidische Psalterspiel wurde in den Versammlungen benutzt.
Die Zentren des Radikalen Pietismus in Deutschland befanden sich in der hessischen Wetterau, in den beiden Wittgensteiner Grafschaften Sayn-Wittgenstein-Berleburg und Sayn-Wittgenstein-Hohenstein, am Niederrhein, in der Grafschaft Isenburg-Büdingen und im Herzogtum Württemberg. Geistesgeschichtlich entfaltete der Radikale Pietismus eine starke Wirkung; dagegen blieb er personell eine Randerscheinung innerhalb des Pietismus.
So hat der Pietismus überhaupt und insbesondere der Radikalpietismus wesentlich zur Ausbildung der individuellen Persönlichkeit beigetragen. Gleichzeitig entstanden Versammlungen, die als Form der Kommunikation neben die offizielle Kirche traten. Durch die Lektüre der Erbauungsbücher stieg die Literalität. Im Radikalen Pietismus nahmen vielerorts die Frauen eine starke Stellung ein und konnten sogar in religiöser Hinsicht gleichberechtigt mit den Männern auftreten.
Im frühen 18. Jahrhundert geriet der Radikale Pietismus unter den Einfluss der Inspirierten, die eine ekstatisch-visionäre Religiosität lebten. Die "Inspirierten" gehen zurück auf die ausgewanderten südfranzösischen Inspirierten, die in London eine eigene Gemeinde bildeten ("French prophets") und auch auf dem Kontinent ihre religiösen Auffassungen propagierten (vgl. Artikel Hugenotten). Zu den wichtigsten Führungspersönlichkeiten der deutschen "Inspirierten" gehörten Johann Friedrich Rock und Eberhard Ludwig Gruber, beide aus Württemberg stammend. Die Gruppe wanderte schließlich in die USA aus, wo sie bis heute in den sieben Amana-Dörfern (Iowa) fortlebt. Sie sind nur ein Beleg für die weitgehende internationale Vernetzung des radikalen Pietismus in der Mitte des 18. Jahrhunderts. Es entsprach dem Selbstverständnis der Radikalpietisten, über alle Grenzen hinweg mit Gleichgesinnten Kontakt zu halten, da sie sich als "wahre Gemeinde Christi" verstanden.
Im frühen 19. Jahrhundert wanderten Radikalpietisten („Separatisten“) aus Deutschland aus, gründeten in den Vereinigten Staaten und in Transkaukasien kommunitaristische Siedlungen. Der württembergische Separatistenführer Johann Georg Rapp (1757-1847), ein Leinenweber aus Iptingen, errichtete die Siedlungen Harmony (Pennsylvania) (1804-1814), New Harmony (Indiana) (1814-1824) und Economy (Pennsylvania) (seit 1824). In Georgien entstanden die Dörfer Katharinenfeld (heute Bolnissi), Marienfeld (heute Sartischala), Elisabethtal, Alexandersdorf und Petersdorf. In Aserbaidschan gründeten sie Helenendorf (heute Göygöl), Annenfeld, Grünfeld, Eichenfeld und Traubenfeld.
In den von J. G. Rapp gegründeten pietistischen Siedlungen Amerikas wurde das Privateigentum vollständig abgeschafft, und seit 1807 wurde die sexuelle Askese, auch unter Ehepaaren, so stark gefördert, dass nur noch wenige Kinder geboren wurden. 1906 wurde die Harmony Society in Amerika offiziell aufgelöst.
Ein Kreis von Separatisten um eine Gruppe in Rottenacker begründete 1817 die Siedlung Zoar (Ohio). Auch hier gab es kein Privateigentum - die Einführung des Gemeineigentums im Jahre 1819 wurde durch Johannes Breimaier (1776 - 1834) angeregt -, aber die sexuelle Askese galt nur wenige Jahre lang. Die Zoar Society wurde 1898 aufgelöst.
Die Siedlungen der württembergischen Radikalpietisten in den Vereinigten Staaten wurden von Friedrich Engels als Vorbild einer kommunistischen Gesellschaft angeführt [1] und können als wesentliche Inspiration für das kommunistische Manifest gelten.
Schriftsteller des radikalen Pietismus
- Gottfried Arnold (Theologe): (Hauptwerk: Unparteiische Kirchen- und Ketzerhistorie)
- Jakob Böhme: (Hauptwerk: „Die Morgenröte im Aufgang“) plädierte für die sexuelle Askese, die in einigen Gemeinschaften bis heute praktiziert wird (Engelsbrüder oder Gichtelianer; letzte Reste in Hessen und im Bergischen Land)
- Johann Jakob Haug: (Wichtigster Initiator der Berleburger Bibel, einer Bibelausgabe mit Kommentaren, die im Radikalen Pietismus allgemein gelesen wurde)
- Christian Hoburg (Hauptwerk „Der unbekannte Christus“) polemisierte gegen den Wahrheitsanspruch der Konfessionen
- Johann Tennhardt
- Johann Henrich Reitz: (Hauptwerk „Historie der Wiedergebohrnen“)
- Gottfried Arnold (Theologe) (Hauptwerk „Unparteiische Kirchen- und Ketzerhistorie“) war der Wegbereiter einer modernen, kritischen kirchengeschichtlichen Forschung
- Johann Daniel Müller (*1716) wirkte als Konzertdirektor in Frankfurt am Main im Umkreis des jungen Goethe und wurde dann als Begründer der Vereinigungskirche „Offenbarung Christi“ zum Autor von mindestens 27 Büchern, darunter "Elias mit dem Alcoran Mahomeds"
Auch Theologen, die sich zeitlebens nie von der Kirche trennten, wurden maßgeblich vom Radikalen Pietismus geprägt, so zum Beispiel in Württemberg Johann Albrecht Bengel, Friedrich Christoph Oetinger, Philipp Matthäus Hahn, Christian Gottlob Pregizer oder der Laienprediger Johann Michael Hahn.
Siehe auch
Literatur
- Hans-Jürgen Schrader: Literaturproduktion und Büchermarkt des radikalen Pietismus: Johann Heinrich Reitz' "Historie der Wiedergebohrnen" und ihr geschichtlicher Kontext (Palaestra 283). Göttingen 1989.
- Ulf-Michael Schneider: Propheten der Goethezeit. Sprache, Literatur und Wirkung der Inspirierten (Palaestra 297). Göttingen 1995.
- Barbara Hoffmann: Radikalpietismus um 1700. Der Streit um das Recht auf eine neue Gesellschaft. Frankfurt am Main 1996.
- Andreas Deppermann: Johann Jakob Schütz und die Anfänge des Pietismus. Tübingen 2002.
- Willi Temme: Krise der Leiblichkeit. Die Sozietät der Mutter Eva (Buttlarsche Rotte) und der radikale Pietismus um 1700 (Arbeiten zur Geschichte des Pietismus 35). Göttingen 1998 .
- Johannes Burkardt / Michael Knieriem: Die Gesellschaft der Kindheit-Jesu-Genossen auf Schloss Hayn. Aus dem Nachlass des von Fleischbein und Korrespondenzen von de Marsay, Prueschenk von Lindenhofen und Tersteegen 1734 bis 1742. Hannover 2002.
- Andreas Kroh / Ulf Lückel: Wittgensteiner Pietismus in Portraits. Ein Beitrag zur Geschichte des radikalen Pietismus in Wittgenstein. Bruchsal 2003.
- Douglas H. Shantz: Between Sardis and Philadelphia: the Life and World of Pietist Court Preacher Conrad Broeske. Leiden 2008.
- Claus Bernet: Between quietism and radical pietism: The German Quaker settlement Friedensthal, 1792-1814. Birmingham 2004.
Für Württemberg gibt es eine monografische Gesamtdarstellung zum Radikalen Pietismus mit weiterführender Literatur:
- Eberhard Fritz: Radikaler Pietismus in Württemberg. Religiöse Ideale im Konflikt mit gesellschaftlichen Realitäten (Quellen und Forschungen zur württembergischen Kirchengeschichte 18). Epfendorf 2003.
Als Ergänzung zu dieser Dissertation ist erschienen:
- Eberhard Fritz: Separatistinnen und Separatisten in Württemberg und in angrenzenden Territorien. Ein biographisches Verzeichnis (Südwestdeutsche Quellen zur Familienforschung Band 3). Stuttgart 2005.
Weblinks
- Eintrag im Biographisch-Bibliographischen Kirchenlexikon zu Johann Jakob Schütz, unter: http://www.bautz.de/bbkl/s/s1/schuetz_j_j.shtml
- Eintrag im Biographisch-Bibliographischen Kirchenlexikon zu Christian Gottlob Pregizer, unter: http://www.bautz.de/bbkl/p/pregizer_c_g.shtml
Einzelnachweise
Wikimedia Foundation.