Prärational

Prärational

Empraxis [gräzisierter Neologismus] Grundbedeutung: leiblich eingebundenes Handeln, Vollzugswissen. Der Begriff wurde von dem Sprachtheoretiker und Psychologen Karl Bühler in seinem Buch Sprachtheorie. Die Darstellungsform der Sprache in die deutsche Sprachphilosophie eingeführt. Aufgegriffen hat ihn Pirmin Stekeler-Weithofer in seiner Philosophie des Selbstbewusstseins. Volker Caysa hat den Begriff des Empraktischen in der Leipziger Analytischen Schule (LAS) für die Anthropologie des Körpers weiterentwickelt u.a. im Kontext des Sports. Der Begriff wird dort, auch transdisziplinär in Bezug auf die Kunst von Konstanze Schwarzwald und Hagen Wiel diskutiert, u.a. durch Publikationen und neuartige Techniken des Filmens [1].

Inhaltsverzeichnis

Beispiel

Empraktisches Handeln ist funktionierendes Vollzugshandeln z.B. in Sport, Tanz, Kunst und Sex, das „wie von allein“ und wortlos vonstatten geht ohne vorheriges Nachdenken über den Vollzug des Tuns. Empraktisches Handeln ist prärational, vor-theoretisches Handeln und setzt implizites Wissen voraus.

Entstehung

In seiner „Sprachtheorie“ (1934) spricht Karl Bühler davon, dass der „Einbau des Sprechens in anderes sinnvolles Verhalten einen eige­nen Namen verdient“. Er nennt dies Sprechen „empraktisches Reden“.[2] „Im Bilde gesprochen ist es so mit ihrem Auftreten wie mit den ordentlich gesetzten Wegweisern auf menschlichen Pfaden; solange es nur einen eindeutig erkennbaren Weg gibt, braucht man keine Wegzeichen. Aber an Kreuzungsstellen, wo die Situation viel­deutig wird, sind sie stets willkommen.“[3] Bühler meint mit diesen Wegweisern Anzeigwörter, die das Handeln des Emp­fängers ganz ein­fach und doch hochkomplex steuern. Wenn zum Beispiel jemand um Hilfe ruft, reicht dieses eine Wort um hochkomplexe Handlungs­reihen auszulösen. Oder oft ist „nur ein Wort nötig, ein belie­biges Sprachzeichen wie ‘rechts’, ‘geradeaus’ oder ‘dies’ oder ‘Parket sechste bis neunte Reihe’ und die Zusatz­steuerung, welche das Benehmen des Empfängers benötigt, ist erreicht.“[4] Der Mensch ist sogar so positiv auf dies empraktische Reden einge­stellt und angewiesen, so dass er jemanden mindestens für be­griff­sstutzig hält, wenn dieser die Einrede nicht versteht. Der Mensch kennt die sinnvolle Reduktion dieser Ein­rede, um ohne tieferes Nachdenken hoch­komplexe Handlun­gen auszuführen und verstehen. Daher wird allzu oft nicht toleriert, wenn jemand noch zusätzliche Er­klärun­gen braucht. Ganz deutlich wird dies beim Autofahren. Wer die ein­fachen Zeichen und Zeige­wörter der Verkehrsleitsysteme nicht sofort in hochkomplexes, flexibles Handeln umzuset­zen vermag, hat mindestens mit einer leisen Beschimpfung zu rechnen.

Das Empraktische in der Philosophie

Nach Pirmin Stekeler-Weithofer funktioniert selbst die Reflexionswissenschaft Philosophie, deren Tun wesent­lich in der Reflexion besteht, wie Sport, Sex, empirische Wissenschaft und Kunst auf der Basis des Empraktischen. Im Empraktischen hat der Mensch ein implizites Wis­sen, so dass das Em­praktische wesentlich als Wissen-Haben im Tun-Können erscheint. Empraktisch weiß man, was man weiß, solan­ge man nicht danach gefragt wird. Oder anders ausgedrückt: Empraktisches Wissen ist ein Wissen, das man solange sicher hat, solange man es nicht metastufig problematisiert. Die Schwierigkeiten beginnen, wenn man explizit fragt, was man implizit weiß. Erst dann beginnt man zu reflek­tieren, dass man eigentlich (meta­stufig gesehen) nicht weiß, was man weiß. Auf der Ebene das Empraktischen befinde der Mensch sich im Zustand nicht nur einer belehrten, sondern gelehrten Unwissenheit, im Zustand anscheinend naiver Könnerschaft, in dem die agierende Person als Narr, als Idiot oder als Genie erscheint. Im Emprak­ti­schen scheint alles wie von selbst zu gelingen, man ist dort im Zustand des in sein Spiel versunkenen Kindes. Das Kind weiß im Spiel, was zu tun ist, denn in seiner Versunkenheit, hat es zu wissen vergessen und gerade dadurch weiß es. Das Emprakti­sche erscheint auf dieser Ebene als ein voraussetzungsloser, refle­xionloser Neubeginn, als ein grundloser Anfang, als „ein Spiel, ein aus sich rollendes Rad, eine erste Bewegung, ein heiliges Ja-sagen.“ [5] Im Empraktischen wird der Mensch wieder zum Kinde und die Un­schuld des Kindes und sein Vergessen ist es, das neue Werte schafft. Das Empraktische ist die immer notwendig anwesende Kindheit der Praxis, durch die die theoretische und theoriege­leitete Praxis erst möglich wird. Aus diesem Primärpraktischen geht das Sekundärpraktische hervor, das sich dann mit Theorie einbildet, Herr des praktischen Seins zu sein. Im Empraktischen liegt das Geheimnis funktionieren­der Praxis.

Das Empraktische ist der alltäglich an-wesende Ort der Erfahrung der Kindheit, des Seins, das doch immer der Grund des Erwachsen-Seins ist. Im Empraktischen erfährt man sich immer wieder als Kind, dort ist man immer wieder Kind, dort erfährt sich der Denker nicht nur als Kind, sondern dort erfährt man die Kind­heit des Denkens. Und indem man lernt, diese immer anwe­sende Kindheit des Denkens metastufig zu reflektieren, wird man selbst erwachsen, er­wacht man über sich selbst. Das aber bedeutet, dass die fundamen­talen Voraussetzungen expliziten Wissens im Empraktischen gegeben sind und dass das Denken nicht dahinter zurück kann, sondern immer nur versuchen kann, im Nachhinein den vorgängigen Vollzug zu be­greifen. Das aber ist die wesentliche Aufgabe der Philosophie: durch Reflexion zu begreifen, warum überhaupt etwas in unserem Leben funktio­niert, wodurch etwas ist und warum nicht alles nichts und nichtig ist.

Empraktisches Wissen, philosophisch be­trachtet, ist nicht iden­tisch mit der Zone meta­stufig reflek­tierten und verbalsprachlich explizit klar ausge­drückten Wissens. Das Dasein ist selbst ein Wissen-Haben, das nicht mit wissenschaftlichem Wissen identisch ist. Das Wissen-Sein der Praxis ist nicht identisch mit dem Wissen-Haben der Wis­senschaft.

Wonach fragt eine Philosophie des Empraktischen?

Eine Philosophie des Empraktischen fragt nach dem präfor­mativen Grund der expliziten Theorie-Praxisverhältnisse und nach den damit verbundenen Subjekt-Objekt-Verhältnissen. Es geht um den Grund der (per Wissenschaft) vorgestellten, vor einen gestellten Welt, um das Andere der reflektierten, theoretischen Praxis, das diese be­gründet, von ihr aber selbst nicht vollständig kausal einge­holt werden kann; es geht um die reflexionslose Reflexion, die atheoreti­sche, unbewusste Produk­tion, die alle Reflektiert­heit, alle bewusste, selbstbewusste Produk­tion erst ermöglicht. Ausgegangen wird dabei von dem Gedanken, dass es zunächst über­haupt nicht zum Wesen ursprünglicher Praxis gehört, dass sie metastufig reflektiert wird. Erst aber in der metastufigen Reflexion wird im Nach­hinein ge­trennt, was vorgängig als unge­trennt Eines funk­tio­niert. Was hinterher in der Reflexion unter­scheidbar ist, ist vorgängig untrennbar.

Das Empraktische ist selbst ein „transzendentales Feld“, durch das sich ein Individuum die Schemata zu eigen macht, durch das es die Fähigkeiten und Fertigkeiten erlangt, erfolgreich zu handeln. Dieses transzendentale Feld hat selbst verschiedene Erschei­nungs­formen, die sich im Spannungsfeld von individuell Leib­em­praktischem und Sozialempraktischem bewegen. Das Empraktische als transzendentales Feld ist jenes vor allem Seienden ausgezei­chnete Daseiende, in dem sich das Sein in den menschlichen Selbstverhältnissen immer je schon von selbst versteht. Darum meint man in seiner impliziten Praxis bei sich selbst und Ei­gentlich-zu-sein, während man in der expliziten Praxis sich außer sich und uneigentlich wahrnimmt, genauso wie man in der Em­praxis glau­bt, das Sein in seinem Eigensein wahrzunehmen und wie man in der theoretischen Praxis das (Selbst-)Sein in seinem sich Entfrem­det sein wahrnimmt.

Die Empraxis als Vollzugspraxis, als primäre Praxis, die erst im Nachhinein Gegenstand der ihr gegenüber sekundären theoretischen und theoriegeleiteten Praxis wird, kann auch als Leben bezeich­net werden, sofern man berücksichtigt, dass Leben eine eigene Seinsart ist, die dem Menschen wesenhaft nur zugänglich ist im praktischen Dasein, das alltäglich empraktisch anwest. Leben in diesem Sinne ist dann als „der Ort des ursprünglichen Verstehens jeder Sache“ zu begreifen, der als causa sui, ein durch sich selbst seiendes Sein ist, das an-und-für-sich frei ist, insofern es sich aus sich selbst bestimmt.[6] Das Leben als Durch-sich-und-für-sich-selbstseiendes-Sein ist wesentlich die Macht der Freiheit eigen, sich über sich selbst hinauszuschaf­fen und nur ein Leben, das sich über sich hinauszu­schaf­fen vermag, verdient Leben genannt zu werden: Leben ist Über-sich-hinaus-Sein im Über-sich-hinaus-Schaffen. Leben, das nur sich selbst erhalten will, das sich nicht steigern, intensi­vieren will, zerfällt und verendet, in seiner Statik, weil ihm die Ek-stase fehlt, genauso wie Macht zerfällt, wenn sie nicht Mehr-Macht sein will und wie Werte sich entwerten, wenn sie nicht Mehr als nur Werte sind, wenn sie nicht echte Mehr-Werte sind, die als solche eben einen ökonomischen und morali­schen Über­schuss haben, der das Leben verwesentlicht, perspekti­viert. Leben als An-und-für sich-Sein ist nur für uns im praktischen Für-uns-Sein. In diesem Für-uns-Sein bleibt es aber immer ein Für-sich-Sein, ein Durch-sich-selbst-Sein und Bei-sich-Sein, ein Eigen­sein, das sich in seinem Selbstsein immer auch unserem instrumen­tellen Zugriff entzieht. Das Empraktische als Leben, das uns im Dasein wesenhaft gegeben ist, ist demzufolge eine kulturalistisch verstandene Vorgängig­keits­struktur, die die Subjekt-Objekt- und Theorie-Praxis-Ver­hält­nisse der Welt der Vorstellung begründet, selbst aber in dieser Welt der Vorstellung nicht vollständig erklärt werden kann. Es ist das „X“, das historische Apriori vor den theore­tisch-praktischen Subjekt-Objekt-Strukturen, das diese begründet, selbst aber von diesen nicht vollständig erklärt werden kann.

Die empraktische oder basale Praxis ist eine implizite Tathand­lung, die der Möglichkeit der expliziten Artikulation der Hand­lung in der sekundären, theoretischen Praxis systematisch immer je schon vor­angeht und insofern begründet. Darum kann „philosophische Analyse und Refle­xion“ immer nur Nachhinein-Betrachtung „der Formen schon etablierter Lebensverhältnisse“ sein.[7] Wenn Phi­lo­sophie die Auf­gabe hat, ihre „Zeit in Gedanken zu fassen und dabei implizite Formen explizit zu machen, auf den Begriff zu bringen“, dann heißt das: „die je im gegenwärtigen Leben und normalen Han­deln verdecken Praxisformen und die tragenden Institutionen (wie z.B. der Sprache oder der Wissenschaft, des Rechts, des Staa­tes, der Gesellschaft oder auch die Praxis des ethischen und ästhetischen Urteilens) explizit zu artikulieren und dadurch zu thematisieren.“[8]

Einzelnachweise

  1. Methode des Empraktischen Filmens von Hagen Wiel, Volker Caysa/Konstanze Schwarzwald (Hrsg.): Experimente des Leibes, Münster 2008, S.160
  2. Karl Bühler: Sprachtheorie, Stuttgart 1965, S.52
  3. Karl Bühler: Sprachtheorie, Stuttgart 1965, S.39
  4. Karl Bühler: Sprachtheorie, Stuttgart 1965, S.39
  5. Friedrich Nietzsche: Sämtliche Werke. Kritische Studienausgabe in 15 Einzelbänden, hrsg. von Giorgio Colli und Mazzino Montinari, Piper München/ Berlin/ New York 1980, Band 4, S. 31
  6. Pirmin Stekeler-Weithofer: Philosophie des Selbstbe­wußt­seins, Frankfurt am Main 2005, S.194
  7. Pirmin Stekeler-Weithofer: Philosophie des Selbstbe­wußt­seins, Frankfurt am Main 2005, S.49
  8. Pirmin Stekeler-Weithofer: Philosophie des Selbstbe­wußt­seins, Frankfurt am Main 2005, S.49

Literatur:

  • Karl Bühler: Sprachtheorie. Die Darstellungsform der Sprache, Jena 1965/ 2. Auflage Stuttgart 1992
  • Pirmin Stekeler-Weithofer: Philosophie des Selbstbe­wußt­seins. Hegels System als Formanalyse von Wissen und Autonomie, Frankfurt am Main 2005
  • Volker Caysa: Körperutopien. Eine philosophische Anthropologie des Sports, Frankfurt am Main/New York 2003.
  • Konstanze Schwarzwald u.a. (Hrsg.): Kritik Entwürfe. Beiträge nach Foucault, Münster 2006.
  • Volker Caysa/Konstanze Schwarzwald (Hrsg.): Experimente des Leibes Münster 2008

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