Roter Faschismus

Roter Faschismus

Linksfaschismus oder Linker Faschismus (auch: Roter Faschismus oder Rotfaschismus) ist ein politischer Kampfbegriff, der realsozialistische Staatssysteme und linksgerichtete Politik als „Faschismus“, seltener auch faschistische Staatssysteme und rechtsextremen Antikapitalismus als „links“ bewertet.

Inhaltsverzeichnis

Überblick

Als Linksfaschismus bezeichneten italienische Demokraten erstmals 1926 den Stalinismus, um diesen mit dem italienischen Fascismo zu vergleichen und beide als gleichermaßen demokratiefeindlich zu kritisieren.

Ab etwa 1929 bezeichneten deutsche Sozialdemokraten Kommunisten als „rotlackierte Faschisten“. Umgekehrt kategorisierten Kommunisten die Sozialdemokratie als „Rotfaschismus“ oder „Sozialfaschismus“.

Die heutige Verwendung geht auf Jürgen Habermas zurück. Dieser warnte 1967 vor einem linken Faschismus der damaligen antiautoritären APO, der eine Gewalteskalation rechtfertigen könne.

Seitdem dient der Begriff in der Bundesrepublik Deutschland meist zur Polemik gegen politisch linksgerichtete Gruppen und Parteien.[1] Er enthält den Vorwurf, die von ihnen angestrebte Gesellschaftsordnung und ihre Politik auf dem Weg dorthin weise ihrerseits faschistische, anti-liberale und totalitäre Elemente auf. Dies greift das Selbstverständnis vieler linksgerichteter Gruppen als Antifaschisten an, wendet es gegen sie und setzt Faschismus mit emanzipatorischen Gesellschaftstheorien pauschal gleich.

Vor allem Rechtsextremisten verwenden den Begriff zur Diffamierung politischer Gegner, manchmal auch für soziale Elemente der eigenen Ideologie. Seit dem „Historikerstreit“ 1986 dient der Begriff Geschichtsrevisionisten dazu, den Stalinismus als Vorläufer und Vorbild des Nationalsozialismus zu deuten und die NS-Verbrechen als Reaktion darauf zu relativieren.

Peter Sloterdijk verwendet den Begriff für die Systeme des Realsozialismus, deren Ideologie auch vielen Linken Westeuropas zur moralischen Selbstrechtfertigung gedient habe. Die Politikwissenschaft verwendet den Begriff – anders als den Faschismusbegriff – jedoch nicht zur wissenschaftlichen Beschreibung einer Ideologie oder Gesellschaftsordnung.

Totalitarismustheorie

Nach dem Wahlsieg von Benito Mussolini in Italien bezeichnete der Liberale Giovanni Amendola zunächst die italienischen Faschisten, dann auch die Stalinisten 1925 als „totalitär“ (totalitario): Faschismus und Kommunismus seien eine „totalitäre Reaktion auf Liberalismus und Demokratie“.

Diesen Vorwurf griff die Parteiführung der Faschisten Anfang 1926 auf, um ihn positiv für ihre Ideologie und Politik in Anspruch zu nehmen. Nun übernahm die gesamte konservativ-liberale Opposition in Italien die These von der strukturellen Ähnlichkeit der beiden Diktaturen. In diesem Zusammenhang schrieb der Führer der Partito Popolare Italiano – einem Vorläufer der späteren „Democrazia Cristiana“ –, Priester Don Luigi Sturzo 1926:[2]

„Insgesamt kann man zwischen Rußland und Italien nur einen einzigen Unterschied feststellen, daß nämlich der Bolschewismus eine kommunistische Diktatur oder ein Linksfaschismus ist und der Faschismus eine konservative Diktatur oder ein Rechtsbolschewismus ist.“

Der Begriff ist also wie „Totalitarismus“ ursprünglich ein polemischer Kampfbegriff, der zwei politische Systeme und ihre Ideologien parallelisiert und als Diktaturen ablehnt.

Die Philosophin Hannah Arendt gab dem Totalitarismusbegriff besonders in ihrem Hauptwerk The Origins of Totalitarianism (1951), dt. Elemente und Ursprünge totaler Herrschaft, ein theoretisches Fundament und analysierte die Ähnlichkeiten von Nationalsozialismus und Stalinismus. Sie verwendete nicht den Terminus Faschismus als Oberbegriff, sondern unterschied zwischen Diktaturen wie beispielsweise dem Franquismus, der faschistischen Herrschaft Benito Mussolinis und den Regierungen der Ostblockstaaten nach Stalins Tod sowie totalitären Regimes, worunter sie lediglich den Nationalsozialismus, den Stalinismus und in Ansätzen den Maoismus fasste.

Sozialdemokraten und Kommunisten

1928 übernahm die KPD Stalins Sozialfaschismusthese: Danach galten die Reformisten der gescheiterten Zweiten Internationale, also die westeuropäische, vor allem die deutsche Sozialdemokratie, als Steigbügelhalter des aufkommenden Faschismus. Diese ideologische Einordnung hatte den machtpolitischen Sinn, die Mitgliedsparteien der von Moskau gelenkten Komintern gegenüber ihren Konkurrenten zu stärken und zugleich den gesamteuropäischen Führungsanspruch der KPdSU in der Arbeiterbewegung zu untermauern.

Faktisch wurden dadurch wirksame Koalitionen zwischen Kommunisten und Sozialdemokraten im Abwehrkampf gegen den Faschismus verhindert. Denn als Reaktion darauf verstärkte auch die SPD ihre antikommunistische Haltung. Ihr späterer Vorsitzender Kurt Schumacher erklärte 1930 vor dem Reichsbanner Württemberg:[3]

„Der Weg der leider ziemlich zahlreichen proletarischen Hakenkreuzler geht über die Kommunisten, die in Wirklichkeit nur rotlackierte Doppelausgaben der Nationalsozialisten sind. Beiden ist gemeinsam der Hass gegen die Demokratie und die Vorliebe für Gewalt.“

Dies wurde nach 1945 zum oft zitierten Diktum von den rotlackierten Faschisten verkürzt.

Otto Rühle, seit 1914 Antimilitarist, 1918 Mitgründer der KPD, 1920 aber Gründer der „Kommunistischen Arbeiterpartei“ (KAPD) als Reaktion auf die Ruhrkämpfe, schrieb 1939 im Rückblick auf das Scheitern der „Volksfront“-Bemühungen gegen den Aufstieg der NSDAP im mexikanischem Exil eine Abrechnung mit dem Titel Brauner und Roter Faschismus. Er folgte darin der stalinistischen Sozialfaschismusthese, obwohl er selbst kein Stalinist war und die so genannten Säuberungen in der Sowjetunion ablehnte. Er kritisierte den Verlauf der Novemberrevolution von 1918, besonders Friedrich Eberts Anordnungen zur blutigen Niederschlagung der Rätebewegung, die weitergehende Sozialisierungen verhinderten, mit den Worten:[4]

„Das Kriegsbündnis mit der Bourgeoisie hatte die deutsche Sozialdemokratie auf ihre wahre Wesensgrundlage zurückgeführt. Sie war immer nur scheinbar eine sozialistische Bewegung gewesen. Jahrzehntelang hatte sie über das im Grunde bürgerliche Prinzip ihrer Konstitution hinweggetäuscht. Doch niemals hatte sie es überwinden können. Sie war und blieb eine kleinbürgerliche Reformpartei der Enttäuschten, Zukurzgekommenen, am kapitalistischen Aufstieg Verhinderten. Keine revolutionäre Bewegung, sondern nur eine Revolte wildgewordener Möchte-gern-Kapitalisten.“

Außerparlamentarische Opposition

Jürgen Habermas und Rudi Dutschke

Am 9. Juni 1967 fand im direkten Anschluss an die Beerdigung des am 2. Juni 1967 erschossenen Studenten Benno Ohnesorg ein Kongress des Sozialistischen Deutschen Studentenbundes in Hannover mit etwa 5.000 Teilnehmern statt. Jürgen Habermas, Soziologe und Philosoph der Frankfurter Schule, sagte nach dem Ende der öffentlichen Diskussion mit dem Studentenführer Rudi Dutschke:[5]

„Herr Dutschke hat als konkreten Vorschlag nur vorgetragen […], dass ein Sitzstreik stattfinden soll. Das ist eine Demonstration mit gewaltlosen Mitteln. Ich frage mich, warum er das nicht so nennt und warum er eine dreiviertel Stunde darauf verwendet hat, um eine voluntaristische Ideologie hier zu entwickeln, die man im Jahr 1848 utopischen Sozialismus genannt hat, die man aber unter heutigen Umständen – jedenfalls glaube ich, Gründe zu haben, diese Terminologie vorzuschlagen – ‚linken Faschismus‘ nennen muss.“

Dutschke hatte zuvor Sitzstreiks an den Universitäten bis zur Aufklärung der Erschießung von Ohnesorg und die Bildung von „Aktionskomitees“ zur Politisierung der Universitäten als Teil einer „bewussten Durchbrechung der etablierten Spielregeln“ vorgeschlagen.[6] Er sah wie viele Studenten die Gewaltenteilung der „bürgerlichen Demokratie“ im Gefolge der Erschießung Ohnesorgs als nicht funktionsfähig an: Die Opfer würden zu den Tätern gestempelt, der tatsächliche Täter bliebe in Freiheit, die politisch Verantwortlichen blieben in ihren Ämtern. Nach jahrelangen Erfahrungen mit angemeldeten Demonstrationen etwa gegen den Vietnamkrieg wollte er die „sublime Gewalt“ der bürgerlichen Gesellschaft durch „organisierte Irregularität“ zwingen, „manifest zu werden.“[7] Die Reaktionen des Staates auf nichtangemeldete Aktionen sollten der Bevölkerung die herrschenden Unterdrückungsmechanismen bewusst machen, von denen er überzeugt war. Damit wollte Dutschke ausdrücklich weitere Todesopfer vermeiden und zugleich einer befürchteten Einschüchterung der Protestierenden durch die Erschießung Ohnesorgs begegnen.[8]

Habermas griff die theoretische Begründung dieses Konzepts der gezielten antiautoritären Provokation an. Er verglich sie mit dem utopischen Sozialismus des 19. Jahrhunderts, der die Bedingungen einer erfolgreichen Revolution nicht berücksichtigt hatte, und dem Voluntarismus, der einen gesellschaftlichen Umsturz allein vom bewussten „Willen zur Macht“ der Revolutionäre statt von der ökonomischen Entwicklung der Gesellschaft abhängig macht. Dahinter stand auch bei ihm ein marxistischer Erklärungsansatz für den Faschismus: Dieser war für die „Kritische Theorie“ in den 1930er-Jahren Folge und latente Bedrohung des nach außen liberal auftretenden Kapitalismus. Werde dieser von links bedroht wie im Italien der frühen 1920er-Jahre oder im Deutschland der Weltwirtschaftskrise, lege er seine pseudodemokratische Maske ab und beauftrage den Faschismus sozusagen damit, die Bedrohung von links gewaltsam zu zerschlagen. Eben dies, befürchtete Habermas nun, könnte geschehen, wenn Dutschke und der SDS den bürgerlichen Staat mit illegalen Aktionen provozierten, ohne doch die Chance zu haben, ihn durch eine erfolgreiche Revolution zu überwinden. Von einer Gleichsetzung der linken Militanz der APO mit dem Faschismus war Habermas also weit entfernt.

Resonanz

Innerhalb der Neuen Linken stieß Habermas auf energischen Widerspruch. So schrieb Oskar Negt im Kursbuch desselben Monats:[9]

„[…] der Vorwurf des Linksfaschismus ist Ausdruck einer Zerfallsstufe des bürgerlich-liberalen Bewußtseins, das von der fühlbaren Brüchigkeit der Institutionen und Regeln betroffen ist und doch in den sozialistischen Alternativen nur das Ende aller Sicherheit und Freiheit zu entdecken vermag […]. Der Linksfaschismus ist die Projektion der systemimmanenten Faschisierungstendenzen auf leicht diskriminierbare Randgruppen […]. Wer die Sicherheit der Freiheit dem Staat […] überläßt, ist Opfer einer fatalen Illusion: er glaubt an die Existenzfähigkeit einer Demokratie ohne Demokraten.“

In der damaligen aufgeheizten Lage griffen viele Medien das Stichwort auf und deuteten Dutschkes Konzept damit zur Gegengewalt, Herausforderung von Staatsgewalt und Inkaufnahme von Menschenverletzungen um. Auch führende Politiker wie Horst Ehmke (SPD) benutzten das Etikett:[10]

„Soweit sie [die anti-liberale action directe] Diskussionen sprengt, Vorlesungen stört, Zeitungen verbrennt und Fensterscheiben einschlägt, verdient sie durchaus als ‚pseudo-linker Faschismus‘ bezeichnet zu werden. Diese Art von Protest wird an den bestehenden Mängeln unserer Gesellschaft nicht das Geringste ändern. Sie wird vielmehr die Reaktion in diesem Lande stärken, Faschismus nicht ‚herauslocken‘, sondern mitproduzieren.“

Unter dem Eindruck dieses Gebrauchs nahm Habermas seinen Vorwurf wiederholt zurück, schon in seinem Aufsatz „Hochschulreform und Protestbewegung“, dann auch in einem Brief an Erich Fried vom 26. Juli 1967:[11]

„Ich habe in Hannover vom ‚linken Faschismus‘ in einem klar hypothetischen Zusammenhang gesprochen.“

In einem Brief vom 13. Mai 1968 an C. Grossner schrieb er zudem:[12]

„Erstens habe ich damals nicht gesehen, dass die neuen Formen der Provokation ein sinnvolles, legitimes und sogar notwendiges Mittel sind, um Diskussionen dort, wo sie verweigert werden, zu erzwingen.
Zweitens hatte ich damals Angst vor den irrationalistischen Implikationen eines Vorgehens, das unter dem Topos ‚die Spielregeln brechen‘ eingeführt wurde. Diese Befürchtungen hege ich auch heute noch, daher hat sich die Intention meiner damaligen Bemerkung nicht geändert. Freilich würde ich […] heute […] das Etikett des linken Faschismus vermeiden, und zwar nicht nur, weil dieses Etikett das grobe Missverständnis einer Identifizierung des SDS mit den rechten Studenten Anfang der dreißiger Jahre hervorgerufen hat, sondern weil ich inzwischen überhaupt unsicher geworden bin, ob das eigentliche Neue an den gegenwärtigen Revolten durch geistesgeschichtliche Parallelen getroffen werden kann.
Drittens halte ich nach wie vor Gewaltanwendung in der gegenwärtigen Situation nicht für ein vertretbares Mittel des politischen Kampfes. In einer Lage hingegen, […] deren Unerträglichkeit keineswegs allgemein ins Bewußtsein getreten ist, […] müssen sich die handelnden Subjekte […] inhumane Folgen ihres Handelns moralisch zurechnen lassen.“

Unter dem Eindruck von Medienberichten gegen „Sympathisanten“ der Linksterroristen 1977 nahm Habermas kritische Intellektuelle vor dem Vorwurf des „Linksfaschismus“ in Schutz; seine Kritik antiliberaler und antidemokratischer Züge der APO erhielt er dabei aufrecht. Das Schlagwort wird gleichwohl seit 1967 immer wieder zur Diffamierung linksprogressiver Aktionen und Zielen verwendet.

Daniel Cohn-Bendits Selbstkritik

In einem Spiegel-Interview vom Mai 2001 räumte Daniel Cohn-Bendit, „Alt-68er“ und Europaabgeordneter der Grünen, teilweise „linksfaschistische“ Tendenzen der damaligen Studentenbewegung ein. Er stellte zunächst beobachtend fest:[13]

„Was uns angeht, so weiß ich heute, dass es keine Bewegung gibt, die clean ist. Bewegungen durchlaufen offenbar zwangsläufig einen ideologischen Dogmatisierungsprozess, weil sie auf diese Weise erst die Kraft aufbringen, gegen Widerstände anzugehen. Das lässt sich auch an der Ökobewegung oder der Frauenbewegung vorführen.“

In diesem Zusammenhang kam er von sich aus auf die Kritik von Jürgen Habermas an der APO zu sprechen:

„Ich habe einmal mit Jürgen Habermas über 1968 und die Folgen diskutiert. Ich habe ihm gesagt, unser größter Fehler sei der Mangel an demokratischer Sensibilität gewesen, und ich habe ihm im Nachhinein Recht gegeben für seinen Satz vom Linksfaschismus der Studenten.“

Auf die Rückfrage, ob die Ereignisse im Gefolge des 2. Juni 1967 bereits „Linksfaschismus“ gewesen seien, antwortete Bendit:

„Es war antiautoritär, libertär, sozialromantisch, zärtlich und solidarisch, aber auch linksautoritär und linksstalinistisch. In der Erscheinungsform ähnelte es dann dem faschistoiden Gebaren.“

Auf die weitere Rückfrage, ob auch Joschka Fischers Verhalten gegenüber einem Polizisten, den er mit vier „Straßenkämpfern“ und Steinen in der Hand verprügelte, „linksfaschistisch“ gewesen sei, antwortete er:

„Nein, es ist Linksmachismus. Wir hatten so oft Prügel von der Polizei bezogen, dass sie beschlossen, nicht mehr wegzulaufen – sie wollten endlich einmal ihren Mann stehen. Unsere Selbstgerechtigkeit, unsere Unfähigkeit zu offenen Diskussionen, die uns Peter Boenisch zu recht vorhält, ist ein wahrer wunder Punkt […] Ich hätte schon viel früher zu dem Polizisten gehen sollen, der bei der Meinhof-Demonstration im Mai 1976 von einem Molotow-Cocktail schwer verletzt wurde.“

Nationaler Sozialismus

Anknüpfend an das faschistische Selbstverständnis haben auch manche Historiker soziale, antikapitalistische Elemente innerhalb des europäischen Faschismus als „Linksfaschismus“ etikettiert. Otto-Ernst Schüddekopf etwa schrieb in dem Buch Bis alles in Scherben fällt – Die Geschichte des Faschismus (Bertelsmann 1973):[14]

„Andere faschistische Bewegungen in Europa aber nahmen den Sozialismus durchaus ernst, so daß in der Typologie auch von ‚Linksfaschismus‘ gesprochen wird. Die französischen Faschisten Marcel Deat, Eugene Deloncle, Jaques Doriot und Valois kamen vom Sozialismus und waren bestrebt, ihn in einer nationalen Form zu realisieren. Auch im Faschismus Mosleys war die sozialistische Komponente durchaus ernst zu nehmen. Seine an Keynes orientieren wirtschaftspolitischen Auffassungen hatte er in der Labour Party und sogar in der linksgerichteten Independent Labour Party entwickelt. Es ging ihm in erster Linie um die Überwindung der Arbeitslosigkeit und die Schaffung gesunder wirtschaftlicher Verhältnisse.“

Hier wird der Begriff also nach Herkunft und Zielen als ein Nationaler Sozialismus aufgefasst. In Frankreich wurde u. a. das Rassemblement National Populaire um Marcel Déat als linksfaschistisch bewertet, in Deutschland der antikapitalistische Flügel in der NSDAP um die Brüder Otto und Gregor Strasser. Diesen Flügel stellte Adolf Hitler jedoch 1926 kalt und zerschlug ihn 1934 durch mit dem angeblichen Röhm-Putsch gerechtfertigte Auftragsmorde endgültig. Überlebende Anhänger der Brüder Strasser kritisierten Hitlers Politik später als Verrat an den ursprünglichen Parteizielen.

Der Politologe Peter von Oertzen sah in der völkisch-antikapitalistischen Komponente einen Grundzug des Faschismus überhaupt, der diesen vom Rechtsradikalismus bürgerlicher und reaktionärer Parteien der Weimarer Zeit unterschieden habe.

Von einigen rechtsextremen Gruppen wird der Begriff positiv verwendet, um Teile des linksextremen Wählerpotentials mit einer Querfront-Strategie zu vereinnahmen: Demnach soll der Antikapitalismus der gemeinsame Nenner von Nationalisten und Sozialisten sein. So heißt es in einem Artikel vom Kampfbund Deutscher Sozialisten zu den „Überläufern“ ehemaliger SDS-Mitglieder wie Horst Mahler, Wolfgang Lefevre oder Bernd Rabehl:[15]

„Diese „rechten Leute von links“ haben in der Tat durch ihren Kampf gegen die multikriminelle Massengesellschaft und die Amerikanisierung unseres Lebens die antikapitalistischen, antiimperialistischen und sozialistischen Wurzeln des Nationalismus wieder freigelegt. Als Linke haben sie bewusst einen Schlußstrich gezogen zur Antifa-Linken, die im Interesse des US-Imperialismus die eigene Nation beschmutzt. In gleicher Weise haben sie aber auch einer neoliberalen „Rechten“ die antikapitalistischen Leviten gelesen.“

Geschichtsrevisionisten und Rechtsextremisten

Seit dem Historikerstreit 1986 verwenden Geschichtsrevisionisten den Begriff, um Nationalsozialismus und Stalinismus als „Spielarten“ des Faschismus einzuordnen. Damit soll auch der Holocaust relativiert werden: Stalins Verbrechen sollen als gleichrangige oder schlimmere Vorläufer und Vorbilder für die Verbrechen des Hitlerregimes erscheinen.

Dabei berufen sie sich oft auf Ernst Nolte, der den Nationalsozialismus schon in seinem Werk Der Faschismus in seiner Epoche (1963)[16] und dann vor allem in einer Rede am 6. Juni 1986 als Reaktion auf den Stalinismus darstellte.[17]

Rechtsextreme Parteien wie die NPD, aber auch Vertreter der Neuen Rechten benutzen den Begriff heute gegen politische Gegner, die aus ihrer Sicht linksextrem sind: vom antifaschistischen Spektrum über Die Linke bis zu den Grünen und SPD-Vertretern, die einen „Aufstand der Anständigen“ (Gerhard Schröder) befürworten. Dabei nehmen sie auf historische Entstehung und Inhalt des Faschismusbegriffs keine Rücksicht, so dass der Korrelatbegriff „Linksfaschismus“ ihnen ausschließlich zur Diffamierung anderer und Selbstaufwertung als „demokratischer Rechter“ dient.

So behauptete Klaus Hornung 2000 in der Jungen Freiheit:[18]

„Die (extreme) Linke war schon immer Meister im Besetzen der Begriffe und damit der Köpfe – beginnend mit Marx und Lenin. Der rot-grüne Block in Deutschland und seine willigen Helfer in den Medien haben diese Tradition seit Jahren erfolgreich fortgesetzt. Es ist ihnen gelungen, den eigenen politischen Standpunkt und Willen als den allein „demokratischen“ auszugeben und die Gegner mit den Begriffs-Keulen ‚Faschismus‘, ‚Rassismus‘, ‚Fremdenfeindlichkeit‘ etc. zu belegen und damit a priori aus dem politischen Diskurs auszuschalten. […] Der Linksfaschismus marschiert im Gewand der antifaschistischen Demokratie.“

Peter Sloterdijk

Streit um Gentechnik

Der deutsche Philosoph Peter Sloterdijk problematisierte seit 1999 in Vorträgen und Aufsätzen aktuelle Entwicklungen der Biowissenschaften (so etwa in der Elmenauer Rede) und benutzte dabei Begriffe wie „Menschenzucht“ und „Anthropotechnik“. Er wollte den Abbau staatlicher Vorschriften, um die Keimbahntherapie und pränatale Diagnostik samt Selektion von „fehlerhaften“ Embryonen zum Regelfall zu erheben. Dies löste eine heftige Debatte aus. Habermas warf Sloerdijk genuin faschistisches Gedankengut vor. Sloterdijk antwortete, Habermas versuche, „eine ganze Nation mit seinen linksfaschistischen Agitationen zu bewegen“.[19]

In diesem Konflikt ging es auch um das Erbe der Kritischen Theorie, die Sloterdijk für „tot“ erklärte: Die Philosophie solle sich endlich zu einer „kopernikanischen Mobilmachung“ bekennen und eine „ptolemäische Abrüstung“ vornehmen. Er meinte damit das Ablegen von aus seiner Sicht überholten, dogmatischen Ideologien, besonders im Bereich der marxistisch beeinflussten Sozialwissenschaften.

Die Diskussion um den Faschismusbegriff ist also durch die ethische Problematik der neuen biologischen und medizinischen Möglichkeiten, die die Gentechnik eröffnet, wieder in Gang gekommen. Die Sorge, dass eine Auswahl von „höherwertigem“ zu Ungunsten von „lebensunwertem“ Leben unter der Hand durch das Schaffen von Fakten an Raum gewinnt, ist schon seit Beginn der 1970er-Jahre in der Theologie ausgesprochen worden.[20]

Systemvergleich

In einem Interview sagte Peter Sloterdijk 2005:[21]

„Dass sich der linke Faschismus als Kommunismus zu präsentieren beliebte, war eine Falle für Moralisten. Mao Tse-tung war nie etwas anderes als ein linksfaschistischer chinesischer Nationalist, der anfangs den Jargon der Moskauer Internationale pflegte. Gegen Maos fröhlichen Exterminismus gehalten, erscheint Hitler wie ein rachitischer Briefträger. Doch man scheut noch immer den Vergleich der Monstren. Das massivste ideologische Manöver des Jahrhunderts bestand ja darin, dass der linke Faschismus nach 1945 den rechten lauthals anklagte, um ja als dessen Opponent zu gelten. In Wahrheit ging es immer nur um Selbstamnestie. Je mehr die Unverzeihlichkeit der Untaten von rechts exponiert wurde, desto mehr verschwanden die der Linken aus der Sichtlinie.“

Sloterdijk bezieht den Begriff in seinem Werk „Zorn und Zeit“ (2006) auf den gesamten Realsozialismus unter Lenin, Stalin und Mao. Er listet dort eine Reihe charakteristischer Merkmale auf, die das sowjetische und chinesische System mit dem Faschismus vergleichbar machen:

  • Führerprinzip: inszenierte Beziehung zwischen Führer/Führern und Geführten,
  • Militarismus: Kult der Militanz als Lebensform, Aufmärsche, Paraden, Übertragung des militärischen Habitus auch auf ökonomische Produktion,
  • Zentralismus der Führung,
  • Kollektivismus,
  • Demokratiefeindlichkeit: Verachtung und Hass gegenüber freiheitlichen Verkehrsformen, bürgerlicher Kultur und liberalen Werten der Zivilgesellschaft, Misstrauen gegenüber Individualismus und Pluralismus,
  • Monopolisierung des öffentlichen Raums und der Medien durch Parteipropaganda,
  • Daueragitation der gesamten Gesellschaft, Zwangsenthusiasmus zugunsten der als revolutionär erklärten Sache,
  • Bildung und Erziehung als Indoktrination,
  • Unterwerfung der Wissenschaften unter das Gesetz der Parteilichkeit,
  • Verächtlichmachung des Pazifismus,
  • Zentrale Bedeutung des Geheimdienstes und Ausspitzelung auch der eigenen Gefolgschaft,
  • Neigung zur Ausmerzung des politischen Gegners, der als Feind gilt,
  • Funktionalisierung des Rechtswesens,
  • Aufhebung des neuzeitlichen Tötungsverbotes: Töten im Dienst der als gut erklärten Sache.

Siehe auch

Literatur

deutsch
  • Johannes Agnoli: Faschismus ohne Revision. submotto 1997, dt. Ausgabe ça ira-Verlag, ISBN 3-924627-47-9
  • Jürgen Habermas: Protestbewegung und Hochschulreform. Springer Series on Atoms and Plasmas, Suhrkamp Verlag (1. Auflage 1970) 2008, ISBN 3-518-41984-6
  • Wolfgang Abendroth (Autor), Oskar Negt (Hrsg.): Die Linke antwortet Jürgen Habermas. Europäische Verlagsanstalt, 1968, ASIN B0000BSDVH
  • Peter Sloterdijk: Zorn und Zeit. Politisch-psychologischer Versuch. Suhrkamp, Frankfurt am Main 2008, ISBN 3-518-45990-2
englisch
  • R.A. Wallace, A. Wolf: Contemporary Sociological Theory: Continuing the Classical Tradition. Third Edition, 1991
  • Irving Louis Horowitz: Winners and Losers: Social and Political Polarities in America, Duke University Press, 1984.
  • Richard Wolin: The Seduction of Unreason: The Intellectual Romance with Fascism: from Nietzsche to Postmodernism, Princeton University Press, 2004

Einzelnachweise

  1. dtv-Lexikon zur Geschichte und Politik im 20. Jahrhundert, hrsg. v. Carola Stern, Thilo Vogelsang, Erhard Klöss und Albert Graff, dtv-Verlag, München 1974. S. 483
  2. Luigi Sturzo: Das bolschewistische Rußland und das fascistische Italien, S. 225: zitiert in: Gamal Morsi: Amerika ist immer woanders. Die Rezeption des American Dream in Italien, Tectum Verlag, 2001, ISBN 3-8288-8325-7, S. 86
  3. zitiert nach Heinrich Potthoff: Kurt Schumacher – Sozialdemokraten und Kommunisten (Referat bei der Friedrich Ebert Stiftung, September 1999)
  4. Otto Rühle (1939): Brauner und roter Faschismus
  5. Gerhard Bauß: Die Studentenbewegung der sechziger Jahre, Pahl-Rugenstein, Köln 1977, ISBN 3-7609-0320-7, S. 64
  6. Gretchen Dutschke-Klotz: Rudi Dutschke. Eine Biographie, Kiepenheuer & Witsch, 4. Auflage 1996, S. 136
  7. Rudi Dutschke, Hans-Jürgen Krahl: Organisationsreferat auf der XXII. Delegiertenkonferenz des Sozialistischen Deutschen Studentenbundes, 5. September 1967
  8. Rudi Dutschke: Jeder hat sein Leben ganz zu leben. Die Tagebücher 1963–1979, btb-Verlag, Köln 2005, ISBN 3-442-73202-6, S. 45
  9. Oskar Negt: Studentischer Protest – Liberalismus – „Linksfaschismus“, in: Hans Magnus Enzensberger (Hrsg.): Kursbuch 13, Juni 1968, Suhrkamp Verlag, Frankfurt 1968, S. 179 ff
  10. Horst Ehmke: Der demokratische Verfassungsstaat als fortwährende Aufgabe, Referat auf dem Parteitag der Sozialdemokratischen Partei Deutschlands vom 17. bis 21. März 1968 in Nürnberg, zitiert in: Hanno Beth: Rechtsradikalismus, Linksradikalismus, Linksfaschismus – Bemerkungen zu gängigen Schlagworten (PDF, S. 1)
  11. zitiert nach Gerhard Bauß: Die Studentenbewegung der sechziger Jahre, a.a.O., S. 64
  12. zitiert nach Gerhard Bauß: Die Studentenbewegung der sechziger Jahre, a.a.O., S. 64
  13. alle folgenden Zitate in: France-Mail-Forum 22 (Mai 2001): Stefan Aust, Gunther Latsch, Georg Mascolo und Gerhard Spörl im Gespräch mit Daniel Cohn-Bendit
  14. zitiert nach Micha Togram („Gegenangriff“ 2001): Linke und rechte Sozialisten vereint – gemeinsam schlagen wir jeden Feind!
  15. Micha Togram („Gegenangriff“ 2001): Linke und rechte Sozialisten vereint – gemeinsam schlagen wir jeden Feind!
  16. Ernst Nolte: Der Faschismus in seiner Epoche. Action francaise – Italienischer Faschismus – Nationalsozialismus. (München 1963) Neuausgabe 2000, ISBN 3-7610-7248-1
  17. Ernst Nolte: Die Vergangenheit, die nicht vergehen will. Eine Rede, die geschrieben, aber nicht gehalten werden konnte (dokumentiert vom Deutschen Haus der Geschichte)
  18. Klaus Hornung (Junge Freiheit 42/00, 13. Oktober 2000): Kolumne: Begriffshoheit
  19. DPA, 23. September 1999: Sloterdijk wirft Habermas „linksfaschistische Agitation“ vor
  20. z. B. von Karl Rahner: Zum Problem der genetischen Manipulation aus der Sicht des Theologen, siehe 1999 Rudolf Öller, Welt der Wissenschaft 1999: Die Menschenzüchter kommen
  21. Michael Klonowsky, Interview mit Peter Sloterdijk (Focus 31/2005): „Die Freigabe aller Dinge“

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