Schalamow

Schalamow

Warlam Tichonowitsch Schalamow (russisch Варлам Тихонович Шаламов;* 18. Junijul./ 1. Juli 1907greg. in Wologda; † 17. Januar 1982 in Moskau) war ein Schriftsteller, Oppositioneller und Dissident in der Sowjetunion.

Inhaltsverzeichnis

Biografie

Warlam Schalamow wurde am 18. Junijul./ 1. Juli 1907greg. in Wologda, einer Stadt ca. 500 km nordöstlich von Moskau, geboren. Sein Vater, Tichon Schalamow, war orthodoxer Priester und hatte zwölf Jahre lang als Missionar in den Vereinigten Staaten gelebt, seine Mutter, Nadeschda Schalamowa, war Lehrerin. Er war der jüngste von insgesamt fünf Geschwistern.

1923 beendete Warlam Schalamow die Schule und reiste ein Jahr später nach Moskau, wo er als Gerber in einer Lederwarenfabrik arbeitete. 1926 begann er ein Jurastudium an der Juristischen Fakultät der Moskauer Lomonossow-Universität. In der Folgezeit sympathisierte er zunehmend mit der sowjetischen Linken Opposition. 1927 nahm er an der Demonstration zum 10. Jahrestag der Oktoberrevolution teil, bei der Kritik zur politischen Entwicklung in der Sowjetunion vorgebracht wurde, die damals bereits sehr stark von Josef Stalin beeinflusst war. Schalamow trug auf der Demonstration ein Transparent mit der Aufschrift "Nieder mit Stalin". Wenig später wurden auf dem XV. Parteitag der sowjetischen KPR (B) am 2. Dezember 1927 sämtliche führenden Oppositionellen aus der Regierungspartei ausgeschlossen. (→Leo Trotzki, →Grigori Jewsejewitsch Sinowjew) Damit war der Machtkampf in der Sowjetunion bereits zugunsten Stalins entschieden worden. Trotzdem blieb Schalamow Anhänger der Opposition und beteiligte sich weiterhin, nunmehr in zunehmend konspirativer Form, an Aktionen, die gegen den Machtzuwachs von Stalin gerichtet waren. Er sah sich dabei durchaus als Erben der russischen revolutionären Bewegungen des 19. und frühen 20. Jahrhunderts an. [1] Im Gegensatz zu seinen Vorgängern hatte er jedoch einen viel höheren Preis für seine politische Meinung zu zahlen.

Am 19. Februar 1929 wurde er in einer illegalen Universitätsdruckerei wegen der Verbreitung von Lenins Testament, eines Briefes Lenins vom Dezember 1922 an den Parteitag der KPdSU, verhaftet. Sein Jurastudium war damit hinfällig. Bis März 1929 wurde Schalamow im berüchtigten Moskauer Butyrka-Gefängnis gefangengehalten. Im Anschluss wurde er zu drei Jahren Haft im sowjetischen Straflagersystem GULag und zu fünf Jahren Verbannung in den Norden der Sowjetunion verurteilt. 1929 bis 1931 war Schalamow Gefangener der Wischera-Abteilung des zu diesem Zeitpunkt als "Solowezker Sonderlager" bezeichneten GULag (Lagerpunkt Krasnowischersk) und leistete dort in einer Holzfabrik Zwangsarbeit. Im Oktober 1931 wurde er vorzeitig aus dem Lager entlassen und fand beim Bau eines Chemiekombinats in Berezniki Arbeit.

1932 kehrte Schalamow nach Moskau zurück. 1933 starb sein Vater und nur ein Jahr später auch seine Mutter. Schalamow heiratete 1934 Galina Gudz, und ein Jahr später wurde ihre Tochter Galina geboren. In den Jahren von 1934 bis 1937 arbeitet Schalamow in Moskau als Journalist und veröffentlichte neben seinen Artikel auch Essays und ein Kurzgeschichte.

Im Januar 1937 wurde Schalamow im Zuge der Großen Säuberung wieder verhaftet, diesmal wegen „konterrevolutionärer trotzkistischer Tätigkeit“. Seine erste Frau ließ sich umgehend von ihm scheiden. Er wurde ohne Gerichtsverhandlung zu fünf Jahren Zwangsarbeit im Besserungsarbeitslager verurteilt. Im August gelangte Schalamow mit dem Schiff in der Bucht Nagajewo am ochotskischen Meer im Nordosten Sibiriens, in der Region Kolyma, an. Er musste im Goldbergwerk „Partisan“ Zwangsarbeit leisten. Im Dezember 1938 wurde Schalamow im Zusammenhang mit einer durch die Lagerverwaltung konstruierten „Juristenverschwörung“ [2] verhaftet und in das Gefängnis von Magadan eingeliefert.

Bis August 1940 arbeitete Schalamow in einem Lager am „Schwarzen See“ als Wasserkocher, als Helfer eines Topographen und als Helfer bei Erdarbeiten. Im August 1940 wurde Schalamow in den Lagerpunkt Arkagala verlegt und arbeitete dort in einem Kohlebergwerk. Obwohl seine die Haftzeit 1942 endete, wurde seine Internierung ohne weitere Begründung bis zum Kriegsende verlängert. Von Dezember 1942 bis Mai 1943 wurde Schalamow in das Strafbergwerk Dschelgala verlegt. Im Mai 1943 wurde Schalamow in Jagodnoje (Oblast Magadan) noch einmal wegen "konterrevolutionärer Tätigkeit" zu zehn Jahren Besserungsarbeitslager verurteilt. Diese Tätigkeit bestand darin, dass er den Autor Iwan Bunin, welcher 1920 nach Frankreich emigriert war, als einen klassischen russischen Schriftsteller bezeichnete. [3] Schalamow wurde krank und gelangte im Herbst 1943 in den Krankenlagerpunkt „Belitschja". Vom Dezember 1943 bis zum Sommer 1944 musste er jedoch wieder in der Grube „Spokojnyj“ (Ruhe) arbeiten. Im Sommer 1944 wurde er erneut denunziert und wieder arrestiert. Im Frühjahr 1945 gelangte er in die Waldlageraußenstelle des Lagerpunktes von Jagodnoje. Er wird wieder krank und wird noch einmal nach „Belitschja“ eingeliefert. Im Herbst 1945 arbeitete Schalamow in einer Außenstelle der Holzfäller, der „Diamantenquelle“. Ein Fluchtversuch misslang, er wurde angeklagt und landete erneut im Strafbergwerk.

Schalamows Odyssee durch die Lager der stalinistischen Sowjetunion nahm kein Ende. Zwischen 1945 und 1951 arbeitete er in Dschelgala, in Sussuman und am Fluss Duskanja. Er begann, Kurse für Arzthelfer zu besuchen und erhielt eine leichte Tätigkeit in der chirurgischen Abteilung des Zentralen Lagerkrankenhaus im „Uferlager“. Schalamow begann heimlich Gedichte zu schreiben, die „Kolymaer Hefte“ entstehen.

Von 1950 bis 1953 war Schalamow Arzthelfer in der Aufnahme des Zentralen Lagerkrankenhauses. Am 13. Oktober 1951 wird er aus dem Lager entlassen, bleibt aber als Freigelassener bis zum August 1953 Arzthelfer des Lagerpunktes in Kjubjuma. Am 30. September 1953 beendet Schalamow seine Tätigkeit für die staatliche Straßenbaugesellschaft Dalstroi des sowjetischen Innenministeriums (MWD), der die Straflager des Gebietes um Magadan untergeordnet waren. Er hatte von der sowjetischen Staatssicherheit (ab 1945 bis 1954 NKGB) die Erlaubnis erhalten, sich wieder im europäischen Teil der Sowjetunion niederlassen zu dürfen. Nach seiner Rückkehr wurde er mit der Zerstörung seiner Familie konfrontiert; seine inzwischen erwachsene Tochter weigerte sich, ihn als Vater anzuerkennen, da ehemalige GULag-Häftlinge als Verbrecher galten.

Vom November 1953 bis zum Oktober 1956 lebte Schalamow in der Gegend von Kalinin (heute Twer) in Zentralrussland. 1954 begann er heimlich mit der Arbeit an den „Erzählungen aus Kolyma“, an denen er bis Anfang der 70er Jahre schrieb. Nach dem Tod Stalins 1953 und der offiziellen Distanzierung Nikita Chruschtschows vom Stalinismus wurde Schalamow am 18. Juni 1956 in Bezug auf die gegen ihn erhobenen Anklagen von 1937 rehabilitiert. Im selben Jahr heiratete er die Schriftstellerin Olga Nekljudowa und zog wieder nach Moskau. 1957 erschienen erste Gedichte Schalamows in sowjetischen Literaturzeitschriften, von 1961 bis 1971 vier weitere Male. 1958 erkrankte der 51-jährige und wurde invalidisiert. 1966 ließ er sich von seiner zweiten Frau scheiden.

1968 bis 1971 arbeitete Schalamow an seinen Kindheitserinnerungen „Das vierte Wologda“ und 1970 bis 1971 an „Wischera. Ein Antiroman“. Nach der Fertigstellung der „Erzählungen aus Kolyma“ schmuggelte er das Manuskript aus der Sowjetunion in die BRD. Dort und in Frankreich erschienen sie bereits 1971 in deutsch und französisch. Eine Auswahl seiner „Erzählungen aus Kolyma“ in russischer Sprache im Tamisdat in London folgte 1978. Nachdem diese Veröffentlichung der sowjetischen Staatssicherheit (ab 1956 KGB) bekanntgeworden war, wurde Schalamow dazu gezwungen, eine Erklärung zu unterschreiben, in der er bekanntgab, das die in den Kolymageschichten behandelte Thematik seit dem 20.Parteitag der KPdSU nicht mehr relevant sei. Schalamow war durch die Veröffentlichung neben Solschenizyn einer der im Westen bekannten sowjetischen Dissidenten geworden.

Ab 1979 lebte Schalamow in einem Altersheim. 1980 erhielt er die Freiheitsprämie des französischen P.E.N.-Clubs.

Schalamow starb am 17. Januar 1982 in einer Nervenheilanstalt. [4] Nach dem Ende der Sowjetunion wurde Schalamow im Jahr 2000 auch in Bezug auf die Anklage von 1929 postum rehabilitiert.

Rezeption

Die Region Kolyma, in der Schalamow insgesamt 17 Jahre seines Lebens verbringt, ist nach normalen Maßstäben unbewohnbar, im Winter herrschen dort Temperaturen bis zu 60 Grad unter Null. Weil unter diesen Bedingungen eine Flucht kaum möglich ist, verzichten die Lagerarchitekten großzügig auf Stacheldraht. Der Tod durch Arbeit wird billigend in Kauf genommen. Nach 1945 nennt man diese Lager deshalb auch „Auschwitz ohne Öfen“.

Warlam Tichonowitsch Schalamow wird heute in einem Atemzug mit Imre Kertész, Primo Levi und Jorge Semprún genannt. Er gibt in seinen lakonischen Erzählungen aus dem Gulag Zeugnis von der sowjetischen Variante des europäischen Terrorsystems des 20. Jahrhunderts und schließt damit eine historische wie auch literarische Lücke, die bis zum Ende der Sowjetunion offen geblieben war. Im Gegensatz zu den westeuropäischen Autoren, die zunehmend an Anerkennung und Ansehen gewannen, war das Schreiben Schalamows bis zu seinem Tode 1982 ein Wagnis.

Die „Erzählungen aus Kolyma“, die als Hauptwerk Schalamows gelten, zählen neben den Werken Alexander Solschenizyns zu den wichtigsten Texten über den Gulag. Im Gegensatz zu Solschenizyn versucht Schalamow nach seiner Rehabilitierung allerdings, sich mit dem sowjetischen System zu arrangieren und wehrt sich gegen die Instrumentalisierung seiner Person für eine antisowjetische Protestbewegung. Nach seiner Rückkehr aus dem Lager sind für Schalamow „die Maßstäbe verschoben“. Er hat erfahren, dass sich der Mensch unter bestimmten Bedingungen in kürzester Zeit in ein Tier verwandeln kann und erkennt „die außerordentliche Fragilität der menschlichen Kultur und Zivilisation“.

Die erste Werkausgabe Schalamows außerhalb Russlands erscheint ab 2007 im Verlag Matthes & Seitz Berlin. Zum 100. Geburtstag Warlam Schalamows erschien im Juni 2007 die Ausgabe der Zeitschrift Osteuropa unter dem Titel „Das Lager schreiben. Varlam Šalamov und die Aufarbeitung des Gulag“[5].

Einzelnachweise

  1. Sirotinskaja, Irina P. (ed.): K stoletiju so dnja roždenija Varlama Šalamova. Materialy meždunarodnoj konferencii; Antikva Moskau 2007 ; ISBN 5-87579-104-7
  2. Der Chef der sowjetischen Staatssicherheit (1934 bis 1945 NKWD) Nikolai Jeschow war Anfang Dezember 1938 von seinem Posten abgelöst und durch Lawrenti Beria ersetzt worden. Berija begann die Behörde von Mitarbeitern zu säubern, die er für Anhänger von Jeschow hielt. Daher korreliert der Zeitpunkt der „Juristenverschwörung“ sehr stark mit diesem Wechsel, weil die Magadaner Lagerverwaltung ihren neuen Chef von ihrer Linientreue überzeugen wollte.
  3. Vorwort der englischen Ausgabe der Kolymageschichten; Penguin Books 1994 ; ISBN 0-1401-8695-6
  4. War das ein letzter Versuch, Schalamow zu diskreditieren ? Siehe Yuri Below (Herausgeber), Christiane Freese (Herausgeber): Die Psychiatrie als politische Waffe: Dokumentation über den Missbrauch der Psychiatrie zu politischen Zwecken in der UdSSR (Broschüre), 1986
  5. Publikation (Dt. Gesellschaft für Osteuropakunde: Das Themenheft "Das Lager schreiben. Varlam Shalamov und..." (5. Juli 2007) Online

Werke in deutscher Übersetzung

  • "Schocktherapie". Kolyma-Geschichten

Aus dem Russischen von Thomas Reschke. Berlin: Volk und Welt, 1990. ISBN 3-353-00749-0

  • "Durch den Schnee". Erzählungen aus Kolyma, Band 1

Aus dem Russischen von Gabriele Leupold. Herausgegeben und mit einem Nachwort von Franziska Thun-Hohenstein. Berlin: Matthes & Seitz, 2007. ISBN 978-3-88221-600-4

  • "Linkes Ufer". Erzählungen aus Kolyma, Band 2

Aus dem Russischen von Gabriele Leupold. Herausgegeben von Franziska Thun-Hohenstein. Berlin: Matthes & Seitz, 2008. ISBN 978-3-88221-601-1

  • "Ankerplatz der Hölle." Erzählungen Gedichte Briefe Fotos.

Hrsg. von Nadja Hess und Siegfried Heinrichs. Erzählungen ausgewählt und übertragen von Barbara Heitkam. Gedichte, Briefe und Essays übertragen von Kay Borowsky. Mit einem Essay von Jewgenij Schklowskij. Berlin: Oberbaum 1996, 253 Seiten ISBN 3-926409-80-0. Abb. des Verlags-Umschlags → [1]

Werke

  • Три смерти доктора Аустинo (Kurzgeschichte Die drei Tode des Doktors Austino); Journal Oktober (1936)
  • Собрание сочинений в четырех томах (komplette Werkausgabe - 2 Bände); Vagrius and Khudozhestvennaya Literatura St. Petersburg 1998 ;ISBN 5-280-03163-1, ISBN 5-280-03162-3
  • Воспоминания (Memoiren); АСТ и др. Moskau 2001; ISBN 5-17-004492-5

Literatur über Warlam Schalamow

  • Irina Pawlowna Sirotinskaja (Hrsg.): K stoletiju so dnja roždenija Varlama Šalamova. Materialy meždunarodnoj konferencii; Antikva Moskau 2007 ; ISBN 5-87579-104-7

Weitere Biografien sowjetischer Schriftsteller und Künstler

Weblinks


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