Schenkwirtschaft

Schenkwirtschaft

Der Begriff Schenkökonomie (auch „Kultur des Schenkens“) bezeichnet eine Theorie innerhalb des Strukturfunktionalismus. Die Schenkökonomie ist demzufolge ein soziales System, in dem Güter und Dienstleistungen ohne direkt erkennbare Gegenleistung weitergegeben werden, meist allerdings mit verzögerter Reziprozität.[1][2] Sie unterscheidet sich somit vom Tauschhandel und gründet sich häufig auf dem Prinzip allgemeiner Solidarität. Ursprünglich wurde der Begriff für ein vorherrschendes Phänomen in primitiven beziehungsweise Stammesgesellschaften verwendet, in denen soziale oder immaterielle Gegenleistungen wie Karma, Ansehen oder Loyalität und andere Formen von Dank erwartet wurden. Anthropologen und andere Wissenschaftler haben aber herausgefunden, dass der wechselseitige Gabentausch auch in rezenten Kulturen vorhanden ist.[3]

Inhaltsverzeichnis

Begriffsherkunft

Erstmalig wird der Ausdruck „Schenkökonomie“ in Marcel Mauss' „Essai sur le don" (1923/24) erwähnt im Zusammenhang mit der Untersuchung des Austausches und der Verteilung von Gaben bei den Indianerstämmen der Tlingit, Haida, Tsimshian und Kwakiutl in Nordamerika. Mauss hat dabei die systemische Bedeutung des Gabentauschs ethnologisch untersucht und Kriterien aufgestellt, nach denen sich Gabentausch grundsätzlich vom Warentausch unterscheidet. In Geschenkwirtschaften wird zwar durchaus eine Gegenleistung erwartet, sie ist jedoch meist nicht materieller Natur und vor allem nicht in derselben Weise formalisiert. Sein bekanntestes Beispiel ist der Potlatch, ein periodisch wiederkehrendes Fest einzelner Indianerstämme, bei welchen der Gabentausch zum Wettbewerb um Großzügigkeit und Verschwendung ausuferte.[2] Mauss geht davon aus, dass es sich beim Gabentausch um ein sozialanthropologisches Grundmuster handelt und das die Gabe sowohl ein beziehungsstiftendes Element, als auch eine Möglichkeit ist den sozialen Abstand zu manifestieren. Zu ähnlichen Schlussfolgerungen kommt auch Bronisław Malinowski der das Phänomen des Kula-Tausches untersuchte, das er bei den gartenbauenden Trobriandern entdeckt hatte.[4]

Begriffsabgrenzung

Die Gabe transportiert das Signal der Achtung und Ehrerbietung gegenüber einer anderen Person. Der Handel im Gegensatz liefert meist keine externe Bestätigung. Die Gabe kann billig, materiell oder symbolisch sein. Sie ist aber mit Kosten, also zunächst negativen Konsequenzen einer Aktion angesichts eines bestimmten Planes und Entscheidungsfeldes, verbunden. Aber die Gabe ist Anerkennung, und Anerkennung ist eine knappe Resource.[5] Die Knappheit der Anerkennung ist bedingt durch die eingeschränkte Verfügbarkeit von Zeit und psychischer Energie.

Gabentausch und perfekte Preisdiskriminierung

Abb.1: Perfekte Preisdiskriminierung unter Monopolbedingungen

Gabentausch beinhaltet zwei Elemente: erstens der Gewinn aus der Transaktion und zweitens die Zufriedenheit aus der Vergabe beziehungsweise des Empfanges der Gabe. Die Effizienz des Gabentausches ergibt sich aus der Kombination dieser Elemente. Mikroökonomisch betrachtet entspricht der Gabentausch einer perfekten Preisdiskriminierung unter Monopolbedingungen (Abb. 1)[6] In diesem Modell, gelingt es dem Anbieter von jedem Kunden den Reservationspreis zu erhalten, also nicht den Marktpreis (Schnittpunkt mit den Grenzkosten), sondern den individuellen Preis auf der Nachfragekurve. Dies bedeutet auch, dass jeglicher Gewinn bei dem Monopolisten entsteht, es gibt keine Konsumentenrente. Unter perfekter Preisdiskriminierung, ist sowohl die Gesamtproduktion als auch der Gewinn der gleiche wie in einem wettbewerbsorientierten Markt, das heißt die Produktion ist genauso effizient. Damit dies geschehen kann, müssen zwei Bedingungen erfüllt sein: Der Monopolist muss den Reservationspreis jedes individuellen Käufers kennen und Arbitrage muss unterbunden sein, das heißt der Weiterverkauf und Handel zwischen den Käufern muss ausgeschlossen sein.[2] Die zweite Bedingung ist beim Gabentausch dadurch gegeben, dass jeder Anbieter Monopolist ist. Das bedeutet die Anerkennung, die er vergibt, ist individuell und kann von niemand anderem vergeben werden, dementsprechend kann sie auch nicht gehandelt oder weiterverkauft werden. Die erste Bedingung, das Kennen des Reservationspreises, ist etwas schwieriger zu erfüllen, es wird aber angenommen, dass durch individuelle Erfahrungswerte und Beobachtungen sich die vergebene Anerkennung an die Bedürfnisse des Empfängers annähert.

Gabentausch und Handel

Abb.2:"Die Grenzen des Gabentausches und des Handels"

Avner Offer hat die Interaktion und die Grenzen des Gabentausches und des Handels anhand der nebenstehenden heuristischen Abbildung (Abb.:2) untersucht. Die Abszisse misst das quantitative Angebot eines bestimmten Gutes (oder aller Güter) innerhalb eines marktwirtschaftlichen Austausches (Handel) oder innerhalb eines Gabentausches. Die Ordinate gibt dabei den Preis (Preisäquivalent) an. Die Abbildung enthält zwei Angebot und Nachfrage Schnittpunkte jeweils für den marktwirtschaftlichen Austausch und den Gabentausch. Beim Gabentausch im Gegensatz zum marktwirtschaftlichen Austausch sind sowohl Angebot- als auch Nachfragefunktionen preisunelastisch, das bedeutet, das das Angebot beziehungsweise die Nachfrage nicht auf Preisveränderungen reagiert.

Der Abschnitt auf der Abszisse zwischen O bis g1 beinhaltet die Güter oder Dienstleistungen, die nur der Gabentausch liefern kann (z.B. romantische Liebe). Der vertikale Gerade g1 − md ist die Marktgrenze und mdms die Marktnachfragekurve. Zwischen gl und g2 gibt es eine Überlappung der Marktangebotskurve msms' und der Nachfragekurve des Gabentausches Ppr. Dies resultiert daraus, dass einige Güter oder Dienstleistungen mit oder ohne Anerkennung angeboten werden. Der Abschnitt Og2 würde dementsprechend eine authentische Wirtschaft mit Gabentausch und marktwirtschaftlichem Tausch und die Gerade g2 − r' die Grenze zwischen Gabentausch und der Marktwirtschaft repräsentieren. Über die Grenze von g2 läuft die Nachfragekurve des Gabentausches abwärts in Richtung des Marktgleichgewichtpreises r' − pr. Dieser Teil der Nachfrage ist außerhalb des Gabentausches soll aber verdeutlichen, dass das Ausnutzen von Anerkennung im Zusammenhang beim Prozess des Verkaufens, sogenannte Pseudoanerkennung, nützlich zur Preisdiskriminierung sein kann. pf1 − ms1 ist die Produktionsgrenze der Marktwirtschaft. Die marktwirtschaftliche Grenzkostenkurve msms' ist elastischer als die Gabentauschangebotskurve. Wenn die Produktivität zunimmt, dann verschiebt sich diese zu g1 − ms'' und die Produktionsgrenze zu pf2. Dies entspricht in der Regel der historischen Transformation von der vorindustriellen Gesellschaft zu derjenigen, die stärker am Markt orientiert ist.[2]

Historische Entwicklung des Gabentausches

Gabentausch beinhaltet genau wie der Handel eine ausgewogene Gegenseitigkeit zwischen Paaren von Tauschpartnern. Das bedeutet, jede Seite erwartet eine gewisse Gleichwertigkeit des Gutes oder der Dienstleistung.[7]

Gabentausch in archaischen Gesellschaften

Im Kula-Tausch der Trobriander, bei welchem wertvollen Muscheln über Hunderte von Kilometern von Person zu Person in einem großen "Ring" weitergegeben werden, ist die Beziehung zwischen jedem Paar von Handelspartnern dyadisch. Dies bedeutet, dass jeder Tauschprozess aus zwei meist gegensätzlichen Positionen zusammengesetzt ist und demzufolge eine ausgewogene Balancierung des Wertes bei jeder Weitergabe erfolgt.[8]. Der Wert eines Kulas ergibt sich dabei aus dem Zusammenhang mit der Fertigung (Arbeit), der Knappheit des Rohmaterials und der besondere Historie des Weiterreichungsprozesses. Äquivalent zu dieser Wertermittlung werden in der Moderne Gemälde bewertet.[7] In diesem Zusammenhang wurde abgeleitet, dass Gabentausch und Handel in einer solchen Art und Weise vollzogen werden, wie sie dem individuellen Nutzen für jede einzelne Partei entspricht.[9]

Gabentausch in der Moderne

In rezenten Kulturen gibt es auch Transfers, die nicht auf einer direkten Gegenseitigkeit beruhen, so zum Beispiel in Form von Organspenden, Wohltätigkeit und Vermächtnissen. Meistens findet jedoch heutzutage der Gabentausch im Kontext der Gegenseitigkeit statt.[3]

Für eine Analyse der inneren Mechanismen der Open-Source-Bewegung wird von Gerd Sebald eine Analogie zur Geschenkökonomie der archaischen Gesellschaften nach dem Muster von Marcel Mauss' Untersuchungen herangezogen. Er schlägt vor, die Hackerkultur als eine Gabentauschkultur zu fassen: Das meiste Ansehen genießt derjenige, der der Gemeinschaft die größten Geschenke bereitet.[10]

Die Vorläufer der heutigen Umsonstläden entstanden Ende der 60er Jahre im Zuge der Protestbewegungen in den USA. Ausgehend von ihrer Kritik am Geld und ihrem Ideal einer Geschenkökonomie gründete die anarchistische Bewegung der Diggers, eine Guerilla-Theatergruppe, neben vielen anderen Freien Aktivitäten wie dem „Free Medical Center“, „Free Stores“ in San Francisco und einen in New York. Auch in Australien gab es Anfang der 70er Jahre einen solchen Free Store in Melbourne, der ebenfalls aus der anarchistischen Bewegung und deren Geldkritik hervorging.[11]

Kritik

Kritiker des Gabentausches postulieren, dass sich durch diesen Verpflichtungen ergeben, mit anderen Worten, eine Schuld ergibt. Der Gebende erhält durch die Gabe einen emotionalen und materiellen Nutzen beziehungsweise Vorteil gegenüber dem Empfänger. Durch einmaliges aber insbesondere wiederholtes Verteilen von Gaben entstehen Bindungen in unterschiedlicher Form: im Sinne einer vertraglichen Verpflichtung (finanziell) und im Sinne von menschlichen Bindungen (emotional). Dies kann soweit gehen, dass Gabentausch die schwächere Partei in eine ständige hierarchische Unterdrückung führt.[12][13]

Siehe auch

Literatur

  • Marcel Mauss: Die Gabe - Form und Funktion des Austauschs in archaischen Gesellschaften. Suhrkamp ISBN 351828343X Original veröffentlicht als Essai sur le don. Forme et raison de l'échange dans les sociétés archaïques 1925, Lewis Hyde nannte das Buch Das klassische Werk über Gabentausch. [14]
  • Lewis Hyde: The Gift: Imagination and the Erotic Life of Property, 1983 (ISBN 0-394-71519-5), insbesondere Teil 1, "A Theory of Gifts", dieser Teil wurde ursprünglich auch als "The Gift Must Always Move" in Co-Evolution Quarterly No. 35, Herbst 1982 publiziert.
  • Theodor Waitz: "Anthropologie der Naturvölker" Von Theodor Waitz, Georg Karl Cornelius Gerland, Georg Gerland. Veröffentlicht 1862. [1] (zum Thema Geschenke), [2] (PDF)

Weblinks

Einzelnachweise

  1. Cheal, David: "The Gift Economy" (1998), Routledge, S.105.
  2. a b c d A. Offer "Between the Gift and the Market: The Economy of Regard", The Economic History Review, New Series, Vol. 50, No. 3 (Aug., 1997), pp. 450-476
  3. a b R. Kranton, "Reciprocal exchange: a self-sustaining system", (University of Maryland, College Park, Md., 1995)
  4. B. Malinowski, "Argonauten des westlichen Pazifik: ein Bericht über Unternehmungen und Abenteuer der Eingeborenen in den Inselwelten von Melanesisch-Neuguinea" Mit einem Vorw. von James G. Frazer. Aus dem Engl. von Heinrich Ludwig Herdt. Hrsg. von Fritz Kramer, Erstveröffentlichung 1922.
  5. S. Gifford, "The allocation of entrepreneurial attention", Journal of Economic Behavior & Organization, 19 (1992), pp. 265-84.
  6. Robert Allen; Frank: Microeconomics and behavior, pp. 393-5.
  7. a b D. Bell: "Modes of Exchange: Gift and Commodity", The Journal of Socio-Economics, Volume 20, Number 2, pages 155-167 (1991), ISSN 1053-5357
  8. B. Malinowski, "Argonauts of the Western Pacific: An Account of Native Enterprise and Adventure in the Archipelagoes of Melanesian New Guinea. ", 1922, pp. 95-99
  9. M. Sahlins, "Stone Age Economics", Routledge Chapman & Hall, 2003, ISBN 9780415320108
  10. Gerd Sebald: Open Source als Geschenkökonomie Geschenkökonomie im luftleeren Raum
  11. Umsonstläden (Arbeitskreis Lokale Ökonomie e.V., Hamburg)
  12. Ein bekanntes Sprichwort dazu ist "With gifts you make slaves" (deutsche: "Mit Gaben machst du dir Sklaven"). Siehe dazu:R. L. Kelly, "The foraging spectrum: diversity in hunter-gatherer lifeways", Washington, D.C.,(1995)
  13. M. Mauss, "The gift: the form and reason for exchange in archaic societies", trans. W. D. Halls (1990, first pub. 1925).p. 37
  14. Hyde, op. cit., xv.

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