Selbstbestimmung der Völker

Selbstbestimmung der Völker

Bei dem Selbstbestimmungsrecht der Völker (vereinzelt auch Wilsonsches System genannt), das im 20. Jahrhundert maßgeblich durch den amerikanischen Präsidenten Woodrow Wilson ins Gespräch gebracht wurde, geht es um einen völkerrechtlichen Rechtssatz, demzufolge jede Nation das Recht hat, frei, also unabhängig von ausländischen Einflüssen, über ihren politischen Status, ihre Staats- und Regierungsform und ihre wirtschaftliche, soziale und kulturelle Entwicklung zu entscheiden.

Inhaltsverzeichnis

Geschichte

Beginn

Das Prinzip der Selbstbestimmung wurde in der Philosophie der Aufklärung so ausdrücklich formuliert und war zunächst ein individuelles Recht, eng verbunden mit dem Kantschen Begriff der „Mündigkeit“. Die Wandlung zum Gruppenrecht begann bereits mit dem Ringen um die Religionsfreiheit.

1659 erschien die Schrift „Gentis Felicitas“ des Johann Amos Comenius (frei übersetzt bedeutet der Titel: „Volkswohlfahrt“). Die Schrift beginnt mit der Definition des Begriffes „Volk“ und leitet im zweiten Absatz aus dem individuellen Glücksstreben auch das Nationale her:

(1) Ein Volk [...] ist eine Vielheit von Menschen, die aus gleichem Stamme entsprossen sind, an dem selben Ort der Erde [...] wohnen, gleiche Sprache sprechen und durch gleiche Bande gemeinsamer Liebe, Eintracht und Mühe um das öffentliche Wohl verbunden sind.
(2) Viele und verschiedene Völker gibt es [...], sie sind alle durch göttliche Fügung in diesem Charakterzug gekennzeichnet: wie jeder Mensch sich selbst liebt, so jede Nation, sie will sich wohlbefinden, im wechselseitigen Wetteifer sich zum Glückszustand anfeuern.

Danach stellt Comenius (jeweils mit Begründung und Erläuterung) 18 Merkmale für „Volkswohlfahrt“ zusammen, darunter einheitliche Bevölkerung ohne Mischung mit Fremden, innere Eintracht, Regierung durch Herrscher aus dem eigenen Volk und Reinheit der Religion.

Im späten 18. Jahrhundert wurde das Selbstbestimmungsrecht der Völker als „Volkssouveränität“ formuliert und errang in der Französischen Revolution und im Unabhängigkeitskrieg der USA den Sieg über das bis dahin als gültig anerkannte dynastische Prinzip. Diese Interpretation des kollektiven Selbstbestimmungsrechts ist somit eine Fortführung seines individuellen (Kantschen) Gegenparts und negiert die ethnische Dimension des Volksbegriffs, die obige Definition beinhaltet. „Volk“ ist im Zusammenhang der bürgerlichen Revolutionen als politische Kategorie zu verstehen, die sich in „vertikaler“, d.h. zu den klassischen Herrschaftseliten (Adel, König), nicht aber in „horizontaler“, d.h. im Gegensatz zu anderen ethnischen Volksgruppen, Abgrenzung manifestiert. In diesem Zusammenhang finden wir hier bereits den entscheidenden Unterschied zwischen einer ethnischen und einer politischen Definition des Begriffs „Nation“.

In dieser Tradition ist das Selbstbestimmungsrecht mit der Idee der Volkssouveränität eng verbunden. Voraussetzung für die Idee der politischen Selbstbestimmung war die Herausbildung des politischen Volksbegriffes im 19. Jahrhundert.

Bereits in den von der französischen Revolution motivierten Bestrebungen zur Bildung von Nationalstaaten im Europa des 19. Jahrhunderts setzte sich jedoch die ethnische Interpretation des Volksbegriffs immer mehr durch. Somit entwickelte sich nach der Durchsetzung des politischen Volksbegriffes nach der Revolution von 1848 die Idee des Nationalitätenprinzips, wonach jede Volksgruppe das Recht auf einen (eigenen) Staat habe. Dies richtete sich vor allem gegen die vielvölkerstaatlichen Königs- und Kaiserreiche des damaligen Europas.

Nach dem Ersten Weltkrieg

Die Idee des Selbstbestimmungsrechts der Völker wurde von Lenin im Oktober 1914[1] propagiert und nach der Schaffung der Union der Sowjetrepubliken konsequent umgesetzt. Bereits 1915 forderte auch Leo Trotzki auf der Konferenz von Zimmerwald das Selbstbestimmungsrecht für die Völker Europas gefordert: „Das Selbstbestimmungsrecht der Völker muss unerschütterlicher Grundsatz in der Ordnung der nationalen Verhältnisse sein“ (Zimmerwalder Manifest). Der US-Präsident Woodrow Wilson übernahm im Rahmen seiner Friedensbemühungen (siehe auch 14-Punkte-Programm) am Ausgang des Ersten Weltkriegs diese Idee, die jedoch nicht für die kolonialisierten Völker gelten sollte.

Nach dem Zweiten Weltkrieg

Nach dem Zweiten Weltkrieg findet sich das Selbstbestimmungsrecht in verschiedenen UN-Dokumenten (siehe sogleich zur Rechtslage). Auch in der sowjetischen Völkerrechtslehre ist zumindest in späteren Jahren meist vom „Selbstbestimmungsrecht der Völker und Nationen“ die Rede. Ihr zufolge ist unter „Volk“ die jeweilige Bevölkerung eines bestimmten Territoriums (unabhängig von der historischen Entwicklung, wie erforderlich für „Nation“ im Sinne Stalins) zu betrachten. Erforderlich sind nur gemeinsames Gebiet und weitere Gemeinsamkeiten geschichtlicher, kultureller sprachlicher und religiöser Art und die Verbindung durch gemeinsame Ziele, die sie mit Hilfe des Selbstbestimmungsrechtes erreichen will. Dem wurde auch durch das Ende der Entstellung des Selbstbestimmungsrechtes (Breshnew-Doktrin) Rechnung getragen. Im konkreten Fall, so bei der Frage der Rechtsstellung Gesamtdeutschlands nach dem Zweiten Weltkrieg, unterschieden sich freilich die Auslegungen gemäß dem jeweiligen Verständnis der Parteien deutlich.

Rechtlicher Status heute

Zur Begründung gibt es neben naturrechtlichen Ansatzmöglichkeiten die Möglichkeit der Herausbildung als Völkergewohnheitsrecht sowie entsprechende Regeln des positiven Völkerrechts.

Die Charta der Vereinten Nationen erwähnt das Selbstbestimmungsrecht der Völker in den Artikeln 1 und 55, jedoch ohne es zu definieren.

Eine bindende Verpflichtung der Vertragsstaaten zur Einhaltung des Rechts auf Selbstbestimmung geht dagegen aus den beiden Menschenrechtspakten der Vereinten Nationen hervor, die 1966 von der UN-Generalversammlung angenommen wurden und nach Erreichen der nötigen Anzahl an Ratifizierungen 1977 in Kraft traten.

Der Internationale Pakt über Bürgerliche und Politische Rechte sowie der Internationale Pakt über Wirtschaftliche, Soziale und Kulturelle Rechte erkennen das Selbstbestimmungsrecht für die Vertragsstaaten bindend an. In beiden Pakten heißt es gleichlautend in Artikel I:

„(1) Alle Völker haben das Recht auf Selbstbestimmung. Kraft dieses Rechts entscheiden sie frei über ihren politischen Status und gestalten in Freiheit ihre wirtschaftliche, soziale und kulturelle Entwicklung.“

„(2) Alle Völker können für ihre eigenen Zwecke frei über ihre natürlichen Reichtümer und Mittel verfügen, unbeschadet aller Verpflichtungen, die aus der internationalen wirtschaftlichen Zusammenarbeit auf der Grundlage des gegenseitigem Wohles sowie aus dem Völkerrecht erwachsen. In keinem Fall darf ein Volk seiner eigenen Existenzmittel beraubt werden.“

„(3) Die Vertragsstaaten, einschließlich der Staaten, die für die Verwaltung von Gebieten ohne Selbstregierung und von Treuhandgebieten verantwortlich sind, haben entsprechend der Charta der Vereinten Nationen die Verwirklichung des Rechts auf Selbstbestimmung zu fördern und dieses Recht zu achten.“

Für die Überwachung der Einhaltung dieser Vertragspflicht sind der UN-Menschenrechtsausschuss sowie der UN-Ausschuss über Wirtschaftliche, Soziale und Kulturelle Rechte verantwortlich. Der konkrete Gehalt dieser Rechtsnorm ist in einem General Comment des Menschenrechtsausschusses aus dem Jahre 1984 formuliert. [2]

Das Selbstbestimmungsrecht der Völker ist, sofern man ihm Rechtscharakter zubilligt, ius cogens (vgl. die Kodifikation in Art. 53 Wiener Vertragsrechtskonvention (WVRK)). Es handelt sich mithin um eine Norm, von der nicht abgewichen werden darf, und die nur durch eine spätere Norm des allgemeinen Völkerrechts derselben Rechtsnatur geändert werden kann. Verträge die gegen das Selbstbestimmungsrecht der Völker verstoßen, sind entsprechend nichtig (vgl. die in Art. 53 WVRK kodifizierte Regel).

Das Selbstbestimmungsrecht schafft grundsätzlich gerade keine Individualrechte, sondern bietet zunächst den Rahmen für deren Entfaltung oder jedenfalls die freie Gruppenbildung; ein Recht des Individuums darauf, dass der Gruppe, deren Mitglied es ist, dieses Recht gewährt wird, besteht freilich.

Eine Ansicht verweist darauf, dass das Selbstbestimmungsrecht oft verweigert wurde, und hält es für kaum mehr als ein politisches Schlagwort. Ein Rechtsanspruch könne erst bestehen, wenn eine genauere Definition des Rechtes und seiner Träger die Gefahr der „Atomisierung“ der Staaten dadurch, dass sich eine unzufriedene Gruppe plötzlich zum Volk erkläre, zumindest verringert habe. Weil dies weder in den Menschenrechtspakten noch in der „Erklärung über Völkerrechtsgrundsätze betreffend die freundschaftlichen Beziehungen über die Zusammenarbeit zwischen den Staaten gemäß der Satzung“ vom 24. Oktober 1970 geschehen sei, könnten die Pakte das Recht nicht gewähren. Dem kann jedoch u. a. entgegengehalten werden, dass weder die bloße fehlende positivrechtliche Durchnormierung (es gibt ja noch andere Quellen außer dem vertraglichen Völkerrecht) noch die Strittigkeit einzelner Bereiche bei grundsätzlicher Konturierung die Rechtsnormqualität hindern und widerspricht übrigens auch dem klaren Wortlaut der existierenden vertraglichen Normen.

Praktische Fragen des Selbstbestimmungsrechtes

Eine Definition des zugrundeliegenden Begriffs „Volk“ ist in den Pakten nicht vorhanden. Als „Volk“ kann entsprechend auch eine kleinere Gruppe innerhalb existierender Staaten verstanden werden, wenn bestimmte Kriterien (z. B. eine gewisse Homogenität, gemeinsame Geschichte und die Selbstidentifikation als distinkte Gruppe) gegeben sind. Auch inwieweit ein Sezessionsrecht Teil des Selbstbestimmungsrechtes der Völker ist, ist umstritten. Daher gibt es der Sache nach im Ergebnis zunächst einmal einen weiten Interpretationsspielraum bei der Bestimmung der Reichweite dieses Artikels. Entsprechend vertreten betroffene Parteien teilweise unterschiedliche Standpunkte, was zu innerstaatlichen Konflikten beitragen kann.

Der Begriff Selbstbestimmungsrecht der Völker wird neben dem juristischen Ansatz auch im Sinne eines ethisch-moralischen Anspruchs verstanden, der gelegentlich zur Untermauerung politischer Ziele herangezogen wird und in vielen Konfliktfällen ein möglicher Lösungsweg für schwelende Konflikte sein könnte. Dabei handelt es sich allerdings dann noch nicht unbedingt um kodifiziertes oder allgemein durchgesetztes Völkerrecht.

So leiten beispielsweise Minderheiten daraus das Recht ab, sich als Volk zu definieren und Autonomie für sich zu beanspruchen, wobei unter Autonomie vom Recht auf Sprache und Brauchtum bis hin zur politischen Eigenstaatlichkeit alles verstanden werden kann. Eine solche Interpretation ist jedoch umstritten.

Die faktische Durchsetzbarkeit oder Durchsetzung des gültigen Rechtes hängt von dem jeweils aktuellen tatsächlichen Machtgefüge und den darin verwobenen Interessen ab.

Ein häufiges Problem sind überlappende Gebietsansprüche mehrerer Ethnien, die sich dabei jeweils auf ihr Selbstbestimmungsrecht berufen oder die Entstehung neuer Minderheiten durch die Begründung von Staaten, die unter Berufung auf das Selbstbestimmungsrecht entstanden sind. Wenn solche Minderheiten nun ihrerseits ihr Selbstbestimmungsrecht realisieren wollen, kann dies zu weiteren Konflikten führen. Konfliktträchtig wird der Anspruch auf Selbstbestimmung auch dann, wenn die natürlichen Ressourcen eines Landes in einem Gebiet besonders konzentriert sind und die in diesem Gebiet dominierende Bevölkerungsgruppe einen größeren Anteil an diesen Ressourcen einfordert.

Ein aktuelles Beispiel ist das Kosovo im ehemaligen Jugoslawien. Wenn den Kosovaren von der UNO ein eigener Staat auf der Basis des Selbstbestimmungsrechtes und ohne die Zustimmung von Serbien gegeben wird, kann dann den verbleibenden Serben im Kosovo und anderen Gebieten das Selbstbestimmungsrecht zum Anschluss an Serbien verwehrt werden? Ein praktisches Problem der Anwendung des Selbstbestimmungsrechtes ist auch regelmäßig, wer überhaupt an der Willensäußerung der Sezession von einem bereits bestehenden Staat teilnehmen darf. Dies gilt insbesondere bei zahlenmäßig relativ kleinen Völkern, bei denen von einem Kolonisator durch Ansiedlungen eigener Volksangehöriger das Erlangen einer Mehrheit zur Abspaltung in Ausübung des Selbstbestimmungsrechtes in Volksabstimmungen nach dem Mehrheitsprinzip rasch effektiv verhindert werden kann bzw. bereits die Abhaltung der Volksabstimmung institutionell verhindert würde. [3]

Probleme nach dem Ersten Weltkrieg

Bis zum Ersten Weltkrieg standen die meisten Völker Mitteleuropas unter der Herrschaft mehrerer europäischer Imperien, des Russischen Reichs, des bereits seit dem 18. Jahrhundert im Zerfall begriffenen Osmanischen Reichs und Österreich-Ungarns. Das Deutsche Reich umfasste zudem einen Teil der polnischen Siedlungsgebiete. Ergebnis des Ersten Weltkriegs war der Zerfall dieser Imperien und die Entstehung neuer Nationalstaaten.

Woodrow Wilsons Konzept bezog sich in allererster Linie auf die „historischen Nationen“ der Polen und Tschechen, die ihre frühere Eigenstaatlichkeit durch Teilung bzw. Unterwerfung eingebüßt hatten und nun unter der Herrschaft der Kontinentalmächte Russisches Reich, Österreich-Ungarn und des Deutschen Reichs standen. Bevölkerungsgruppen ohne eigenstaatliche Vergangenheit wurden in geringerem Maße berücksichtigt.

Aufgrund der ethnischen Gemengelage in den betroffenen Ländern war eine Bildung ethnisch homogener Nationalstaaten ohne massive Bevölkerungsverschiebungen praktisch nicht durchführbar. So entstanden aus den zerfallenen Großreichen überwiegend neue Nationalitätenstaaten, die aber teilweise wie Nationalstaaten regiert wurden.

Hierzu gehören die erste Tschechoslowakische Republik, die die historischen Kronländer Böhmen und Mähren, die zuvor als „Oberungarn“ bekannte Slowakei und die Karpatoukraine umfasste, das als „Königreich der Serben, Kroaten und Slowenen“ begründete Jugoslawien, Rumänien mit der ungarischen und deutschen Bevölkerung in Siebenbürgen wie auch Polen, das große Teile Litauens, Weißrusslands und der Westukraine unter seine Herrschaft brachte. Die prozentual größten Gebietsverluste erlitt dabei Ungarn, das auf ein Drittel des Territoriums verkleinert wurde, das es in der habsburgischen Doppelmonarchie umfasst hatte.

Der Zerfall Österreich-Ungarns

Sowohl Ungarn als auch Deutsche sahen sich in den Nachfolgestaaten Österreich-Ungarns plötzlich in einer Minderheitenposition und forderten dementsprechend - überwiegend erfolglos - eine Umsetzung ihres Selbstbestimmungsrechts ein. Dies betraf insbesondere die Tschechoslowakei, in der die Deutschen die zweitgrößte Bevölkerungsgruppe darstellten.

Der Zusammenschluss Österreichs mit dem Deutschen Reich wäre nur durch die Zustimmung der Alliierten möglich gewesen. Diese lehnten aber eine Union beider Staaten ab, weil dies zur Bildung einer Kontinentalmacht geführt hätte. Die Staatsbezeichnung „Deutsch-Österreich“ wurde von den Alliierten ebenfalls abgelehnt und musste in „Republik Österreich“ geändert werden.

Vertrag von Versailles mit dem Deutschen Reich

Hauptartikel: Friedensvertrag von Versailles und Deutsches Reich

Auch die deutschen Gebietsabtretungen an Polen, Belgien, Frankreich und Dänemark infolge des Versailler Vertrags wurden aus deutscher Sicht als Missachtung des Selbstbestimmungsrechts gewertet, da ein Teil der Abtretungen entweder ohne Volksabstimmung erfolgte oder ihr Ergebnis ignoriert oder manipuliert wurde.

Dekolonialisierung Afrikas

Der afrikanische Kontinent befand sich bis zur Mitte des 20. Jahrhunderts weitgehend unter europäischer Kolonialherrschaft. Auch die Unabhängigkeitsbewegungen dieses Kontinents stützten sich in ihren Bestrebungen auf das Selbstbestimmungsrecht der Völker, jedoch nicht in derselben Weise wie die neuen Nationalstaaten Mitteleuropas. So einigten sich die Mitglieder der Organisation für Afrikanische Einheit frühzeitig darauf, die überwiegend auf der Berliner Kongokonferenz von 1884/1885 festgelegten kolonialen Staatsgrenzen nicht anzutasten. Die meisten afrikanischen Staaten sind nach europäischem Verständnis Vielvölkerstaaten. Ein Selbstbestimmungsrecht, das sich auf einzelne Ethnien bezogen hätte, wurde hier nicht realisiert. Dies geschah angesichts der Befürchtung, dass Grenzrevisionen entlang ethnischer Linien eine nicht endende Kette von Kriegen in Gang gesetzt hätten. Der einzige Fall einer Anerkennung eines später entstandenen Staates ist Eritrea, das sich nach mehreren Jahrzehnten des Kriegs von Äthiopien lossagte. Das seit 1991 de facto unabhängige Somaliland bleibt dagegen ohne internationale Anerkennung und gilt als stabilisiertes De-facto-Regime .

Gleichzeitig existieren in verschiedenen afrikanischen Ländern sezessionistische Tenzenden, die durch den Ressourcenreichtum einzelner Regionen motiviert sind.

Bisher unerfüllt blieb zudem die Forderung der indigenen Sahrauis nach der Unabhängigkeit der Westsahara. Diese stellt heute die letzte Kolonie auf dem afrikanischen Kontinent dar.

Zerfall der Sowjetunion

Die Renaissance der Nationalbewegungen in den Teilrepubliken gehörte zu den wichtigsten Triebkräften, die das Ende der Sowjetunion herbeiführten. Die Vorreiterrolle hatten hierbei die baltischen Staaten, die 1941 im Zuge des Deutsch-sowjetischen Nichtangriffspaktes von der UdSSR okkupiert und dann annektiert worden waren.

Die nationalen Bewegungen in diesen drei Republiken konnten nicht nur beträchtlichen Zulauf bei der Durchsetzung und Anerkennung der souveräner Rechte erreichen, sondern auch die letztendlich erfolgreiche einseitige Loslösung von der Sowjetunion. Es ist zu bemerken, dass bei baltischen Republiken die Frage des Selbstbestimmungsrechts der Völker im Sinne des Völkerrechts beim Zerfall der UdSSR gar nicht in Frage gestellt werden kann, da die Staatlichkeit der baltischen Republiken schon vor der Okkupation der UdSSR existierte und 1990-1992 die (politische) Unabhängigkeit nur zu verkünden war. Neue baltische Staaten sind nach dem Zerfall der UdSSR nicht entstanden, da sie als Staaten auch früher gegolten haben.

Das Vorbild der baltischen Staaten machte zunächst in denjenigen Teilrepubliken Schule, die ihrerseits auf die Tradition von Nationalbewegungen zurückblicken konnten, etwa Georgien und die Ukraine, wurde jedoch auch von Staatsführern adaptiert, deren Staatsnationen überwiegend eine Kreation der Stalin-Ära waren, z.B. Turkmenistan.

Das Konzept des Selbstbestimmungsrechts konnte auch deshalb so in manchen ehemaligen sowjetischen Teilrepubliken einflussreich werden, da Lenin es bereits vor der Oktoberrevolution zum Kern seines Programms gemacht hatte. Seiner Theorie nach war die Sowjetunion ein freies Bündnis freier Völker die ihr Selbstbestimmungsrecht verwirklicht hatten.

Dieser positive Bezug auf das Selbstbestimmungsrecht wurde während der gesamten sowjetischen Epoche beibehalten. Die Ukraine und Weißrussland wurden auf diese Weise - als theoretisch selbstständige Staaten - so Gründungsmitglieder der Vereinten Nationen.

Besonders in den ersten Jahrzehnten wandte das sowjetische Regime erhebliche Mittel für das nation building in den neu gegründeten Republiken Turkestans auf, in dem bis dato keinerlei nationalstaatliche Tradition existierte, sondern der Bezug auf Stammesidentität, Religion und Lebensweise (nomadisch vs. sesshaft) identitätsprägend gewirkt hatte.

Während Lenins Theorie besagte, dass die Nationen, wenn ihnen größtmögliche Selbstbestimmung gewährt würde, auf die Dauer von selbst verschwinden würden, trat historisch das Gegenteil ein: Die Sowjetunion zerbrach 1991 exakt entlang jener Grenzen, die von Lenin und seinem Nationalitätenkommissar Stalin gezogen worden waren.

Dieses Zerbrechen führte nun zur Entstehung erheblicher russischer Minderheiten in den Nachbarstaaten, die nun ihrerseits teilweise die Frage der Selbstbestimmung stellten. Hierzu gehört die gewaltsame russische Abspaltung Transnistriens von Moldawien sowie die Autonomiebewegung auf der mehrheitlich russisch besiedelten Halbinsel Krim. Eine bedeutende russische Minderheit gibt es in Kasachstan. Die Verlegung des Regierungssitzes aus der Metropole Almaty in die nördliche Provinzstadt Akmola durch den autoritär regierenden Präsidenten Nursultan Nasarbajew wird auch als Zugeständnis gegenüber der russischen Bevölkerung erklärt.

Andere blutige Konflikte, in denen sich Parteien auf das Selbstbestimmungsrecht beriefen und berufen sind:

Der Zerfall Jugoslawiens

Auch die Staatsideologie der Sozialistischen Föderativen Republik Jugoslawien ging nominell von einer Eigenständigkeit der Teilrepubliken aus, die etwa in kultureller aber auch in wirtschaftlicher Hinsicht einen gewissen Spielraum genossen. Auch hier gehören einander ausschließende Bezüge auf das Selbstbestimmungsrecht durch mehrere auf einem Territorium siedelnde Ethnien zu den Faktoren, die das blutige Auseinanderbrechen des Staatsverbands während der Jugoslawienkriege herbeiführten. Jedoch hatten auch die Nachfolgestaaten des ehemaligen Jugoslawiens wieder Probleme mit den verschiedenen nationalen Minderheiten in den neuen Staaten. Ein Beispiel ist das Verhältnis der Serben in Kroatien.

Probleme der Gegenwart

Die Missachtung des Selbstbestimmungsrechtes der Völker kann Konflikte auslösen, intensivieren oder gegebenenfalls auch nur bewusster machen. Beispiele aus jüngerer Vergangenheit und in der Gegenwart sind:

  • Die seit Jahrhunderten bis zur Gegenwart anhaltende Nachwirkung der Eroberung Irlands durch England;
  • Der vorangegangene Konflikt um das nunmehr unabhängige Osttimor;
  • Der israelisch-palästinensische Konflikt;
  • Der Kurdenkonflikt in der Türkei, in Syrien, Iran und im Irak;
  • Die Forderung der Südtiroler nach Selbstbestimmung (Italien);
  • Die fortdauernde Herrschaft Indonesiens über das 1963 eroberte West-Papua;
  • Die Autonomieforderungen des Baskenlands und Kataloniens;
  • Die Konflikte innerhalb der russischen Föderation, vor allem in Tschetschenien, sowie im Kaukasus
  • Unabhängigkeitsbestrebungen verschiedener Ethnien Indiens, wie etwa der Naga und der Zo, wobei Gebietsansprüche teilweise mit denen anderer Ethnien konkurrieren;
  • Der Konflikt um das zwischen Indien und Pakistan geteilte Kaschmir;
  • Argumente des Selbstbestimmungsrechtes der Völker spielen auch eine zentrale Rolle bei der Begründung der Rechtsposition der Tibetischen Exilregierung hinsichtlich Tibets. Die Exilregierung geht dabei mit der Haltung des Dalai Lamas bewusst einen gewaltlosen Weg, der sich an buddhistischen Prinzipien ausrichtet.
  • Auch indigene Völker berufen sich in ihren Forderungen zentral auf das Selbstbestimmungsrecht. Aus diesem Grund stellen sich zahlreiche Staaten auf den Standpunkt, es gebe keine indigenen Völker (indigenous peoples), sondern nur indigene Menschen (indigenous people), Siehe: Indigene Völker#Der Streit um das kleine 's'
  • Die Unabhängigkeitserklärung des Kosovo von Serbien
  • Die Unabhängigkeitserklärung Abchasiens und Südossetiens von Georgien

Literatur

  • Johann Amos Comenius. Das Glück des Volkes. Ausgewählte Schriften zur Reform in Wissenschaft, Religion und Politik. Übersetzt und bearbeitet von Herbert Schönebaum. Leipzig: Alfred Kröner, 1924.
  • José A. Obieta Chalbaud. El derecho de autodeterminación de los pueblos. Un estudio interdisciplinar de derechos humanos [In: Publicaciones de la Universidad de Deusto. Volumen 11.]. Bilbao: Universidad de Deusto 1980.
  • Inhalt, Wesen und gegenwärtige praktische Bedeutung des Selbstbestimmungsrechts der Völker. I. Fachtagung, veranstaltet vom 12. - 14. März 1963 in den Räumen der Evangelischen Akademie in Hessen und Nassau, Arnoldshain (Taunus). Vorträge und Aussprachen. Herausgegeben im Auftrag der Evangelischen Akademie in Hessen und Nassau, Arnoldshain (Ts.) und des Albertus Magnus Kollegs, Königstein (Ts.) in Zusammenarbeit mit der Forschungsstelle für Nationalitäten- und Sprachenfragen, Kiel von Kurt Rabl. Mit 6 Kartendiagrammen, 5 Tafeln und 1 Plakatfaksimile [In: Studien und Gespräche über Selbstbestimmung und Selbstbestimmungsrecht. Band I.]. München: Lerche 1964, S. 50 ff.
  • Dieter Blumenwitz. Die Menschenrechtspakte der Vereinten Nationen und das Selbstbestimmungsrecht der Völker, in: Menschenrechte und Selbstbestimmung unter Berücksichtigung der Ostdeutschen. Felix Ermacora, Dieter Blumenwitz, Jens Hacker, Herbert Czaja. Bonn: Kulturstiftung der deutschen Vertriebenen 1980, S. 21 ff.
  • Dieter Blumenwitz und Boris Meissner [Hrsg.]. Das Selbstbestimmungsrecht der Völker und die deutsche Frage. Herausgegeben von Dieter Blumenwitz und Boris Meissner [In: Staats- und völkerrechtliche Abhandlungen der Studiengruppe für Politik und Völkerrecht. Band 2. Herausgegeben von Dieter Blumenwitz... i. V. m. der Kulturstiftung der deutschen Vertriebenen.]. Köln: Wissenschaft und Politik 1984.
  • Uwe Krähnke: Selbstbestimmung. Zur gesellschaftlichen Konstruktion einer normativen Leitidee, Weilerswist: Velbrück. 2007.

Verwandte Themen

Völkerrecht - Staatliche Souveränität - Staat

Siehe auch

Weblinks

Einzelnachweise

  1. Lenin; Über das Selbstbestimmungsrecht der Nationen; in: Ausgewählte Werke, Berlin 1970, S 687 (Original geschrieben Feb./März 1914)
  2. GENERAL COMMENT 12: The right to self-determination of peoples, 13/03/84, [1], überprüft am 23.02.2006
  3. z.B. im Falle des bis 1898 unabhängen und international anerkannten Hawaii gehen die USA davon aus, dass sich US-Bundesstaaten wie bereits anlässlich des Amerikanischen Bürgerkrieges durchgesetzt auf ewig nicht mehr vom Bundesstaat abspalten können - Selbstbestimmungsrecht, Legalität des früheren Anschlusses oder Bestehen eines früheren eigenen Staates und einer eigenen Kultur hin oder her. Dennoch verabschiedete der US-Kongress am 23. November 1993 den sogenannten Apology Bill, mit dem sich die USA für die widerrechtliche Annexion des unabhängigen Königreichs Hawai'i entschuldigen.[2] Praktische Konsequenzen blieben jedoch aus.

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