Selektiver Mutismus

Selektiver Mutismus
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Vergleichende Klassifikation nach
ICD-10   DSM-IV
F94.0 Elektiver Mutismus 313.23 Selektiver Mutismus
ICD-10 online DSM IV online

Elektiver Mutismus (auch: Selektiver Mutismus; lat.: „mutus“ = stumm) bezeichnet in der Kinder- und Jugendpsychiatrie eine emotional bedingte psychische Störung, bei der die sprachliche Kommunikation stark beeinträchtigt ist. Elektiver Mutismus ist durch selektives Sprechen mit bestimmten Personen oder in definierten Situationen gekennzeichnet. Im Unterschied zum „totalen Mutismus“ ist die Verstummung nicht vollständig.

Artikulation, Sprachverständnis und -ausdruck der Betroffenen liegen hingegen in der Regel im Normbereich, allenfalls sind sie leicht entwicklungsverzögert.[1]

Nach heutigem Erkenntnisstand erscheint die Begrifflichkeit des „selektiven Mutismus“ als passendere Beschreibung, da das Verstummen keinesfalls frei gewählt wird und damit also nicht im Wortsinne „elektiv“ ist.[2]

Inhaltsverzeichnis

Beschreibung

Elektiver Mutismus ist keine Sprachstörung im herkömmlichen Sinne, sondern ein zeitlich begrenzter, angstbedingter Sprechabbruch in bestimmten sozialen Situationen oder in Anwesenheit unbewusst ausgewählter Personen. Dies kann so weit führen, dass betroffene Kinder ausschließlich mit bestimmten Personen, meist aus dem engeren familiären Umkreis, sprechen.[3]

Da das Kind trotz eigentlich intaktem Sprachvermögen nicht mehr in der Lage ist, sich lautsprachlich mitzuteilen, wird Mutismus zu den „sekundären Sprachstörungen“ gezählt.

Wechselseitige Auswirkungen

Das Schweigen bedeutet eine große Belastung für alle Betroffenen und Kontaktpersonen. Die betroffenen Kinder und Jugendlichen geraten schnell ins Abseits und können zu Außenseitern werden.

Da der Betroffene nicht generell sprachlos ist, fühlen sich Kommunikationspartner, die auf das selektive Schweigen stoßen, oft provoziert und hilflos, reagieren enttäuscht oder verärgert.

Im Rahmen der Schule entsteht für Lehrer schnell ein Widerspruch zwischen erwünschten pädagogischen Haltungen wie Akzeptanz und Geduld und den institutionell begründeten Ansprüchen wie zeitgerechte Stoffvermittlung und Leistungsbeurteilung. Fehleinschätzungen der wirklichen schulischen Leistungsfähigkeit sind häufig.[4]

Auftreten und Verlauf

Bei einer sehr engen Definition des elektiven Mutismus kann von einer Rate von 0,8 % bei Kindern zwischen fünf und neun Jahren ausgegangen werden.[5] Andere Autoren sprechen von bis zu 1-2 % der Gesamtpopulation.[6][7] Obwohl einer kleinen Untersuchung zufolge die typische Geschlechterverteilung immer wieder mit 2:1 für Mädchen zu Jungen angegeben wird[8], gilt der elektive Mutismus allgemein als einzige „Sprachstörung“, bei der Mädchen ebenso häufig betroffen sind wie Jungen.[4]

Beim elektiven Mutismus handelt es sich um eine relativ hartnäckige Störung, deren Dauer sich oft bis ins späte Schulalter, teilweise auch bis ins Erwachsenenalter, zieht. Obwohl das Schweigen offensichtlich auch ohne Therapie überwindbar ist, weitet sich die Gefahr für eine Beschädigung des Selbstkonzepts und sprachlicher Inkompetenzgefühle ohne eine Therapie aus.[4]

Circa 30-50 % der mutistischen Kinder und Jugendlichen zeigen in einem Katamneseintervall von 5-10 Jahren ein normales Sprechverhalten und eine vergleichsweise gute psychosoziale Anpassung. Die übrigen Betroffenen weisen ein deutlich verbessertes, aber weiter gestörtes Sprechverhalten auf, das sich durch Sprechscheu, Rückzugstendenzen und Angst vor sozialen Kontakten auszeichnet.[5]

Es kann heute grundsätzlich nicht mehr davon ausgegangen werden, dass es sich beim elektiven Mutismus um eine ausschließlich psychogene Störung handelt. Empirische Untersuchungen legen vielmehr nahe, dass durch (a) eine Entwicklungsverzögerung, (b) prämorbide Persönlichkeitsauffälligkeiten und (c) die allgemeine Familienpathologie die Voraussetzungen für das mutistische Verhalten geschaffen werden; das Verstummen wird beim Hinzutreten äußerer Belastungsereignisse ausgelöst.[5]

Diagnose

Die Diagnostik kann die Exploration der Eltern zu Symptomen und Details des Kommunikationsverhaltens sowie die Befragung von Lehrern und Erziehern, aber auch eine Verhaltensbeobachtung des Kindes und eine körperlich-neurologische Untersuchung beinhalten.

ICD-10

Im ICD-10 der Weltgesundheitsorganisation wird der elektive Mutismus als deutlich emotional bedingte Selektivität des Sprechens beschrieben, in dem das Kind in bestimmten Situationen spricht und in anderen, genau definierten Situationen, wiederum nicht. Dabei können beim Kind üblicherweise auch bestimmte Persönlichkeitsmerkmale wie Sozialangst, Rückzug, besondere Empfindsamkeit oder Widerstand gefunden werden.[9]

Leitsymptome nach ICD-10:

  • Selektivität des Sprechens: In einigen sozialen Situationen spricht das Kind fließend, in anderen sozialen Situationen bleibt es jedoch stumm oder fast stumm
  • Konsistenz bezüglich der sozialen Situationen, in denen gesprochen bzw. nicht gesprochen wird
  • Häufiges Einsetzen nonverbaler Kommunikation (Mimik, Gestik, schriftliche Aufzeichnungen) durch das Kind
  • Dauer der Störung über mindestens einen Monat
  • Altersentsprechende Kompetenz im sprachlichen Ausdruck der situationsabhängigen Sprache

DSM IV

Leitsymptome nach DSM IV:

  • Andauernde Unfähigkeit, in bestimmten Situationen zu sprechen, wobei in anderen Situationen normale Sprechfähigkeit besteht
  • Die Störung behindert die schulischen oder beruflichen Leistungen oder die soziale Kommunikation
  • Die Störung dauert mindestens einen Monat (und ist nicht auf den ersten Monat nach Schulbeginn beschränkt)
  • Die Unfähigkeit zu sprechen ist nicht durch fehlende Kenntnisse der gesprochenen Sprache bedingt oder dadurch, dass der Betroffene sich in dieser Sprache nicht wohl fühlt

Zu diesen Symptomen beschreibt das DSM IV weiter Merkmale und Störungen, die häufig zusätzlich zum selektiven Mutismus bestehen. Hier werden Symptome wie Ängstlichkeit, zwanghafte Verhaltensweisen, kontrollierende und oppositionelle Verhaltensweisen, aber auch geistige Behinderung, Hospitalisierung sowie extreme psychosoziale Belastungsfaktoren genannt.[10]

Differentialdiagnose

Der selektive Mutismus muss bei seiner Diagnose von anderen Krankheitsbildern abgegrenzt werden, die in ihrer Phänomenologie des dauerhaften Schweigens eine gewisse Ähnlichkeit haben.

So kann das sprechängstliche Schweigen in bestimmten Publikumssituationen als bewusst eingesetzte Vermeidungsstrategie zumindest im Nachhinein bewusst gemacht und versprachlicht werden. Mutismus ist dagegen kein bewusster, willentlicher Akt; auch ein selbstreflexives Denken über die Sinnhaftigkeit dieses Verhaltens ist beim elektiven Mutismus nicht möglich.

Als elektiver Mutismus gilt weiterhin nicht das zögerliche Sprechen scheuer Kinder gegenüber Unbekannten, das Verstummen aus Trotz oder als Trauerreaktion, das Stummbleiben aufgrund geringer Sprachkenntnisse, das Verstummen autistischer Kinder oder das Stummsein bei tiefgreifenden Persönlichkeitsstörungen und das Schweigen infolge organisch bedingter Sprech- und Sprachstörungen.[4] Die Störung darf auch nicht besser durch eine Kommunikationsstörung erklärt werden können und nicht ausschließlich im Verlauf einer tiefgreifenden Entwicklungsstörung, Schizophrenie oder einer anderen psychotischen Störung auftreten.

Komorbidität

Eine besonders häufige Komorbidität findet sich mit der sozialen Phobie. In 97 % der Fälle findet sich diese Angststörung oder Vermeidungsverhalten.[3]

Weitere Komorbiditäten sind:

Therapie

Übereinstimmend wird heute ein mehrdimensional angelegter Therapieansatz empfohlen, d. h. er sollte verschiedene Behandlungselemente umfassen. Neben der individuellen Behandlung sollte auch die Umgebung einbezogen werden. Psychoanalytisch orientierte Therapieformen und verhaltenstherapeutische Konzepte stehen bei der Behandlung der Mutismus im Vordergrund, da in den meisten Fällen eine neurotische Ursache angenommen wird oder der Mutismus als erlerntes Verhalten interpretiert wird.

In der psychotherapeutischen Behandlung wird unter anderem auf eine Reduzierung der Ursachenfaktoren gedrängt, weiter die Persönlichkeitsentwicklung zu fördern und Kommunikationsstörungen zu vermindern versucht. Verhaltenstherapeutisch lassen sich im Vergleich zum psychoanalytischen Vorgehen relativ schnelle Erfolge erzielen. Bei einem familientherapeutischen Vorgehen wird die Ursache des Mutismus sowohl im Verhalten der Eltern zueinander als auch in der Beziehung zwischen Kind und Eltern gesehen. Die sprachheilpädagogische Behandlung versucht, die allgemeine Freude am Sprechen zu fördern und die Funktion der Sprache als hilfreiches kommunikatives Instrument in den Vordergrund zu stellen. In der medizinisch-psychiatrischen Behandlung wird häufig Versucht mit Hilfe einer medikamentösen Therapie die Symptome positiv zu beeinflussen.

Literatur

  • Bahr, Reiner: Schweigende Kinder verstehen – Kommunikation und Bewältigung beim elektiven Mutismus. Heidelberg 2006, ISBN 978-3825383312
  • Dobslaff, Otto: Mutismus in der Schule. Erscheinung und Therapie. Spiess, Berlin 2005. ISBN 3-89776-008-8
  • Gregor, Ingrid: Schweigen – eine Fremdsprache? Nachdenken über den mutistischen Rückzug. In: Der Sprachheilpädagoge 30/4, 1998.
  • Hartmann, Boris: Mutismus. Zur Theorie und Kasuistik des totalen und elektiven Mutismus. Berlin 2007, ISBN 978-3891661963

Weblinks

Quellen

  1. a b Leitlinien der Deutschen Gesellschaft für Kinder- und Jugendpsychiatrie und -psychotherapie: Elektiver Mutismus (F94.0)
  2. Bahr, R.: (S)elektiver Mutismus: Eine systemische Perspektive für Therapie und Beratung. In: Die Sprachheilarbeit 43 (1998) 1, 28-36.
  3. a b Resch et al. (1999): Entwicklungspsychopathologie des Kindes- und Jugendalters - Ein Lehrbuch, PVU, Weinheim
  4. a b c d Schoor, U.: Schweigende Kinder im Kindergarten und in der Schule. In: Die Sprachheilarbeit, Oktober 2002, 219-225.
  5. a b c Remschmidt, H.: Kinder- und Jugendpsychiatrie. Eine praktische Einführung. Stuttgart, 2000.
  6. Braun, O.: Sprachstörungen bei Kindern und Jugendlichen. Stuttgart, 1999.
  7. Schoor, U.: Schweigende Kinder in der Schule. Das Erscheinungsbild von selektivem Mutismus. In: Grundschule 5-2001, 24-26.
  8. E. Heinemann, H. Hopf (2004): Psychische Störungen in Kindheit und Jugend. Stuttgart, Kohlhammer
  9. Horst Dilling, Werner Mombour, Martin H. Schmidt (2002): Internationale Klassifikation psychischer Störungen. ICD-10 Kapitel V (F). Klinisch-diagnostische Leitlinien (Auflage: 5), Huber, Bern.
  10. Universität München: Störungslehreseminar in der Klinischen Psychologie
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