Sigmund Freud: Totem und Tabu

Sigmund Freud: Totem und Tabu
Original-Broschur des Erstdrucks 1913

Totem und Tabu (Untertitel: Einige Übereinstimmungen im Seelenleben der Wilden und der Neurotiker) ist ein Werk Sigmund Freuds, das erstmals 1913 in Wien erschienen ist. Freud selbst hielt es für sein sprachlich gelungenstes. Höchstes Lob erhielt er diesbezüglich von Thomas Mann.

Inhaltsverzeichnis

Inhalt

In Totem und Tabu beschäftigt sich Freud überwiegend mit der menschlichen Inzestscheu und anderen fundamentalen Tabus. Dabei untersucht er die Riten der Naturvölker, ihre Verbote, ihre religiösen Verhaltensweisen sowie ihre angewandten Taktiken und Heiratsmechanismen, die zur Vermeidung von Inzest eingesetzt werden. Freud bezieht sich in seinem Werk auf viele berühmte Forscher seiner Zeit, wie z. B. James Frazer.

Der Psychoanalytiker versucht eine hypothetische Brücke zu bauen, die die Entstehung des Inzesttabus mit den früheren und heutigen Religionen verbindet. Weiterführende Literatur von Freud zum Thema Religion ist Der Mann Moses und die monotheistische Religion: Drei Abhandlungen (1939).

Weiterhin vergleicht Freud die Erlebnisinhalte von Naturvölkern und unseren Urahnen mit der seelischen Geisteswelt von modernen Menschen, speziell von Kindern, und Neurotikern. Aufgeteilt ist sein Werk in vier Teilbereiche:

  • I. Die Inzestscheu.
  • II. Das Tabu und die Ambivalenz der Gefühlsregungen.
  • III. Animismus, Magie und Allmacht der Gedanken.
  • IV. Die infantile Wiederkehr des Totemismus.

Der Schöpfer der Psychoanalyse vertritt die These, das Inzesttabu sei in Urzeiten entstanden, durch den Vatermord einer verstoßenen Brüdergemeinschaft, die durch Schuldgefühle und unter einem sozialen Zwang Regeln des Inzesttabus einführte, das sich im historischen Verlauf modifizierte und sich in mehrere Bereiche des gesellschaftlichen Leben manifestierte, vor allem in der Religion. Das Totem symbolisiert nach Freud den getöteten Vater, der durch die Scham und Schuldgefühle heilig erklärt wurde. Aus diesem Grund darf man sein Totem (fast immer ein Tier) nicht töten und essen wie auch Mitglieder des Totemclans nicht heiraten bzw. mit ihnen im sexuellen Kontakt stehen. Dies führte unter anderem zum Heiratsmechanismus der Exogamie. Inzest ist lediglich Göttern und deren Vertretern auf Erden, nämlich den Adligen, gestattet und nicht den Normalsterblichen. Das Totemtier darf nur bei bestimmten Zeremonien getötet und verspeist werden, diese Orgien stellen für Freud eine kulturell erlaubte Triebabfuhr dar, welche den verdrängten Vatermord und eine identifizierende Einverleibung desselben darstellen soll. Diese religiösen Zeremonien findet man nach Freud u. a. in der christlichen Religion, wenn man bei der Messe das Blut Christi trinkt und dessen Leib verspeist.

Freud meint, dass der Mensch während seiner frühen Ontogenese in abgeschwächter Form dieses phylogenetische Trauma wiederholt, was sich im Ödipuskomplex niederschlägt. Interessant ist, dass Freud zwar ein angeborenes Inzestverbot ablehnt, er aber annimmt, bestimmte, rudimentäre Inhalte aus den Erlebnisinhalten unserer Urahnen seien in der Psyche verankert, die sich in bestimmten Reaktionen niederschlagen können; wie etwa dass Kinder während der phallischen Phase ein überdurchschnittlich strenges Über-Ich aufbauen, welches die reale Androhung von Bestrafung der Eltern weit übertrifft. Freud erklärt diese Verhaltensweise evolutionär, da er meint, „der Vater der Vorzeit“ wendete mit Bestimmtheit drakonische Bestrafungsmittel an, er „war gewiß fürchterlich, und ihm durfte man das äußerste Maß von Aggression zumuten“ (s. hierzu Das Unbehagen in der Kultur).

Die Inzestscheu

Freud erklärt die Inzestscheu zunächst am Beispiel der Ureinwohner Australiens. An Stelle aller fehlenden religiösen und sozialen Institutionen findet sich dort der Totemismus. Das Totem ist in der Regel ein Tier, eine Pflanze oder eine Naturkraft. Der Totemcharakter haftet nicht an einem Einzeltier sondern an einer ganzen Gattung. Wichtig zu bemerken ist, dass das Totem in mütterlicher oder väterlicher Linie erblich ist, d. h. wenn beispielsweise die Mutter ein bestimmtes Totem hat, geht es auf ihre Kinder über.

Exogamie und Totem

"Fast überall wo der Totem gilt, besteht auch das Gesetz, dass Mitglieder desselben Totem nicht in geschlechtliche Beziehungen zueinander treten, also auch einander nicht heiraten dürfen. Das ist die mit dem Totem verbundene Exogamie" (Freud, S. 8). Manche Forscher, so Freud, betrachten das Zusammentreffen des Totemkultes mit den Regeln der Exogamie als rein zufällig, die Exogamie habe ursprünglich nichts damit zu tun. Freud hält fest, dass der Zusammenhang von Totemismus und Exogamie jedenfalls besteht, und dass er ein sehr starker ist.

Die Übertretung dieses Gebotes wird außerordentlich streng geahndet, als wäre die Existenz des ganzen Stammes bedroht. Dieselbe harte Bestrafung gilt auch gegenüber flüchtigen Liebschaften, was laut Freud, die reine Einschränkung auf biologische Funktionen des Verbotes (Erbkrankheiten) unwahrscheinlich macht. Auffallend ist, dass die mit dem Totem verbundene Exogamie auch sexuelle Vereinigungen von Personen verbietet, die untereinander gar nicht blutsverwandt sind, indem sie alle Personen eines Totemclans wie solche behandelt. Das führt zu dem Schluss, dass die Rolle des Totems als Ahnherr sehr bedeutsam zu sein scheint. Alles was vom gleichen Totem abstammt ist blutsverwandt.

Warum nun aber diese "übertriebene" Vorsicht gegen den Inzest? Ein Erklärungsversuch ist, dass die mittels Totem klassifizierten Verwandtschaftsnamen als Überrest aus Zeiten der Gruppenehe zu betrachten sind, wo eine bestimmte Anzahl von Männern über eine bestimmte Anzahl von Frauen „Eherechte“ ausübte. Die Totemexogamie erscheint in diesem Licht als wirksames Mittel, um dem Gruppeninzest vorzubeugen. Neben komplizierten Heiratsregelungen, die institutionell verankert sind, gibt es aber zusätzlich auch noch eine Anzahl restriktiver "Sitten", die den Umgang verwandter Personen miteinander steuern sollen. Dies führt den Autor zu dem Schluss, dass „diese Wilden (…) selbst inzestempfindlicher (sind) als wir (Freud, S.15).

Aus psychoanalytischer Sicht schließt Freud diesen Aufsatz mit der „Hinzufügung“, dass die Inzestscheu ein „exquisit infantiler Zug“ und eine auffällige Übereinstimmung mit dem seelischen Leben des Neurotikers sei. Die Psychoanalyse lehrt, dass die ersten sexuellen Objekte des Kindes inzestuöser Natur sind (Mutter, Schwester), und sie beschreibt, wie sich das Individuum bei normaler Entwicklung davon befreit. Dem Neurotiker gelingt dies nicht, er hat sich entweder ab einer bestimmten Stufe nicht weiterentwickelt, oder er ist in ein früheres psychosexuelles Stadium zurückgefallen (regrediert).

Freud wappnet sich auch gleich gegen jene von ihrm erwartete Heerschar von Kritikern, die seine Thesen in das Reich wilder Phantasie verbannen werden. Er zieht seine wissenschaftlichen Schlüsse daraus und vermutet, dass es sich wohl um eine Reaktion auf die tiefe Abneigung des "kultivierten Menschen" gegen seine einstigen inzestuösen Regungen handeln müsse. An den „wilden Völkern“ könne man sehen, wie sie diese uns unbewusst gewordenen Wünsche noch als bedrohlich erlebt haben, und deshalb diese rigiden Abwehrmaßnahmen treffen mussten.

Das Tabu und die Ambivalenz der Gefühlsregungen

Tabu ist ein polynesisches Wort und hat eine zweifache Bedeutung: Einerseits heißt es: heilig, geweiht, andererseits: unheimlich, gefährlich, verboten, unrein. Das Gegenteil im polynesischen heißt soviel wie gewöhnlich, allgemein zugänglich.

Tabuvorschriften verbieten sich von selbst, sie gehen nicht auf einen Gott oder ähnliche Systeme zurück. Auch sind es keine Moralvorschriften, weil die Einreihung in ein System fehlt, es werden keine Begründungen angeboten. Wer ein Tabu übertreten hat, wird selbst Tabu.

Bei der Frage nach „den letzten Wurzeln“ des Tabu, befragt Freud wie so oft den Völkerpsychologen Wilhelm Wundt. Nach Wundt ist das Tabu ein Ausdruck des Glaubens „primitiver“ Völker an dämonische Mächte. Später hat es sich von dieser Quelle gelöst und quasi verselbstständigt. So wurde das Tabu zur Wurzel unserer Vorschriften und Gesetze. Freud kann seine Enttäuschung über diese „Enthüllungen“ nur schwer verbergen, und meint, dass Dämonen und Angst keinesfalls letzte Gründe sein könnten, und schon gar nicht solche, mit denen ein „Psycholog“ sich zufrieden geben könne.

Freud geht dann zur psychoanalytischen Betrachtung über, und es ist ein Krankheitsbild das sich aufdrängt: Es ist der Zwangskranke, der ebenso den Namen „Tabukranker“ verdienen würde. Freud wendet seine Erkenntnisse aus der Praxis bezüglich der Ätiologie von Neurosen auf das Phänomen des Tabus an. Eine erste Parallele ist die, dass sowohl die Verbote des Tabus wie die des Neurotikers ebenso unmotiviert, wie in ihrer Herkunft rätselhaft sind. Eine äußere Strafandrohung ist nicht notwendig, die Angst vor der Übertretung ist für sich allein schon groß genug.

Das Hauptverbot bei der Zwangsneurose ist wie beim Tabu das der Berührung. Ebenso finden wir beiderseits das Phänomen der Ausweitung, d. h. dass nicht nur Handlungen Tabu sind, sondern auch schon der Gedanke daran ist verpönt. Manche Verbote sind nachvollziehbar, andere nicht, sie wirken unbegreiflich. Den Zwangsverboten eignet eine so genannte Verschiebbarkeit, d. h. die Verbote haben die Tendenz sich auszuweiten, greifen auf neue Objekte über, und machen auch diese „unmöglich“. Dieselbe Ansteckungstendenz findet sich bei den Tabus, wie oben schon ausgeführt.

Zwänge bringen große Einschränkungen des Lebens mit sich. Es gibt aber die Möglichkeit, durch die Ausführung gewisser Handlungen, bestimmte Anteile der Verbote aufzuheben: das sind die Zwangshandlungen. Deren Verwandtschaft mit Sühne-, Buße- und Reinigungszeremonien bei den Naturvölkern sind augenfällig. Die häufigste Form beim Neurotiker ist der Waschzwang, und auch gewisse Tabuvorschriften bei den Naturvölkern können durch ein Reinigungszeremoniell mit Wasser wieder gut gemacht werden.

So sehr die Anfänge des Tabus im Dunkeln liegen, so sehr ist die Entstehungsgeschichte der Zwangsneurosen für Freud eine durch die Psychoanalyse erforschte Tatsache. In frühester Kindheit äußerte sich eine starke Berührungslust (am Genital). Dieser steht alsbald ein mächtiges Verbot von außen entgegen, gerade diese Berührung nicht auszuführen. Das Kind kommt in den klassischen neurotischen Konflikt zweier miteinander konkurrierender Tendenzen. Das Verbot wird übernommen (introjiziert), die Berührungslust wird in das Unbewusste verdrängt. Verbot und Trieb bleiben erhalten und führen nun ein Eigenleben.

Der zentrale Aspekt ist die Ambivalenz der Gefühlseinstellung zum Objekt, oder besser zur Handlung. Aus diesem fortdauernde Konflikt leitet sich für Freud alles weitere ab: Das Verbot wird laut bewusst, die Berührungslust bleibt unbewusst. „Die Trieblust verschiebt sich beständig, um der Absperrung, in der sie sich befindet, zu entgehen, und sucht Surrogate für das Verbotene – Ersatzobjekte und Ersatzhandlungen – zu gewinnen“ (S. Freud, S. 40). So wie sich die Ersatzobjekte vermehren, so folgen ihnen die Verbote hinterher, jeder neue Vorstoß wird mit einem neuen Verbot belegt. In der Zwangshandlung kommt ein Kompromiss zwischen den beiden Impulsen (Sühne und Befriedigung gleichzeitig) zum Ausdruck, sie dienen außerdem der Spannungsabfuhr.

Was sagt uns das aber für die Tabuvorschriften der frühesten Zeiten? Die ältesten und wichtigsten Verbote sind die beiden Grundgesetze des Totemismus: Das Totemtier darf nicht getötet werden, und der sexuelle Verkehr unter den Totemmitgliedern ist untersagt. Psychoanalytisch gedeutet müssten das die zwei ältesten und stärksten „Gelüste“ des Menschen sein. Grundlage des Tabu wäre also ein verbotenes Tun, zu dem eine starke Neigung im Unbewussten des „Wilden“ besteht.

Hinter den Zwangshandlungen und der Gewissensangst des Neurotikers steht in Wahrheit ein Todeswunsch, der verdrängt und unbewusst ist. Der Wunsch eine ambivalent besetzte Person zu töten zeigt sich plötzlich in der übertriebenen ängstlichen Sorge um den „geliebten“ Menschen. Wenn die Handlung nicht ausgeführt wird, droht schreckliche Strafe, der Tod dieses Menschen.

Anders und doch gleich beim Tabu: Man fürchtet wirklich die Strafe für das eigene Leben, nur wenn diese nicht automatisch eintritt, übernimmt die Gemeinschaft diese Funktion. Da die verbotene Handlung einem Triebwunsch aller entspricht, muss die Nachahmung verhindert werden. Diesem Zweck dient die (öffentliche) Bestrafung. Nicht selten, so Freud, wird aber in dieser Strafe gleichzeitig der urtümliche eigene Wunsch (zu töten) befriedigt. Beide Handlungen (Vergehen und Bestrafung) gehen auf dieselbe Quelle zurück.

Literatur

  • Freud, S.: Totem und Tabu. Einige Übereinstimmungen im Seelenleben der Wilden und der Neurotiker. Leipzig und Wien: H. Heller & Cie. 1913 Erstausgabe [1]
  • Freud, S.: Totem und Tabu. Einige Übereinstimmungen im Seelenleben der Wilden und der Neurotiker. Gesammelte Werke 9., 7. Aufl. Frankfurt/Main 1986
  • Freud, S. (1912-13/2000). Studienausgabe Bd. IX: Fragen der Gesellschaft/ Ursprünge der Religion. Frankfurt: Fischer. S. 287-444, Totem und Tabu (Einige Übereinstimmungen im Seelenleben der Wilden und der Neurotiker).

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