Sonderweg

Sonderweg

Mit der These vom Deutschen Sonderweg wird eine aus der Geschichte Deutschlands ableitbare Unregelmäßigkeit in Bezug auf die Entwicklung des Staatsgefüges Deutschland und der Ausformung demokratischer Strukturen im Gegensatz zu anderen europäischen Staaten, wie beispielsweise Frankreich oder England bezeichnet. In der Geschichtswissenschaft ist strittig, ob es sich dabei wirklich um einen Sonderweg handelt, was eine Norm für die historische Entwicklung zur Demokratie voraussetzte, oder nur um einen Eigenweg.

Inhaltsverzeichnis

Charakteristika

Hans-Ulrich Wehler als Verfechter der Sonderwegs-Theorie beschreibt die Entwicklung des preußisch-dominierten Deutschen Reiches bis zum Ende der Weimarer Republik als „eigentümliches Spannungsverhältnis zwischen Tradition und Moderne”. Mit dem Begriff „Deutscher Sonderweg” verbindet sich darüber hinaus die Vorstellung, dass die Führungsschichten in Deutschland, vor allem im 19. und frühen 20. Jahrhundert, eine verfehlte, unflexible und bisweilen anachronistische Politik verfolgt hätten. Diese Politik sei vor allem durch eine antiparlamentarische und antidemokratische Haltung, sowie die grundsätzliche Verweigerung und Ablehnung gegenüber vom Volk ausgehenden, liberalen und sozialen Erhebungen gekennzeichnet (Sozialistengesetze), was zu einem vor allem über kulturelle Aspekte definierten, letztlich fehlerhaften Selbstverständnis und einem übersteigerten Nationalgefühl der Deutschen geführt habe. Das sei auf die bereits erwähnte kategorische Ablehnung liberaler und parlamentarischer Bewegungen durch die preußische Führung zurückzuführen, die ihren Machtbereich innerhalb des deutschen Raumes ausdehnen und die Monarchie unter allen Umständen beibehalten wollte. Es war vor allem die preußische Politik, die die gesamtdeutsche Entwicklung seit 1814/1815 prägte.

Den Anfang des Sonderwegs kann man einerseits auf die Sonderstellung des Heiligen Römischen Reiches Deutscher Nation (Partikularismus im Gegensatz zu den zentralisierten Königreichen England und Frankreich) des Mittelalters und andererseits auf den aufgeklärten Absolutismus Preußens und Österreichs zurückführen, der zum Teil Reformen vorwegnahm, die in Frankreich erst durch die Französische Revolution erreicht wurden, und deshalb in Deutschland zu einer besonderen Autoritätsgläubigkeit des Bürgertums führte.

Einen weiteren wichtigen Moment in der Entstehung des Deutschen Sonderwegs stellt die Kulturpolitik Weimars (Weimarer Klassik) dar, die eine Alternative zur gewaltsamen bürgerlichen Revolution wie in Frankreich suchte. Als hilfreich boten sich die Ideen von Goethe (Minister in Weimar von 1779–1786) und Schiller an, die in ihrer Jugend (Sturm und Drang) noch selbst die Ideale der französischen Revolution vertreten hatten, schließlich aber angesichts der zunehmend grausamen und in ihren Augen barbarischen Entwicklung nach einer Alternative suchten. Diese bestand in einer durch ästhetische Bildung beförderten Hebung der allgemeinen moralischen Gesinnung in Adel und Bürgertum (vgl. Schillers Über die ästhetische Erziehung des Menschen von 1795). Befördert wurde dadurch eine im Vergleich zu anderen europäischen Staaten ungeheure Entwicklung des Bildungsbürgertums, das Aufstiegschancen für Bürger und Rückzugsgebiet für Adelige darstellte.

Vorstellung vom besonderen Wert Deutschlands: Kultur gegen Zivilisation

Die Unterschiede einer spezifisch deutschen Entwicklung zu der seiner westlichen Nachbarn waren andererseits auch als Zeichen für einen besonderen Wert der Deutschen angenommen worden und insofern stark positiv besetzt.

Seit Anne Germaine de Staëls De l’Allemagne (1813) kompensierten viele Deutsche ihre Unterlegenheitsgefühle gegenüber den westlichen Nationalstaaten damit, dass sie sich als "Land der Dichter und Denker" unter Verweis auf Goethe und Kant kulturelle Überlegenheit zuschrieben. Dabei wurde Kultur als das geistigere, seelisch tiefergehende Element der als oberflächlich abgewerteten Zivilisation gegenüber gestellt. Besonders zugespitzt vertrat diese Vorstellung während des Ersten Weltkrieges Thomas Mann in seinen Betrachtungen eines Unpolitischen.
Diese Vorstellung ist auch als Abwehr gegen das als Kampfbegriff verwendete Verständnis von Zivilisation gerichtet. Denn in der deutschen Sprache sind viele positive Konnotationen mit Kultur verbunden, die im Französischen und Englischen mit civilisation/civilization verbunden sind, insbesondere die Vorstellung der höchsten Stufe der Entwicklung einer Gesellschaft. (So ist oft civilization (etwa in Huntingtons clash of civilizations) mit "Kultur" zu übersetzen.)

Während das (französische) Konzept "Zivilisation" von der universalen Geltung grundlegender Prinzipien ausgeht (was sich u.a. auch im politischen Zentralismus niederschlägt), betonte das deutsche Konzept der Kultur die Partikularität unterschiedlicher kultureller Lebensäußerungen im verbundenen Nebeneinander gleich existenzberechtigter Einheiten (auch: Föderalismusprinzip). Diese Sichtweise spiegelt die deutsche Situation der extremen Zersplitterung in nichteinheitliche Regionen wider.

Ein ähnlicher Konflikt liegt gegenwärtig bei der Kritik an den westlichen Menschenrechten vor.

Die Logik des Sonderwegs im Selbstverständnis deutscher Selbstvergewisserung drückte sich aus in den "Ideen von 1914", dem "Versuch der uneingeschränkten Rechtfertigung der deutschen Kriegspolitik". Die deutschen aristokratischen Eliten sahen sich hierbei ideologisch "eingeklemmt" zwischen den modernen kapitalistischen Klassengesellschaften Frankreichs und Englands und der zaristischen Autokratie Russlands. Sie beschworen daher "eine alle Klassen einschmelzende, konfliktfreie, harmonische 'Volksgemeinschaft', die – von der kompetenten bildungsbürgerlichen Bürokratie dirigiert und von der starken preußisch-deutschen Militärmonarchie geschützt – in der Feuerprobe des Krieges wie ein Phönix emporsteigen werde." (zitiert nach Wehler, 2003, S. 17f.). Der deutsche Adel versuchte, sich so, durch die Aufwertung seiner sozialen Rückzugsgebiete (Hochschulen, Verwaltung und Militär), nach dem unvermeidlichen Verlust tatsächlicher Macht einen Resteinfluss zu bewahren, der zumindest das Fortdauern des gewohnten Lebensstils ermöglichte. Die Idee der „antikapitalistischen, antiliberalen, konfliktfreien ‚Volksgemeinschaft des nationalen Sozialismus‘, welche die Antagonismen der Klassengesellschaft überwinden sollte“ taucht später in radikalisierter Form in der Ideologie des Nationalsozialismus wieder auf.

Nach dem Zusammenbruch der Herrschaft des Nationalsozialismus wurde die Vorstellung vom Sonderweg zunehmend negativ verstanden. Während bis 1945 auf eine überlegene Andersartigkeit verwiesen wurde, rückten nun mögliche deutsche Modernisierungsdefizite in den Fokus der Darstellungen.

Beispiele

Als Beispiele für den so genannten „Deutschen Sonderweg” werden gesehen:

  • Die Industrialisierung. Durch eine in die Jahre gekommene, konservative Wirtschaftspolitik, die sich an Zünften orientierte und die Entfaltung der Industrialisierung im deutschen Raum hemmte, fand eine wirkliche industrielle Revolution erst 30–40 Jahre später statt als in England.
  • Demokratie- und Bürgerbewegungsfeindlichkeit der deutschen Eliten und der Führung. Die Französische Revolution war der Beginn eines Demokratisierungsprozesses in Europa. Die Märzrevolution von 1848, der Versuch der nationalen und liberalen Bewegung in Deutschland, ein parlamentarisches System einzurichten scheiterte, stattdessen wurde 1871 ein monarchischer deutscher Staat gegründet, der zudem in dieser Form das europäische Mächtegleichgewicht störte, dessen Erhaltung eines der fundamentalen Ziele des Wiener Kongresses war.
  • Die Weimarer Republik. Die Revolution blieb unvollständig, weil die Führer der SPD aus Furcht vor einer Linksdiktatur eine Kooperation mit den alten Eliten eingingen und deshalb die Demokratie nicht in Beamtenschaft und Militär verwurzelt wurde. Daher konnten in der Krise Großindustrielle wie Fritz Thyssen oder der einflussreiche Medienindustrielle Alfred Hugenberg dem Nationalsozialismus den Weg ebnen.
  • Das Desaster des Dritten Reichs wird als der absolute Höhepunkt deutscher Sonderwegsbeschreitungen gesehen. Sein Ergebnis sei gewesen, dass Deutschland im Zuge der weiteren Entwicklungen seinen Großmachtstatus verloren habe und durch äußeres Eingreifen der alliierten Siegermächte umstrukturiert und künstlich, nicht aus einer eigenen Entwicklung heraus, in ein freiheitlich-demokratisches System eingebunden worden sei.

Kritik an diesem Konzept

In der neueren wissenschaftlichen Diskussion wird die These vom „deutschen Sonderweg” überwiegend relativiert oder ganz verneint. Kritikpunkte sind u. a.:

  • Die Entwicklungen in der deutschen Geschichte, die als „Sonderweg” bezeichnet werden, sind zweifelsohne deutsche Besonderheiten. Allerdings gab es kein „Normalmaß”, keine „normale” Entwicklung in anderen Ländern. Auch in Großbritannien gab es keine lineare Entwicklung zur liberalen Demokratie. Auch andere Länder wie Spanien, Italien, Österreich oder Ungarn erlebten in den letzten beiden Jahrhunderten meist keine liberalen und demokratischen Entwicklungen, sondern Kriege, Revolutionen und politische Instabilität, konservativ-autoritäre Kräfte und die alten aristokratischen Eliten behielten oft große Macht. Von einer "idealen", weil konfliktfreien und kontinuierlichen Modernisierung und Demokratisierung kann in Kontinentaleuropa tatsächlich nur im Falle der Beneluxländer und der skandinavischen Staaten, ansatzweise im Fall Frankreichs, gesprochen werden. Weil diese Länder das Herzstück des westlichen, "abendländischen" Europas und die Keimzelle der heutigen Europäischen Union bilden und sich Deutschland spätestens seit Gründung der Bundesrepublik (1949) politisch nach "Westen" ausgerichtet hat, spricht man von der deutschen Geschichte des 20. Jahrhunderts auch vom „langen Weg nach Westen“. Ohne allerdings Klarheit darüber zu haben, was diesen "Westen" endlich ausmacht.
  • Das deutsche Bürgertum war im 19. Jahrhundert nicht so schwach wie postuliert. Vielmehr ging es in der Gesamtgesellschaft auf und verlor allenfalls an Profil, nicht aber an Einfluss.
  • Der „deutsche Sonderweg” ist ein Interpretationsentwurf, der die historische Entwicklung einseitig aus heutiger Sicht bewertet und normativ Aussagen („gute” = liberale, „schlechte” = autokratischere Regierungsform) wertend auf die Geschichte anwendet und dabei übersieht, dass Geschichte sich nicht zielgerichtet oder zwangsläufig entwickeln muss. Hingewiesen wird in diesem Zusammenhang etwa darauf, dass die Weimarer Republik durchaus auch ein demokratisches Entwicklungspotential hatte und ihr Scheitern nur eine Möglichkeit gewesen ist, nicht die von vornherein einzige.
  • Auch ohne formelle bürgerliche Revolution (und damit Auflehnung gegen die alte Ordnung des Adels) war seit 1871 das Bürgertum die tonangebende Schicht.
  • Die Theorie des "Deutschen Sonderweges" ist auf das Engste mit dem Kontinuitätsproblem rechter politischer Strömungen in Deutschland verbunden. Hans-Christof Kraus faßte 1993 richtig zusammen: [...] daß sich zwar eine unbestreitbare politische Linie von den militant-völkischen und radikal-nationalistischen Bewegungen [...] seit dem späten 19. Jahrhundert bis zum Nationalsozialismus nachzeichen läßt, daß aber andererseits eine übergreifende Kontinuität vom traditionellen Konservatismus [...] bis zu Hitler und seiner Ideologie nicht besteht. (Kraus, 1993, S.116) Das große Manko der Sonderwegsthese sind vor allem fehlende transeuropäische Studien unter Einschluß Japans und den USA zu radikalem Nationalismus-Chauvinismus und Militarismus. Erst auf der Grundlage dessen ließe sich ein fundiertes abschließendes Urteil fällen, wobei eine Tendenz heute schon klar erkennbar ist. So steht überdies die Sonderwegsthese mit der "Singularitätsthese" in engem Zusammenhang. (Vergl. Wolfgang Wippermann 1993, S.207-215). Ein Verdacht läßt sich so begründen, daß aus unterschiedlichen Motiven eine unhistorische Verkürzung der Argumentation vorliegt, die vor allem eines soll: Noch zu unseren Lebzeiten mittels einer unstatthaften Vereinfachung fundierte Ergebnisse präsentieren.

Literatur

  • David Blackbourn/ Geoff Eley: Mythen deutscher Geschichtsschreibung. 1980
  • Helga Grebing Der „deutsche Sonderweg“ in Europa 1806-1945. Eine Kritik Stuttgart u.a. 1986
  • Wolf Kalz, Die Ideologie des 'deutschen Sonderwegs', 2004, Künzell (Lindenblatt Media Verlag), ISBN 3-937807-05-5
  • Thomas Nipperdey: 1933 und die Kontinuität der deutschen Geschichte. in: Historische Zeitschrift 227 (1978), S. 86-111; nachgedruckt in Nipperdey, Nachdenken über die deutsche Geschichte, München: Beck, 1986.
  • Josef Schüßlburner: Demokratie-Sonderweg Bundesrepublik. Analyse der Herrschaftsordnung in Deutschland, 2004, Künzell, vergriffen
  • Hans-Ulrich Wehler: Deutsche Gesellschaftsgeschichte. Vierter Band: 1914-1949, 2003, München (C.H.Beck), ISBN 3-406-32490-8
  • Hans-Ulrich Wehler: Das Deutsche Kaiserreich 1871-1918. In: Deutsche Geschichte, Bd. 9, 1973, Göttingen (Kleine Vandenhoeck-Reihe 1380, ISBN 3-525-33542-3
  • Heinrich August Winkler: Der lange Weg nach Westen, 6., durchgesehene Auflage, 2005, München (C.H. Beck), 2 Bände, ISBN 3-406-49527-3
  • Dirk Hoeges: Deutsche Sonderwege oder im Westen nichts Neues? Baudelaire in Deutschland: George - Rilke und die Blockade der Moderne in Literatur und Geschichte, in: Romanistische Zeitschrift für Literaturgeschichte/Cahiers d’Histoire des Littératures Romanes, Nr. 32 3/4, Universitätsverlag Winter 2008, S. 299-341.
  • Hans-Christof Kraus: Altkonservativismus und moderne politische Rechte. In: Nipperdey, Thamer et al. (Hrg), Weltbürgerkrieg der Ideologien. Antworten an Ernst Nolte. Berlin 1993, S.99-121.
  • Wolfgang Wippermann: Vom erratischen Block zum Scherbenhaufen. In: Nipperdey, Thamer et al. (Hrg), Weltbürgerkrieg der Ideologien. Antworten an Ernst Nolte. Berlin 1993, S. 207-215.

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