Soziografie

Soziografie

Soziographie (seltener: Soziografie) ist in der Soziologie des beginnenden 20. Jahrhunderts die empirische Teildisziplin, welche soziale Tatbestände qualitativ und statistisch beschreibt und untersucht.[1]

Der Begriff wurde 1913 von Rudolf Steinmetz geprägt,[2] dem Begründer der niederländischen Soziologie und 1925 der Zeitschrift Mens en Maatschappij. So wie die Ethnographie, die fremde Völker und Kulturen beschreiben und verstehen will, soll Soziographie dasselbe im Hinblick auf die modernen Gesellschaften leisten. Steinmetz verband damit eine Abkehr von deduktiver Theorie hin zur Sammlung empirischer Fakten, die unter geeigneten Umständen das Material zu induktiven Verallgemeinerungen liefern könnten. Diese methodologische Position hat nicht nur Vorteile, sondern auch Nachteile, was spätere Kritiker nicht versäumt haben hervorzuheben.

Das so gekennzeichnete Erkenntnisprogramm wurde dann vom deutschen Soziologen Ferdinand Tönnies aufgegriffen,[2] der neben einer rein axiomatischen („Reinen“) und einer daraus ableitenden („Angewandten“) Soziologie eine sammelnde, statistisch aufbereitende und künftiger Theoriebildung dienende Soziologie postulierte, für welche er den Begriff „Soziographie“ übernahm. Er betrieb dieses Fach als Statistiker auch selber; zu diesem Zweck befürwortete er die Einrichtung wissenschaftlich-soziographischer „Sternwarten“.[3]

Theodor Geiger nannte seine bahnbrechende 1932er Studie Die soziale Schichtung des deutschen Volkes im Untertitel Soziographischer Versuch auf statistischer Grundlage.[4] Noch heute berühmt ist die soziographische (aber auch qualitative Methoden verwendende) Marienthalstudie (1933), die empirische Untersuchung eines Industriedorfes mit hoher Arbeitslosigkeit. Zeisel, einer der Autoren der Studie, charakterisiert die angewandte Methode „Ein systematisches Inventarisieren aller überhaupt zugänglichen Vorgänge, die Zusammenfassung zu komplexen Merkmalen, die statistische Verarbeitung dieser Merkmale und die Auswahl und Zusammenfassung der so gewonnenen Daten nach bestimmten Gesichtspunkten“. Soziographie und empirische Sozialforschung werden dabei als identisch angesehen: im Anhang der Marienthal-Studie stellt Zeisel die „soziographische Methode“ als „empirische Sozialforschung“ dar.[2]

Die Entwicklung der Soziographie in Deutschland und dann Österreich wurde durch die Machtübernahme der Nationalsozialisten jäh unterbrochen. Ungefähr zwei Jahrzehnte lang wurde dort kein nennenswerte Sozialforschung betrieben, und später erschien vielen Ende der 1940er Jahre die empirische Sozialforschung als ein Import aus den USA.[5] (Siehe hierzu auch: Entwicklung der Soziologie in Deutschland und Zur gegenwärtigen Stellung der empirischen Sozialforschung in Deutschland)

Die Aufgabe der Soziographie, Sozialdaten zu sammeln, ist heute (2009) teilweise auf die Statistischen Landesämter, teilweise auf kommerziell betriebene Umfrageinstitute, übergegangen.

Literatur

  • Rudolf Steinmetz, Die Stellung der Soziographie in der Reihe der Geisteswissenschaften, in: „Archiv für Rechts- und Wirtschaftsphilosophie“, 1913
  • Ferdinand Tönnies, Einführung in die Soziologie, [1931], Enke, Stuttgart ²1981
  • Theodor Geiger, Die soziale Schichtung des deutschen Volkes. Soziographischer Versuch auf statistischer Grundlage, Enke, Stuttgart 1932
  • Hans Zeisel: Zur Soziographie der Arbeitslosigkeit. In: Archiv für Sozialwissenschaft und Sozialpolitik. 69, Nr. 1, 1933, S. 96–105. 

Weblinks

Einzelnachweise

  1. Rudolf Heberle: Soziographie, in: Alfred Vierkandt, (Hg.): Handwörterbuch der Soziologie, Ferdinand Enke, Stuttgart 1982, ISBN 3-432-91551-9
  2. a b c Rainer Mackensen: Bevölkerungsforschung und Politik in Deutschland im 20. Jahrhundert, VS Verlag, 2006, ISBN 3531151215, 9783531151212, S. 194
  3. Bis heute werden Beobachtungszentren im Bereich der "administrative research" (Paul Lazarsfeld) "Observatorien" genannt; zum Beispiel Observatoire de l'Habitat, Observatoire de la compétitivité, Observatoire européen de la situation sociale, de la démographie, Observatoire Juridique de la Place Financière de Luxembourg, Observatoire Interrégional du marché de l'emploi, ...
  4. Vgl. auch Tönnies' Rezension von 1933, zuletzt in: Ferdinand Tönnies Gesamtausgabe, Bd. 22, Berlin/New York 1998, S. 498-502.
  5. Peter Atteslander / Jurgen Cromm: Methoden der empirischen Sozialforschung, 10. neu bearb. und erw. Aufl., Walter de Gruyter, Berlin/New York 2003, ISBN 3110178176, 9783110178173, S. 369–370

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