Staatsgrundgesetz über die allgemeinen Rechte der Staatsbürger

Staatsgrundgesetz über die allgemeinen Rechte der Staatsbürger

Dezemberverfassung ist eine zusammenfassende Bezeichnung für die fünf Staatsgrundgesetze und das Delegationsgesetz, die am 21. Dezember 1867 durch den Kaiser von Österreich, Franz Joseph I., sanktioniert wurden. Sie galten für die „cisleithanischen“ (nicht-ungarischen) Länder der Habsburgermonarchie bis zu deren Untergang 1918.

Inhaltsverzeichnis

Entstehung

Die Entstehung der Dezemberverfassung ist im engsten Zusammenhang mit dem Österreichisch-Ungarischen Ausgleich zu sehen, durch den das Kaisertum Österreich in die Österreichisch-Ungarische Monarchie umgewandelt wurde. Franz Joseph hatte 1865 das Grundgesetz über die Reichsvertretung, den Kern der Februarverfassung (Februarpatent) 1861, sistiert und den Reichsrat aufgelöst, um im Alleingang den Ausgleich mit Ungarn zu verhandeln. Die Ausgleichsverhandlungen mit Ungarn wurden im März 1867 abgeschlossen. Nun musste der Ausgleich noch von dem nach Abschluss der Verhandlungen wieder einberufenen Reichsrat nachvollzogen werden.

Am 22. Mai 1867 wurde der Reichsrat einberufen und vor vollendete Tatsachen gestellt. Die Regierung unter Ministerpräsident Friedrich Ferdinand von Beust beabsichtigte, die Zustimmung des Reichsrates zum Ausgleich damit zu „erkaufen“, dass sie gemeinsam mit den bezüglichen Regierungsvorlagen zwei weitere Regierungsvorlagen in das Abgeordnetenhaus brachte, durch die die rechtliche Ministerverantwortlichkeit wieder eingeführt und das Notverordnungsrecht des Monarchen streng reglementiert werden sollte. Demgegenüber forderten zahlreiche Abgeordnete eine komplett neue Verfassung. Schließlich entschied der Verfassungsausschuss des Abgeordnetenhauses am 24. Juli, „dass keine neue Verfassungsurkunde zu entwerfen“ sei, sondern lediglich das Grundgesetz von 1861 zu modifizieren und durch weitere „Spezialgesetze“ zu ergänzen sei; dabei „würde es sich empfehlen, sich, soweit es unter den geänderten Verhältnissen tunlich ist, an die betreffenden Bestimmungen der Verfassung vom 4. März 1849“ - der Oktroyierten Märzverfassung - zu halten.

Bereits im Juli wurde - auf der Grundlage modifizierter Regierungsvorlagen - das Notverordnungsrecht des Grundgesetzes über die Reichsvertretung präzisiert und die Geltung der Notverordnungen auf den Zeitraum bis zum nächsten Zusammentritt des Reichsrates beschränkt, weiters die rechtliche Ministerverantwortlichkeit eingeführt, also die Möglichkeit für jedes der beiden Häuser des Reichsrates, einen Minister wegen behaupteter Gesetzesverletzung vor einem neu einzurichtenden Staatsgerichtshof anzuklagen.

Im Dezember 1867 schließlich verabschiedete der Reichsrat ein Bündel von insgesamt sechs Verfassungsgesetzen, die aufgrund eines eigenen Kundmachungsgesetzes, das den politischen Junktimcharakter sicherstellen sollte, nach der am 21. Dezember erfolgten kaiserlichen Sanktion am folgenden Tag gemeinsam in Kraft traten und daher in Summe als Dezemberverfassung bezeichnet wurden:

  • Das Gesetz vom 21. Dezember 1867 wodurch das Grundgesetz über die Reichsvertretung vom 26. Februar 1861 abgeändert wird
  • Das Staatsgrundgesetz vom 21. Dezember 1867 über die allgemeinen Rechte der Staatsbürger für die im Reichsrathe vertretenen Königreiche und Länder
  • Das Staatsgrundgesetz vom 21. Dezember 1867 über die Einsetzung eines Reichsgerichts
  • Das Staatsgrundgesetz vom 21. Dezember 1867 über die richterliche Gewalt
  • Das Staatsgrundgesetz vom 21. Dezember 1867 über die Ausübung der Regierungs- und Vollzugsgewalt
  • Das Gesetz vom 21. Dezember 1867 über die allen Ländern der österreichischen Monarchie gemeinsamen Angelegenheiten und die Art ihrer Behandlung (Delegationsgesetz)

Das Grundgesetz über die Reichsvertretung

Das Grundgesetz über die Reichsvertretung war - als einziges der Bestandteile der Dezemberverfassung - kein neues Gesetz, sondern war bereits 1861 im Zuge des Februarpatentes ergangen; 1867 hatte es jedoch einige wesentliche Modifikationen erfahren:

- Die Unterscheidung zwischen einem weiterem, für die gesamte Habsburgermonarchie zuständigen, und einem engeren, nur für die nicht-ungarischen Länder zuständigen Reichsrat entfiel; der Reichsrat war fortan nur mehr für die nicht-ungarischen (cisleithanischen) Länder zuständig; die Bestimmungen über die ungarischen, kroatischen und siebenbürgischen Abgeordneten (sowie auch über die Abgeordneten des im Frieden von Wien 1866 endgültig verlorenen lombardo-venetianischen Königreiches) entfielen daher.

  • Die Kompetenzbestimmungen wurden entsprechend den Bestimmungen des Ausgleiches abgeändert
  • Das Notverordnungsrecht wurde in der Weise geregelt, dass die Notverordnungen von sämtlichen Ministern gegenzuzeichnen waren, die damit die Verantwortung übernahmen, und dass die "Gesetzeskraft dieser Verordnungen" erlosch, wenn es die Regierung unterließ, diese Verordnungen binnen vier Wochen nach wieder erfolgtem Zusammentritt des Abgeordnetenhaus diesem vorzulegen.
  • Gestärkt sah sich das Parlament auch durch die Festlegung der Notwendigkeit jährlicher Steuerbewilligung sowie durch die Einführung von Kontrollrechten gegenüber der Regierung, insbesondere durch die Verankerung des Interpellationsrechts, also der Befugnis, Anfragen an die Mitglieder der Regierung zu richten.
  • Auch die Immunität der Parlamentarier, die sie vor Übergriffen durch die Regierung schützen sollte, seit 1861 durch ein eigenes Gesetz geregelt, wurde nunmehr ins Grundgesetz über die Reichsvertretung übernommen.

Das Staatsgrundgesetz über die allgemeinen Rechte der Staatsbürger

Das Staatsgrundgesetz über die allgemeinen Rechte der Staatsbürger war auf Initiative des Verfassungsausschusses zustandegekommen. Es enthielt einen Grundrechtskatalog, der wesentlich nach dem Vorbild der Märzverfassung von 1849 gestaltet war. Die Bestimmungen waren:

  • Art. 1: Staatsbürgerschaft für die Angehörigen Cisleithaniens
  • Art. 2: Gleichheit vor dem Gesetz
  • Art. 3: Gleiche Zugänglichkeit zu den öffentlichen Ämtern für alle Staatsbürger
  • Art. 4: Freizügigkeit der Person
  • Art. 5: Unverletzlichkeit des Eigentums
  • Art. 6: Aufenthaltsfreiheit
  • Art. 7: Aufhebung jedes Untertänigkeits- und Hörigkeitsverbandes und des geteilten Eigentums
  • Art. 8: Freiheit der Person (das Gesetz vom 27. Oktober 1862 zum Schutze der persönlichen Freiheit wurde zu einem Bestandteil dieses Staatsgrundgesetzes erklärt)
  • Art. 9: Hausrecht (das Gesetz vom 27. Oktober 1862 zum Schutze des Hausrechts wurde zu einem Bestandteil dieses Staatsgrundgesetzes erklärt)
  • Art. 10: Briefgeheimnis
  • Art. 11: Petitionsrecht
  • Art. 12: Vereins- und Versammlungsfreiheit
  • Art. 13: Pressefreiheit
  • Art. 14: Glaubens- und Gewissensfreiheit
  • Art. 15: Öffentliche Religionsausübung für die gesetzlich anerkannten Kirchen und Religionsgesellschaften
  • Art. 16: Private Religionsausübung für Anhänger sonstiger Religionsbekenntnisse
  • Art. 17: Freiheit der Wissenschaft und ihrer Lehre
  • Art. 18: Freiheit der Berufswahl
  • Art. 19: Gleichberechtigung der Nationalitäten
  • Art. 20 gestattete die zeitweilige und örtliche Suspension der Artikel 8, 9, 10, 12 und 13 nach Maßgabe eines besonderen Gesetzes (welches am 5. Mai 1869 erlassen wurde).

Das Staatsgrundgesetz über die allgemeinen Rechte der Staatsbürger wurde als einziges der Staatsgrundgesetze auch in den Rechtsbestand der Republik Österreich übernommen und durch Art. 149 Bundes-Verfassungsgesetz (B-VG) zu Bestandteil des Bundesverfassungsrechts gemacht. Nach herrschender Lehre wurde jedoch Art. 1 StGG durch Art. 6 B-VG und Art. 19 StGG durch die Art. 66-68 des Staatsvertrags von St. Germain derogiert. Art. 20 und das auf seiner Grundlage ergangene Gesetz von 1869 wurden durch Art. 149 Abs. 2 B-VG ausdrücklich aufgehoben.

1973 wurde das StGG um eine Bestimmung zum Schutze des Fernmeldegeheimnisses (Art. 10a), 1982 um eine Bestimmung zum Schutz der Freiheit der Kunst (Art. 17a) ergänzt. Das Gesetz über den Schutz der persönlichen Freiheit von 1862 (vgl. Art. 8 StGG) wurde 1988 durch ein neues Bundesverfassungsgesetz ersetzt.

Das Staatsgrundgesetz über die Einsetzung eines Reichsgerichts

Auch das Staatsgrundgesetz über die Einsetzung eines Reichsgerichts ging auf Initiative des Verfassungsausschusses zurück. Vorbild waren zum einen das in den Verfassungen und Verfassungsentwürfen von 1848/49 vorgesehene Reichsgericht, zum anderen eine niemals aktivierte Bestimmung der Februarverfassung, dass der (1868 aufgelöste) Staatsrat auch über Kompetenzkonflikte und in streitigen Angelegenheiten des öffentlichen Rechts entscheiden können sollte.

Im einzelnen sollte das Reichsgericht

  • Kompetenzkonflikte zwischen verschiedenen Gebietskörperschaften oder zwischen Gerichten und Verwaltungsbehörden lösen,
  • über Verletzungen der verfassungsrechtlich gewährleisteten politischen Rechte (also im Wesentlichen über die im Staatsgrundgesetz über die allgemeinen Rechte der Staatsbürger gewährleisteten Rechte) durch die Verwaltungsbehörden erkennen,
  • über Ansprüche gegen Cisleithanien oder ein cisleithanisches Land, wenn diese Ansprüche nicht vor den ordentlichen Gerichten ausgetragen werden konnten, erkennen.

Das Reichsgericht hatte seinen Sitz in Wien (Nibelungengasse 4). Es nahm am 21. Juni 1869 seine Tätigkeit auf. Es bestand aus einem Präsidenten, einem Vizepräsidenten, zwölf Mitgliedern und vier Ersatzmännern, die vom Kaiser ernannt wurden. Die beiden Kammern des Reichsrates, Abgeordnetenhaus und Herrenhaus, hatten das Recht, für je sechs Männer und zwei Ersatzmänner Dreiervorschläge zu erstatten.

Das Staatsgrundgesetz über die richterliche Gewalt

Das Staatsgrundgesetz über die richterliche Gewalt ging auf Initiative des Verfassungsausschusses zurück. Es garantierte u.a. die Unabhängigkeit der Justiz, die Trennung von Justiz und Verwaltung, die Rückkehr zum Anklageprozess im Strafverfahren, die Wiedereinführung der Geschworenengerichtsbarkeit für politische und Presseprozesse und - als eine wesentliche, zunächst jedoch kaum beachtete Neuerung - die Einführung der Verwaltungsgerichtsbarkeit in Österreich. Die Aktivierung des Verwaltungsgerichtshofes erfolgte allerdings erst mit 2. Juli 1876.

Das Staatsgrundgesetz über die Ausübung der Regierungs- und Vollzugsgewalt

Das Staatsgrundgesetz über die Ausübung der Regierungs- und Vollzugsgewalt ging gleichfalls auf Initiative des Verfassungsausschusses zurück und stellte das Pendant zum Staatsgrundgesetz über die richterliche Gewalt dar, indem es die Exekutive regelte. Es wurde insbesondere die Unverantwortlichkeit des Monarchen und die Verantwortlichkeit der Minister festgelegt (die näheren Bestimmungen hierzu enthielt ein bereits am 25. Juli 1867 ergangenes Gesetz). Dem Kaiser wurde der Oberbefehl über die bewaffnete Macht zuerkannt; das Verordnungsrecht der Minister wurde geregelt.

Das Gesetz über die allen Ländern der österreichischen Monarchie gemeinsamen Angelegenheiten und die Art ihrer Behandlung (Delegationsgesetz)

Das Delegationsgesetz ging auf eine der vier im Juni im Reichsrat eingebrachten Regierungsvorlagen zurück und enthielt die nochmalige Regelung des (bereits im ungarischen Gesetzesartikel XII/1867 geregelten) österreichisch-ungarischen Ausgleiches. Seinen Kurznamen verdankt es dem Umstand, dass die Gesetzgebung in den gemeinsamen Angelegenheiten der Monarchie durch Delegationen des österreichischen Reichsrates und des ungarischen Reichstages zu erfolgen hatte. Als solche gemeinsame Angelegenheiten galten:

  • a) die auswärtigen Angelegenheiten
  • b) das Kriegswesen mit Inbegriff der Kriegsmarine, jedoch unter Ausschluss u.a. des Rekrutierungswesens
  • c) das Finanzwesen hinsichtlich der Punkte a) und b).

Ferner wurden einige Angelegenheiten zwar nicht gemeinsam verwaltet, jedoch nach gleichen Grundsätzen behandelt werden (sog. dualistische Angelegenheiten):

  • a) kommerzielle Angelegenheiten
  • b) bestimmte indirekte Abgaben
  • c) Feststellung des Münzwesens und des Geldfußes
  • d) Verfügungen bezüglich gemeinschaftlicher Eisenbahnlinien
  • e) Feststellung des Wehrsystems

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