Subjektwissenschaft

Subjektwissenschaft

Als Subjektwissenschaft hat Klaus Holzkamp in den 1980er Jahren die Kritische Psychologie bezeichnet, weil sie den Anspruch haben müsse, das Subjekt in den Mittelpunkt psychologischen Denkens und Forschens zu stellen und dabei gleichzeitig die eigene Subjektivität kritisch zu reflektieren.

Mit dem Begriff des Subjekts wird ein entscheidender Wechsel der Blickrichtung gegenüber andersartigen psychologischen Theorien vollzogen. Diese betrachten ein Individuum wesentlich als Objekt seiner Verhältnisse. So erscheinen dann alle Aktivitäten eines Individuums als durch äußere oder innere Reizung bedingte Reaktionen. Ein Mensch ist aber wie jeder andere Organismus von Beginn an "Intentionalitätszentrum", d.h. er steht nicht neutral als Objekt in der Welt, sondern verhält sich zu ihr als sinnlich-körperliches, bedürftiges und interessiertes Subjekt.

Holzkamp grenzt seinen Ansatz "subjektwissenschaftlicher Forschung" dabei von herkömmlicher "qualitativer Sozialforschung mit Subjektorientierung" ab. Während nämlich Holzkamp zufolge solche "subjektorientierte" Forschung nach wie vor "vom Außenstandpunkt" argumentiert, analysiert und auch die Forschungsergebnisse von diesem vermeintlich "objektiven" Außenstandpunkt formuliert, möchte Holzkamp seinen subjektwissenschaftlichen Ansatz als "Forschung vom Standpunkt des Subjekts selber" verstanden und praktiziert wissen.

Das bedeutet, daß subjektwissenschaftliche Theorien vom Ich-Standpunkt derjenigen formuliert werden, deren Sicht- und Handlungsweisen "erforscht" werden sollen und deren Standpunkt und Perspektive klar vom (ebenso subjektiven) Standpunkt und der Perspektive des "Forschers" unterschieden werden soll. Subjektwissenschaftliche Theorien werden deshalb (grammatikalisch) in der ersten Person formuliert. Darin liegt eine Parallele zur Forschungsmethode der Psychoanalyse[1]. Für die Beschreibung von subjektwissenschaftlichen Forschungsergebnissen ebenso wie für die "subjektwissenschaftliche Reinterpretation" nicht subjektwissenschaftlich angelegter psychologischer Theorien gibt Holzkamp klare sprachliche Kriterien und eine Schritt-für-Schritt-Anleitung[2].

Die Spezifik des menschlichen Subjekts ergibt sich aus der "gesellschaftlichen Natur" des Menschen, die Holzkamp aus der Evolution ableitet, in der beim Übergang vom Tier beispielsweise die Arbeitsteilung im sozialen Verbund - der Gruppe - zur "zweiten", in sozialer Hinsicht nachgerade "eigentlichen" Natur des Menschen geworden ist. Insofern erscheinen die menschliche Gesellschaft und die Natur nicht als Gegensatz; Gesellschaft gehört vielmehr wie Mitmenschlichkeit zur Natur der Menschen. Dabei ist Lernen die entscheidende Fähigkeit in der menschlichen Entwicklung.

Dieser Ansatz folgt Karl Marx in der Analyse, dass die materielle Umwelt das Sein (mit)bestimmt. Dieses Verhältnis ist allerdings keine einseitige Begrenzung; vielmehr ergeben sich aus ihr sowohl Handlungsmöglichkeiten als auch Handlungsnotwendigkeiten. Das "subjektive Befinden" ist demnach abhängig von der eigenen Möglichkeit, die Umgebungsbedingungen einschließlich der gesellschaftlichen Bedingungen mitzubestimmen. Auch wenn diese Möglichkeiten begrenzt sind, ist die Bemühung um die Teilhabe am gemeinschaftlichen Leben doch ein aktiver Prozess der Subjekte.

Mit diesem Konzept wendet sich die Kritische Psychologie gegen die "objektiven" oder "neutralen" Ansprüche der empirischen Psychologie. Insbesondere steht sie im Kontrast zum klassischen experimentellen Ansatz in der Psychologie, gemäß dem die zu untersuchende Versuchsperson und auch der Forscher sich bewusst von gesellschaftlichen Faktoren isolieren und eine reduzierte und künstliche Experimentalsituation schaffen. Diese Experimentalsituation klammert genau das aus, was nach kritisch-psychologischem Verständnis das Subjekt ausmacht: die Integration und Interaktion mit seiner gesellschaftlichen Umwelt, also die Begründungszusammenhänge für sein Handeln und Verhalten.

Subjektwissenschaft grenzt sich allerdings auch gegen die esoterischen Formen des Psychobooms mit ihren "Selbstfindungs-" und "Betroffenheitszeremonien" ab, auch wenn sie durchaus versucht, zu verallgemeinerbaren Aussagen zu gelangen. Als Methode dienen ihr etwa die qualitative Auswertung von Interviews zur Herausarbeitung der in den Aussagen enthaltenen gesellschaftlichen Denkformen und Begründungsmuster. Wichtig ist dabei, die Aktion des Forschenden nicht auszuklammern, sondern die Interaktion zwischen dem Subjekt des Forschers und der Subjektivität des Beforschten im Wissenschaftsprozess zu berücksichtigen.

Wissenschaft ist diesem Ansatz zufolge also nicht auf einen "Drittstandpunkt" zu begrenzen, sondern auch die Wissenschaftler müssen als Subjekte in einem gesellschaftlichen Prozess verstanden werden. Ihre gesellschaftliche Position ist im wissenschaftlichen Vorgehen genauso zu reflektieren wie die Funktion von Wissenschaft für die jeweils bestehenden Machtverhältnisse.

Diesen Ansatz wendet Holzkamp insbesondere auf die Pädagogik an, die herkömmlich als eine "Sonderveranstaltung" zwischen Erwachsenen und Kindern bzw. Jugendlichen, die in einem gesellschaftlichen Machtverhältnis zueinander stehen, betrachtet wird. Selbst wenn diese fremdbestimmte Erziehung vorgeblich auf Emanzipation zielt, bleibt sie doch ein Akt der Fremdbestimmung, der sich Schüler immer wieder durch "widerständiges Lernen" entziehen werden.

Als Konsequenz der radikalen Anwendung des "Subjektstandpunkts" als "Standpunkt der Forschung" landete Holzkamp letztendlich beim Thema "Lebensführung vom Standpunkt des Subjekts"[3].

Quellen

  1. Klaus Holzkamp: Die Bedeutung der freudschen Psychoanalyse für die marxistisch fundierte Psychologie. In: Forum Kritische Psychologie 13, Hamburg/Berlin: Argument Verlag 1983, S. 15-40.
  2. Klaus Holzkamp: Die Verkennung von Handlungsbegründungen als empirische Zusammenhangsannahmen in sozialpsychologischen Theorien: Methodologische Fehlorientierung infolge von Begriffsverwirrung. In: Zeitschrift für Sozialpsychologie 1986, 17, S. 216-238; Klaus Holzkamp: Hinführung auf das Verfahren der Problemenwicklung. In: Klaus Holzkamp: Lernen. Subjektwissenschaftliche Grundlegung. Frankfurt/M.: Campus 1993, S. 17-38
  3. Klaus Holzkamp: Alltägliche Lebensführung als subjektwissenschaftliches Grundkonzept. In: Das Argument, Zeitschrift für Philosophie und Sozialwissenschaften, Nr. 212, Hamburg 1995, S. 817-846

Weblinks

Literatur

  • Holzkamp, Klaus: Der Mensch als Subjekt wissenschaftlicher Methodik. Vortrag, gehalten auf der 1. Internationalen Ferienuniversität Kritische Psychologie vom 7.-12. März 1983 in Graz (s. hier)
  • Holzkamp, Klaus: Grundlegung der Psychologie. Campus, Frankfurt 1983; 2. Auflage. 2003 ISBN 3593335727
  • Holzkamp, Klaus: Lernen. Subjektwissenschaftliche Grundlegung. Campus, Frankfurt 1995 ISBN 3593353172
  • Markard, Morus: Kritische Psychologie: Methodik vom Standpunkt des Subjekts. In: Forum Qualitative Sozialforschung 1(2) 2000 (s. hier)
  • Rexilius, Günter (Hrsg.): Psychologie als Gesellschaftswissenschaft. Geschichte, Theorie und Praxis kritischer Psychologie. Westdeutscher Verlag, Opladen 1988 ISBN 3531120174
  • (Hrsg.):Lorenz Huck, Christina Kaindl, Vanessa Lux, Thomas Pappritz, Katrin Reimer u. Michael Zander: Abstrakt negiert ist halb kapiert. Beiträge zur marxistischen Subjektwissenschaft - Morus Markard zum 60. Geburtstag . Forum Wissenschaft Studien. Band 56 Marburg 2008 ISBN 978-3-939864-05-9

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