Sudetengebiet

Sudetengebiet

Sudetenland ist eine vorwiegend nach 1918 gebrauchte Hilfsbezeichnung für ein Gebiet im tschechischen Teil der damaligen Tschechoslowakei, in dem überwiegend Deutsche nach Sprache und Herkunft lebten. Im 19. Jahrhundert wurde „Sudetenland“ gelegentlich als topographische Bezeichnung für den Raum des Grenzgebirges zwischen Böhmen, Mähren und Schlesien verwendet. Als Bezeichnung für die deutsch besiedelten Gebiete Böhmens und Mährens wird der Begriff seit dem Entstehen der Tschechoslowakei nach dem Ersten Weltkrieg gebraucht. Davon abgeleitet ist der Begriff „Sudetendeutsche“ für die ehemaligen deutschsprachigen Bewohner des Sudetenlandes, der an die Stelle der älteren Begriffe „Deutschböhmen“ und „Deutschmährer“ trat.[1]

Inhaltsverzeichnis

Abgrenzungen

Die Sudetenländer sind nicht identisch mit dem Sudetenland, sie orientieren sich also an den Sudeti montes der Antike, die – vielleicht irrig – mit dem Bereich vom Isergebirge bis zum Adlergebirge identifiziert wurden. Der Terminus umfasste die Gesamtheit der historischen Länder Böhmen, Mähren, Schlesien. Diese Bedeutung von Sudetenländer findet sich heute beispielsweise noch im Namen der Historischen Kommission der Sudetenländer, dort mit dem bei einer Satzungsänderung 1981 zur Verhinderung von Missdeutungen als notwendig befundenen Erklärung „Sudetenländer im Sinne der Gesamtheit der böhmischen Länder“.[2]

Der Begriff bezogen auf die Volkszugehörigkeit

Distribution of Races in Austria-Hungary, in: The Historical Atlas, von William R. Shepherd, 1911

„Sudetenland“ war seit 1918 die zusammenfassende Bezeichnung für die Gebiete Böhmens, Mährens und Tschechisch-Schlesiens, in denen Einwohner deutscher Nationalität, Abstammung und/oder Muttersprache eine Mehrheit bildeten (eigene Bezeichnung: Deutschböhmen, Deutschmährer, später Sudetendeutsche benannt).

Provinz Sudetenland

Die Deutschen in den nördlichen Gebieten von Österreichisch-Schlesien, Nordmähren und Nordostböhmen riefen im Oktober 1918 die deutschösterreichische Provinz Sudetenland aus, die wesentlich kleiner als das später mit dem gleichen Begriff bezeichnete Gebiet war. Diese trat noch im November 1918 der Republik Deutschösterreich bei. (Die Deutschen in Südböhmen und Südmähren wollten sich den angrenzenden Bundesländern Oberösterreich bzw. Niederösterreich anschließen.) Die Selbstbestimmungswünsche waren nicht durchsetzbar: Während die deutschen Kriegsheimkehrer der k.u.k. Armee abrüsteten, gründeten die tschechischen die Armee ihres neuen Staates und beanspruchten die historischen Grenzen: Die Tschechoslowakei wurde im gesamten Gebiet der Kronländer Böhmen, Mähren und Schlesien etabliert. Die tschechoslowakische Souveränität wurde schon im November und Dezember 1918 faktisch durchgesetzt und am 10. September 1919 durch den Vertrag von Saint-Germain bestätigt.

Reichsgau Sudetenland

Reichsgau Sudetenland

Im nördlichen größten Teil der nach dem Münchener Abkommen vom 30. September 1938 am 1. und 2. Oktober 1938 annektierten tschechischen Randgebiete wurde durch Gesetz vom 14. April 1939 der Reichsgau Sudetenland mit der Hauptstadt Reichenberg geschaffen. Er bestand bis zum Ende des Zweiten Weltkriegs am 8. Mai 1945.

Geschichte

Das Gebiet hat dieselbe Geschichte wie Böhmen und Mähren sowie Schlesien. Das so genannte Sudetenland als Ganzes stellte bis 1939 nie eine separate Verwaltungseinheit dar. Jedoch existierte im November und Dezember 1918 für wenige Wochen eine Provinz dieses Namens, die Nordmähren und Sudetenschlesien umfasste. Auch der Begriff Sudetenland als Bezeichnung für deutsch(sprachig)es Gebiet entstand erst in an der Wende vom 19. zum 20. Jahrhundert. Ab Mitte des 19. Jahrhunderts wurden allerdings die böhmischen Länder als Ganzes gelegentlich als „Sudetenländer“ bezeichnet, beispielsweise in der Formulierung die Deutschen der Sudetenländer.

Geschichte bis 1918

Zu Anfang der überlieferten Geschichte von den Kelten besiedelt (vgl. antike Historiographen), bewohnten und beherrschten im 1. Jahrhundert nach Christus die germanischen Markomannen Böhmen als Stammesbund unter einem König. Sie trieben Handel mit den Römern, schlugen aber deren Expansionsbestrebungen in ihr Gebiet mehrfach ab (Marbod). Als während der Völkerwanderung Germanen aus ganz Mitteleuropa mehr und mehr Macht und Land im Römischen Reich übernahmen, verließen auch viele Germanen Böhmen. Im 6. Jahrhundert wurde das Land von Slawen besiedelt. Nach ihrer Gründungssage begann ihre Landnahme Böhmens unter Urvater Tschech auf dem Berg Říp. Sie sollen wahrscheinlich von jenseits der Tatra gekommen sein, weniger wahrscheinlich ist ihre Herkunft aus Kroatien. Die Siedlungsarchäologie geht heute übereinstimmend davon aus, dass bei der Ankunft der ersten Slawen die Gegend noch germanisch besiedelt war. Beide Gruppen lebten ausweislich der Grabungsfunde auch nach Ankunft der Slawen noch viele Jahrhunderte friedlich nebeneinander.

Seit dem 12. Jahrhundert waren Böhmen und Mähren, unter der böhmischen Krone politisch miteinander vereint, Teil des Heiligen Römischen Reichs Deutscher Nation, jedoch unabhängiger als die deutschen Reichsstände (Böhmen war das einzige Königreich im Reich).

Im 12. und 13. Jahrhundert kamen Wellen deutscher Zuwanderer in die beiden Länder. Ihre Zuwanderung konzentrierte sich auf die Randgebiete und auf die oft mit Zuwandererhilfe oder von Zuwanderern neugegründeten Städte. Sie brachten die damals in Deutschland entwickelte Stadtkultur mit all ihren Eigenschaften wie Zünften, Handwerken und vor allem deutschem Stadtrecht unterschiedlicher Prägung mit. Einige der später deutschsprachigen Gebiete waren allerdings bis zum Dreißigjährigen Krieg mehrheitlich tschechisch besiedelt. Nach der Entvölkerung durch die Kriegshandlungen und die anschließenden Seuchen und Hungersnöte wurden dort teilweise planmäßig deutsche Neusiedler angeworben. Mittelalterliche oder frühneuzeitliche Inschriften auf Grabmälern oder an Bauwerken sind deshalb auch in diesen Gebieten meist in tschechischer oder lateinischer Sprache ausgeführt, ebenso die alten Urkunden in den Stadtarchiven. Als Sonderfall ist hier das Gebiet um die ehemalige Freie Reichsstadt Eger zu behandeln. Stadt und Umland wurden 1322 an Böhmen verpfändet, das Pfand allerdings niemals wieder eingelöst, so dass das Gebiet 1806 endgültig zum Königreich Böhmen kam.

Bis 1806 gehörten Böhmen, Mähren und Schlesien dem Heiligen Römischen Reich an, seit 1804 dem Kaisertum Österreich. Als dieses durch den österreichisch-ungarischen Ausgleich von 1867 zu Österreich-Ungarn wurde, gehörten die Kronländer Böhmen, Mähren und Österreichisch-Schlesien zur westlichen Reichshälfte, Cisleithanien, dem k.k. Österreich (k.k. = kaiserlich-königlich; das Wort königlich bezog sich nunmehr auf die böhmische Krone).

Die Deutschen der drei Kronländer, in diesen selbst eine Minderheit, schätzten die faktische Vorherrschaft des Deutschtums in Altösterreich. Die Tschechen bestritten die Zuständigkeit des Reichsrates für die Böhmischen Länder grundsätzlich und verharrten daher im multinationalen Parlament in Wien oft in Obstruktionspolitik. Der Versuch des k.k. Ministerpräsidenten Kasimir Felix Badeni, die Verwaltungsbehörden der Böhmischen Länder grundsätzlich zur Zweisprachigkeit zu verpflichten, stieß auf den wütenden Widerstand vieler Deutscher Altösterreichs (nicht nur der deutschen Beamten, die Tschechisch zu lernen gehabt hätten) und führte zu Krawallen in Wien. Es war daher schon während des Ersten Weltkrieges klar, dass die Tschechen nach Kriegsende ihren eigenen Staat gründen würden; sie sagten das 1917 im Reichsrat ganz offen.

Ausschnitt aus der „Völkerkarte von Oesterreich-Ungarn“, Andrées Weltatlas von 1880, ›Germanen‹ rot, ›Slaven‹ grün

1918 / 1919

Bei der Auflösung der Donaumonarchie bildete sich am 21. Oktober eine deutschösterreichische Nationalversammlung unter Beteiligung der deutschen Reichsratsabgeordneten Böhmens, Mährens und Österreichisch-Schlesiens und verabschiedete am 30. Oktober eine provisorische Verfassung des neu gegründeten Staates Deutschösterreich, der sich am 12. November 1918 zur Republik proklamierte (später Republik Österreich). Am 28. Oktober war bereits die Tschechoslowakei proklamiert worden. So wurden die mehrheitlich deutschsprachigen Grenzgebiete Böhmens, Mährens und Österreichisch-Schlesiens von beiden Staaten gleichzeitig beansprucht. Die Besetzung dieser Gebiete durch tschechische Truppen vor allem ab Ende November 1918 verhinderte die volle Etablierung der neuen Provinzen Deutschböhmen und Sudetenland (= Nordmähren und Sudetenschlesien). Im Dezember gingen die Regionalregierungen ins Exil.

Die Deutschen Böhmens, Mährens und Österreichisch-Schlesiens (später zusammenfassend als Sudetendeutsche bezeichnet) hatten geplant, sich in vier Provinzen zusammenzuschließen:

  1. Deutschböhmen (Landeshauptmann Raphael Pacher, danach Rudolf Lodgman von Auen)
  2. Böhmerwaldgau (sollte zu Oberösterreich kommen)
  3. Deutsch-Südmähren (sollte zu Niederösterreich kommen)
  4. Sudetenland (Provinz)

In einem Interview mit der damals führenden französischen Tageszeitung Le Matin vom 10. Januar 1919 erklärte der Gründungspräsident der ČSR, Masaryk:

„Unsere geschichtlichen Grenzen stimmen mit den ethnographischen Grenzen ziemlich überein. Nur die Nord- und Westränder des böhmischen Vierecks haben infolge der starken Einwanderung während des letzten Jahrhunderts eine deutsche Mehrheit. Für diese Landesfremden wird man vielleicht einen gewissen modus vivendi schaffen, und wenn sie sich als loyale Bürger erweisen, ist es sogar möglich, daß ihnen unser Parlament […] irgend eine Autonomie bewilligt. Im übrigen bin ich davon überzeugt, daß eine sehr rasche Entgermanisierung dieser Gebiete vor sich gehen wird.“

Am 16. Februar 1919 fanden in Deutschösterreich die Wahlen zur Konstituierenden Nationalversammlung statt. Die Deutschen Böhmens, Mährens und Österreichisch-Schlesiens wurden von Tschechen daran gehindert, diese Wahlen auch in ihren Siedlungsgebieten durchzuführen. Am 4. März 1919 trat die Konstituierende Nationalversammlung zu ihrer ersten Sitzung in Wien zusammen. An vielen Orten im deutschen Siedlungsgebiet fanden aus diesem Anlass Demonstrationen für das Selbstbestimmungsrecht und die Zugehörigkeit zu Deutschösterreich statt[3]. Dabei wurden von tschechischen Gendarmen 54 Deutsche[4] und zwei Tschechen erschossen. Am 5. März 1919 rechnete Karl Renner in der Nationalversammlung vor, dass hier 3,5 Millionen Deutschen das Selbstbestimmungsrecht vorenthalten worden sei[5].

Durch den Vertrag von Saint-Germain wurde schließlich im September 1919 die Tschechoslowakei in ihrer Souveränität über die strittigen Gebiete bestätigt. Die Siegermächte hatten entschieden, das historische Gebiet der böhmischen Kronländer nicht aufzuteilen. Die Gebirge des „böhmischen Vierecks“ bildeten ein militärisch nützliches Hindernis gegen mögliche Angriffe des Deutschen Reiches und Österreichs, denen die Sieger die Schuld am Ersten Weltkrieg gaben. Entgegen dem 14-Punkte-Programm von US-Präsident Wilson wurde eine Volksabstimmung (wie beispielsweise in Oberschlesien) nicht vorgesehen.

Damals lebten nur rund 82.000 Tschechen im späteren Sudetenland. (In der Zeit zwischen 1920 und 1935 siedelten sich noch rund 237.000 Tschechen im Sudetenland an, die ursprünglich aus den tschechisch-slowakischen Grenzgebieten, aus Polen und Ungarn stammten.)

Von 1919 bis zum Münchner Abkommen

Im neuen Vielvölkerstaat Tschechoslowakei verfügten sämtliche Völker über eigene politische Parteien, eine Vertretung im Parlament, über ein eigenes Schulsystem, und Abgeordnete im Parlament hielten ihre Vorträge in ihrer jeweiligen Muttersprache. Die Sudetendeutschen (Deutschböhmen) bildeten die zweitgrößte Bevölkerungsgruppe in der Ersten Tschechoslowakischen Republik (ČSR) nach den Tschechen und vor den Slowaken. Vor allem um die Mehrheit des Staatsvolks größer erscheinen zu lassen, galten Tschechen und Slowaken allerdings als ein Volk, wiewohl die slowakische Sprache gefördert wurde. Dem deutschen Bevölkerungsanteil, wie auch den Ungarn, Polen oder Ruthenen wurden zwar Minderheitenrechte zugestanden, aber keine regionale Autonomie.

Zeitweise ließen die Spannungen nach und in zwei Wahlen in den 1920er Jahren stimmten die deutschen Bürger der Tschechoslowakei mehrheitlich für Parteien, die die Integration befürworteten. Viele Sudetendeutsche lehnten aber weiterhin eine Zugehörigkeit zur Tschechoslowakei ab. Diese Haltung dominierte auch in zahlreichen Stadträten (Vgl. Gedenktafel an der Egerquelle).

Am 1. Oktober 1933 wurde um Konrad Henlein die Sudetendeutsche Partei (SdP) gegründet. Anfangs setzte sich die Partei nur für eine größere Autonomie des Sudetenlandes ein, gestützt auf vertragliche Zusicherungen der Tschechoslowakei. Nach Absprache mit Hitler orientierte sich die Partei später zunehmend an Hitler und den Nationalsozialisten (NSDAP) im benachbarten Deutschen Reich.

„Die Erdrutsch-Wahlsiege der „Sudetendeutschen Partei“ Konrad Henleins in den Jahren 1935–36 brachten deutlich zum Ausdruck, dass siebzig bis achtzig Prozent der Bevölkerung des Sudetengebietes sich unter ihrem Einfluss befanden. […] die Bevölkerung der Grenzgebiete […] wurde wegen der Weigerung der Prager Regierung, den Notstandsgebieten die erforderliche Wirtschaftshilfe zu geben und die deutsche Bevölkerung gemäß ihrer Stärke bei der Bahn, Post und in anderen Staatsdiensten zu beschäftigen, immer mehr verbittert und daher der Henlein-Propaganda aufgeschlossener.[6]

Abgeschirmt von der Öffentlichkeit erklärte Hitler im November 1937 den Oberbefehlshabern der Wehrmacht, dass der Anschluss Österreichs und die Niederwerfung der Tschechoslowakei die nächsten Schritte auf dem Weg zum Lebensraum im Osten seien. Im April 1938 bekräftigte Hitler gegenüber der Wehrmacht seinen Plan, „die Tschechoslowakei in absehbarer Zeit durch eine Militäraktion zu zerschlagen“. Auf diesem Weg zu der von ihm so proklamierten „Lösung der deutschen Raumfrage“ war die SdP ein willfähriger Partner. Henlein wurde beauftragt, die tschechoslowakische Regierung mit Maximalforderungen der Sudetendeutschen zu konfrontieren, um die innenpolitische Krise anzuheizen.

Immer stärker unter Druck, verkündete die Tschechoslowakei im Mai 1938 mit dem Hinweis auf Kenntnisse eines unmittelbar bevorstehenden deutschen Angriffs die Mobilmachung. Die Bündnispartner Frankreich und England waren im Zugzwang und bekundeten ihre Unterstützung. Deutschland seinerseits forcierte die Krise und versetzte die Wehrmacht in Bereitschaft.

„[…] zwei Wochen bevor sich Hitler, Mussolini, Chamberlain und Daladier in München trafen, kehrte Heinlein seinem Staat und der demokratischen Rechtsordnung den Rücken. Am 14. September 1938 hatte er seine Verhandlungen mit der Prager Regierung abgebrochen, den Grenzübertritt seiner Parteiführung nach Bayern veranlasst […] Im Namen der Sudetendeutschen erklärte er: „Wir wollen heim ins Reich!“ Zugleich formierte er […] das Sudetendeutsche Freikorps. Dessen Mitglieder […] unternahmen in den zwei Wochen vor dem Münchner Abkommen an die 300 „Aktionen“ von Deutschland aus in der Tschechoslowakei: 110 Menschen sollen dabei ihr Leben verloren haben.[7]

„So ist es Hitler im September 1938 nicht gelungen, sich des Sudetengebietes durch einen Putsch seiner Stoßtrupps zu bemächtigen. Eine solche Aktion […] ist am Widerstand der sudetendeutschen Hitlergegner, der tschechischen Minderheit und der staatlichen Exekutive gescheitert. Am wichtigsten war, dass der Putsch in der deutschen Bevölkerung keine Massenunterstützung fand.[8]

Die Deutsche sozialdemokratische Arbeiterpartei des Sudetenlandes erließ im September 1938, gezeichnet von ihrem Vorsitzenden Wenzel Jaksch, einen Aufruf an ihre Landsleute:

„Mitbürger! Es geht um alles! […] In einer gewaltsamen Entscheidung wird wieder eine waffenstarrende Welt gegen das deutsche Volk aufstehen. Die Sudetendeutschen werden das erste Schlachtopfer sein. Ihre Heimat würde im Zusammenprall der Weltkräfte vernichtet, ihre Zukunft ausgelöscht. […] Bedenkt es in dieser Schicksalsstunde. […][9]

Die Vorhersage Untergang durch Krieg kann für das Sudetenland im Licht der späteren Ereignisse als prophetisch bezeichnet werden.

Das Münchner Abkommen und „Erledigung der Rest-Tschechei“

Adolf Hitler während einer Parade am 4. Oktober 1938 in Graslitz (Kraslice) anläßlich des Anschlusses des Sudetenlandes
Bewohner von Eger (Cheb) beim Zeigen des Hitlergrußes nach dem Anschluss

Mit dem Münchner Abkommen verhinderten die britische und französische Regierung unter Vermittlung Mussolinis den von Hitler eigentlich angestrebten Waffengang, nicht jedoch dessen Ziel. Die tschechoslowakische Regierung wurde an den Verhandlungen nicht beteiligt. Nachdem das Abkommen am 30. September 1938 geschlossen worden war, wurde die Annexion an den beiden Folgetagen, 1. und 2. Oktober 1938 vollzogen. Das Annexionsgebiet hatte 3,63 Mio. Einwohner, davon etwa 2,9 Mio. Deutsche und 0,7 Mio. Tschechen. Diese wurden zum Teil in das verbliebene Gebiet der Tschechoslowakei vertrieben.

„Als die Westmächte und die Prager Regierung endgültig kapituliert hatten, flohen Zehntausende deutsche Antifaschisten in das Landesinnere Böhmens und Mährens, um von dort aus den Kampf fortzusetzen. Die meisten wurden jedoch von den Behörden zurückgetrieben und damit dem NS-Terror ausgeliefert.[10]

Am 14. April 1939 wurde aus dem größten Teil des Annexionsgebiets mit 2,94 Mio. Einwohnern der Reichsgau Sudetenland geschaffen. Die südlichen Teile mit etwa 690.000 Einwohnern wurden den Reichsgauen Bayerische Ostmark, Oberdonau und Niederdonau zugeschlagen, sowie im Osten ein kleiner Teil dem Reichsgau Oberschlesien. Schon einen Monat vor der Konstitution des Reichsgaues Sudetenland war am 15. März 1939 die „Resttschechei“ besetzt und das Reichsprotektorat Böhmen und Mähren eingerichtet worden (siehe Geschichte der Tschechoslowakei: „Liquidierung“ der Zweiten Republik).

Die Grenze zwischen dem Protektorat und dem Sudetenland durfte nur mit staatlicher Genehmigung überschritten werden. Die Zollgrenze zum Protektorat wurde jedoch am 18. September 1940 aufgehoben.

Interpretationen und Reaktionen

Durch das Münchener Abkommen (von tschechischer Seite überwiegend bezeichnet als „Münchener Diktat“, tschech.: Mnichovský diktát, oder „Münchener Verrat“, tschech.: Mnichovská zrada) vom 29. September 1938 sah die deutsche Bevölkerung des Sudetenlandes ihr beim Zerfall Österreich-Ungarns 1918 angestrebtes, aber durch den Vertrag von St. Germain verhindertes Selbstbestimmungsrecht mit zwanzig Jahren Verspätung eingelöst. (So hatte in Wien auch der ehemalige Staatskanzler Karl Renner – er stammte aus Südmähren – im März 1938 argumentiert, als er den Anschluss Österreichs an das Deutsche Reich begrüßte.) Ein Selbstbestimmungsrecht, das zum Zeitpunkt seiner Verwirklichung andererseits dazu führte, dass das Sudetenland in die Hände der Nationalsozialisten fiel. Ungeachtet dessen war die Angliederung der überwiegend deutsch besiedelten Randgebiete Böhmens an das Deutsche Reich als Reichsgau Sudetenland von der Zustimmung der ganz überwiegenden Mehrheit der Bevölkerung begleitet. Für einen politischen Eklat sorgte der ehemalige tschechische Ministerpräsident Miloš Zeman im Jahre 2002, als er so weit ging, im Zusammenhang mit den Sudetendeutschen von der Fünften Kolonne des Dritten Reiches zu sprechen.

Wenige Monate nach Abschluss des Münchener Abkommens wurden durch den inzwischen zurückgetretenen und in London ansässigen ehemaligen Präsidenten Edvard Beneš erste Ideen entwickelt, die auf eine Rückgewinnung der zwangsweise abgetretenen Gebiete sowie eine Ausweisung der dort lebenden deutschen Bevölkerung zielten.

Zweiter Weltkrieg

Unmittelbar nach Beginn des Zweiten Weltkrieges gründete der ehemalige tschechoslowakische Präsident Eduard Beneš das tschechoslowakische Nationalkomitee, das sowohl von der britischen als auch der französischen Regierung anerkannt wurde. Nach dem deutschen Sieg über Frankreich im Juni 1940 erkannten die Briten die Gruppe um Beneš als tschechoslowakische Exilregierung und Beneš als Präsidenten an. In dieser Position verstärkte Beneš seine Anstrengungen hinsichtlich der vollständigen Wiedererrichtung der Tschechoslowakei unter Einschluss des Sudetenlandes und der Ausweisung der Minderheitsbevölkerungen der Deutschen, Ungarn und Polen.

Bereits weit vor Kriegsende erreichte Beneš von den Westalliierten die grundsätzliche Zustimmung zu seinen Entrechtungs- und Vertreibungsplänen. Die darauf abzielenden und später als Beneš-Dekrete bekannt gewordenen Gesetze und Verordnungen wurden von Beneš größtenteils schon ab 1943 formuliert.

Von der Vertreibung zur Entspannungspolitik

Nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges wurde damit begonnen, das im Londoner Exil entwickelte und vorbereitete Programm in die Tat umzusetzen. Beneš verkündete die Beneš-Dekrete, die die Enteignung und Entrechtung der Sudetendeutschen und Ungarn anordneten (bei den Ungarn wurde die Entrechtung 1948 aufgehoben). Deutsche, die ihre antifaschistische Gesinnung nicht zweifelsfrei nachweisen konnten, wurden mit einem „N“ (für „Nemec“ = „Deutscher“) gekennzeichnet und vertrieben („zwangsausgesiedelt“). Sie wurden in Arbeitslager gebracht, um z. B. in Kohlegruben, Gradierwerken und auf Bauernhöfen unentgeltlich und bei minimaler Verpflegung zu arbeiten, und dann zwangsausgesiedelt. Bezüglich der Ungarn wurde schließlich lediglich ein teilweiser Bevölkerungsaustausch gegen Slowaken aus Ungarn durchgeführt.

Insgesamt wurden 3 Millionen der knapp über 3,2 Millionen Sudetendeutschen vertrieben. Bei „Rache-Massakern“ kamen viele Deutsche um, genaue Zahlen sind nicht bekannt. Etwas über 30.000 sind anzunehmen. Nach verschiedenen Bevölkerungsbilanzen hat sich die Zahl der Sudetendeutschen zwischen Anfang Mai 1945 und den beiden Volkszählungen in der Bundesrepublik und der DDR vom August und September 1950 um über 200.000 vermindert.

Der ehemals sudetendeusche, später österreichische Kommunist Leopold Grünwald kommentierte:

„Die Vertreibung der Sudetendeutschen aus der Tschechoslowakei wurde mit einer angeblichen Kollektivschuld […] begründet […] Über die vielen Fakten, die diese Legende widerlegen – den antifaschistischen Widerstand im okkupierten Sudetengebiet sowie in den deutschsprachigen Gebieten der Slowakei in der Zeit des Krieges (1942–1945) – wurde in der Weltöffentlichkeit nichts bekannt. Dazu kam, dass die noch vielfach in der deutschnationalen Mentalität verhafteten Führer der Landsmannschaften lange kein Interesse an einer Ehrenrettung durch die Taten und Opfer der „vaterlandslosen Gesellen“, der deutschen Sozialdemokraten und Kommunisten, zeigten.[11]

„Das Unrecht der Vertreibung der Sudetendeutschen aus ihrer Heimat erscheint im Lichte der Bilanz des antifaschistischen Kampfes im Sudetengebiet besonders krass. Ergibt doch diese, dass die Zahl der Opfer des Widerstandes gegen das NS-Regime […] im Verhältnis zur Einwohnerzahl des Sudetengebietes weit größer war als etwa in Deutschland oder Österreich. Nach dieser Relation war der Umfang der Widerstandsbewegung im Sudetengebiet höher als in anderen deutschsprachigen Ländern.[12]

In die geräumten Regionen zogen überwiegend Tschechen aus dem Landesinnern und auch Tschechen, die vorher von den Deutschen von dort vertrieben worden waren, sowie Slowaken und Roma. Die Meisten erhielten den Zuschlag auf die jeweilige zuvor von Sudetendeutschen oder Ungarn enteignete Immobilie unentgeltlich über ein Auslobungsverfahren, welches die Regierung unter der tschechischen und slowakischen Bevölkerung durchführte. Einzelne nahmen Häuser noch unter Anwesenheit der Vorbewohner gewaltsam in Besitz. Weiterhin wurden etwa 44.000 Ungarn in das verlassene Sudetenland zum Arbeitsdienst deportiert. Nach ein bis zwei Jahren wurde den Ungarn erlaubt, in die Südslowakei zurückzukehren, was auch rund 24.000 von ihnen taten.

Durch die Neuverteilung der geräumten Immobilien kam es bei vielen Tschechen „als Ausgleich für durch die Nationalsozialisten verübtes Unrecht“ zu einem erheblichen Wohlstandszuwachs. Bis heute sorgt dieses Thema für Spannungen zwischen den Regierungen Österreichs, Deutschlands und Ungarns einerseits und der tschechischen Regierung andererseits. Am 27. Februar 1992 wurde zwischen der Tschechoslowakei und Deutschland ein Vertrag über die freundschaftliche Zusammenarbeit geschlossen.

Spannungen zu entschärfen ist auch eines der wichtigsten Ziele der gemeinsamen Deutsch-tschechischen Erklärung über die gegenseitigen Beziehungen und deren künftige Entwicklung vom Januar 1997. Die sudetendeutschen Organisationen waren damit nicht zufriedengestellt. Premierminister Milos Zeman bezeichnete die Sudetendeutschen 2002 als „fünfte Kolonne Hitlers“ und als Zerstörer der tschechoslowakischen Demokratie.[13]

Heute treffen sich viele Sudetendeutsche einmal jährlich auf dem Sudetendeutschen Tag. Während in den Anfängen stark das erlittene Unrecht im Vordergrund stand, spielt heute der völkerverbindende europäische Gedanke eine größere Rolle.

Sprache

Die verschiedenen sudetendeutschen Dialekte lassen sich in fünf Mundartlandschaften unterteilen:

  • Mittelbairisch (Südmähren, unterer und mittlerer Böhmerwald, Schönhengst, die Sprachinseln von Budweis, Wischau, Brünn und Olmütz).
  • Nordbairisch oder Oberpfälzisch (Westböhmen mit dem Egerland, Iglauer Sprachinsel).
  • Ostfränkisch (kleinste Sprachlandschaft; sie reicht von NW-Böhmen über das Erzgebirge bis in die Gegend von Bamberg und ist auch noch im Schönhengst und im mittleren Nordmähren vertreten).
  • Schlesisch (Ostböhmen, Nordmähren).
  • Obersächsisch (Nordböhmen und als Mischdialekt mit dem Nordbairischen in der Iglauer Sprachinsel)

Der Wortschatz wird beschrieben im Sudetendeutschen Wörterbuch. Die Sprachgeographie wird derzeit erforscht vom Atlas der historischen deutschen Mundarten auf dem Gebiet der Tschechischen Republik.

Bedeutende Städte und Orte

Siehe auch:

Literatur

  • Rudolf Hemmerle: Sudetenland-Lexikon. Adam Kraft, Mannheim 1984 (Sonderausg., Würzburg 2001, ISBN 3-88189-395-4).
  • Zmizelé Sudety: Das verschwundene Sudetenland. Antikomplex, Domažlice 2003 (4. Auflage 2004, ISBN 80-86125-73-4).
  • Jörg Osterloh: Nationalsozialistische Judenverfolgung im Reichsgau Sudetenland 1938-1945. München / Oldenbourg 2006, ISBN 3-486-57980-0.

Weblinks

Einzelnachweise

  1. Sudetenland, in: Westermann Lexikon der Geographie, Bd. IV, Sp. 450
  2. Zitat Hans Lemberg, Collegium Carolinum, München 1993.
  3. Josef Seliger
  4. Jörg K. Hoensch: Geschichte der Tschechoslowakischen Republik 1918–1978, W. Kohlhammer, Stuttgart 1978², ISBN 3-17-004884-8, S. 30
  5. Stenographische Protokolle der Konstituierenden Nationalversammlung für Deutschösterreich, 2. Sitzung, 5. März 1919, S. 26 (alex.onb.ac.at)
  6. Leopold Grünwald: Der Sudetendeutsche Widerstand gegen Hitler (1938–1945). In: Leopold Grünwald (Hrsg.): Sudetendeutsche – Opfer und Täter. Verletzungen des Selbstbestimmungsrechtes und ihre Folgen 1918–1982. Junius, Wien 1983. S. 41
  7. Eva Hahn, Hans Henning Hahn: „Wir wollen heim ins Reich“ – Die Sudetendeutsche Landsmannschaft und ihre ungeklärte Tradition, in: Die Zeit, Hamburg, Nr.8, 14. Februar 2002, S. 90
  8. Grünwald: a.a.O., S. 42
  9. Faksimile in Grünwald: a.a.O., S. 43
  10. Grünwald: a.a.O., S. 42
  11. Grünwald: a.a.O., S. 44 f.
  12. Grünwald: a.a.O., S. 54
  13. Eva Hahn, Hans Henning Hahn: a.a.O., S. 90

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