Sêra

Sêra
Tibetische Bezeichnung
Tibetische Schrift:
སེ་ར་
Wylie-Transliteration:
se ra
Aussprache in IPA:
[sera]
Offizielle Transkription der VRCh:
Sêra
THDL-Transkription:
Sera
Andere Schreibweisen:
Séra[1]
Chinesische Bezeichnung
Traditionell:
色拉寺
Vereinfacht:
色拉寺
Pinyin:
Sèlā Sì

Sêra ist eines der Drei Großen Klöster (dainsa sum / gdan-sa gsum) des Gelug-Ordens des tibetischen Buddhismus. Es liegt in Lhasa, der Hauptstadt des Autonomen Gebiets Tibet in der Volksrepublik China.

Inhaltsverzeichnis

Geschichte

Sêra bedeutet „Wildrose“ oder „Hagebutte“. Das Kloster liegt ca. drei Kilometer nördlich von Lhasa. Der Legende nach soll Tsongkhapa (tsong kha pa, 1357–1419), der Gründer des Gelug-Ordens, im Jahr 1409 seinen Kommentar „Rigpai Gyaco“ (rigs pa’i rgya mtsho) zu einem Werk von Nagarjuna in einer Einsiedelei namens Sêra Qoiding (se ra chos lding) oberhalb der Stelle, an der sich heute das Kloster befindet, geschrieben haben. Beim Schreiben soll eine der Seiten vom Wind davon geweht worden sein; goldene Buchstaben sollen von der Seite ausgegangen sein und sich auf einem Stein festgesetzt haben. Tsongkhapa prophezeihte, dass an dieser Stelle eine große Stätte buddhistischer Gelehrsamkeit errichtet werden würde, vor allem für die Madhyamaka-Lehre von der Leere, und 1419, als Tsongkhapa starb, gründete einer seiner Schüler – Jamqên Qoijê Xagya Yêxê (byams chen chos rje shâ kya ye shes, 1354–1435) – an dieser Stelle das Kloster Sêra. Sêra, Gandain und Drepung gelten als die Drei Großen Klöster des Gêlug-Ordens.

Ursprünglich war das Kloster ein Zentrum für Studium und Praxis des Tantra, doch schon bald nach seiner Gründung wurde der Schwerpunkt in eine scholastisch-philosophische Richtung verlagert.

Der dritte Abt von Sêra, Kungru Gyaicain Sangbo (gung ru rgyal mtshan bzang po, 1383–1450) teilte das Kloster in vier Fakultäten (Chacang / grwa tshang): Gya (rgya), Zhomdêng (’brom steng), Doi (stod) und Mai (smad). Bald darauf wurden diese vier zu zwei Fakultäten zusammengelegt, nämlich Doi und Mai; in der zweiten Hälfte des 15. Jahrhunderts wurde Doi mit einer neu geschaffenen Fakultät – Qê (byes) – zusammengelegt. Für über zweihundert Jahre waren dies die beiden Fakultäten von Sêra. Anfang des 18. Jahrhunderts wurde die dritte Fakultät – Ngagba (ngnag pa) – eingerichtet. Qê und Mai waren philosophische Fakultäten (Cannyi Chacang / mtshan nyid grwa tshang), an denen nach zwanzigjährigem Studium ein Geshe-Titel (dge bshes) vergeben wurde. Ngagba war eine tantrische Fakultät (gurim chacang / sku rim grwa tshang).

Qê und Ngagba verwendeten die Lehrbücher (yigqa / yig cha) von Jêzünba Qoigyi Gyaicain (rje btsun pa chos kyi rgyal mtshan, 1469–1544); Mai verwendete die Lehrbücher von Kaizhub Gêdün Dainba Dargya (mkhas grub dge ’dun bstan pa dar rgyas, 1493–1568).

Den drei Fakultäten unterstanden insgesamt 35 Abteilungen (Kangcain / khang tshan), denen die Mönche je nach ihrer Herkunft zugeteilt wurden.

Bis 1959 hatte jede Fakultät ihre eigene Verwaltung und ihren eigenen Abt. Der so genannte Rat der Zehn Lamas (Lakaju / bla kha bcu) unter Führung der Äbte der drei Fakultäten verwaltete das Kloster als Ganzes. Es gab offiziell 3.300, tatsächlich jedoch 7.500 bis 10.000 Mönche, von denen 1958 jedoch nur 400 „lesende Mönche“ (Bêqawa / dpe cha ba) waren, die tatsächlich studierten. Die übrigen arbeiteten, und etwa ein Siebtel waren Dobdobs (ldob ldob), d.h. Angehörige bewaffneter Banden, welche die Ordensregeln nicht einhielten.[2]

Im Herbst 1944 gingen sieben bis zehn Mönche von Sêra Qê und einer von Sêra Ngagba nach Lhünzhub nördlich von Lhasa, um Zinsen einzutreiben. Die Bauern konnten die Zinsen nicht entrichten und appellierten an die Regierung, die den Kreisverwalter anwies, zu vermitteln. Die Mönche von Sêra gerieten mit diesem in Streit und erschlugen ihn mit einem getrockneten Schafsbein. Das Kloster nahm die Mörder in Schutz und gab sie nicht heraus. Im Konflikt zwischen den Regenten Razhêng Casa (rwa sgreng dza sa) und Dagzhag Rinboqê (stag brag rin po che) 1939 hatten die Mönche von Sêra den Regenten Razhêng unterstützt, der am 4. Dezember 1944 erstmals nach seinem Rücktritt nach Lhasa kam, in der Hoffnung, wieder die Macht zu übernehmen. Außerdem versuchte er, die Mönche von Sêra Qê zur Rebellion aufzustacheln. Diese Konflikte führten dazu, dass die Mönche von Sêra Qê das Große Gebetsfest vom 14. bis 17. Februar 1945 boykottierten und der Abt von Sêra Qê im März nach Qamdo floh, in ein Gebiet, das nicht unter der Kontrolle von Lhasa stand. Er wurde von der Guomindang-Verwaltung empfangen und kehrte erst 1951 wieder nach Lhasa zurück. Der Regent Dagzhag ernannte den Mongolen Daindar (bstan dar) zum Abt von Sêra Qê, was zum endgültigen Bruch zwischen Dagzhag und Razhêng führte.

Nach der Festnahme von Razhêng ermordeten Mönche von Sêra Qê am 16. April 1947 den Abt Daindar, weil dieser nicht gegen die Verhaftung von Razhêng protestiert hatte. Sie begannen einen bewaffneten Aufstand gegen den Regenten Dagzhag und versuchten, Razhêng aus dem Gefängnis zu befreien. Vom 26. bis 29. April kämpfte die tibetische Armee gegen das Kloster und schlug den Aufstand schließlich nieder, wobei sie Kanonen gegen das Kloster einsetzte und 200 bis 300 Mönche getötet wurden.[3]

Nach dem Aufstand von 1959 wurde das Kloster aufgelöst und die Gebäude als Kaserne benutzt. Während der Kulturrevolution wurde ein großer Teil der Gebäude zerstört. 1980 wendete die chinesische Regierung eine halbe Million Yuan Renminbi für die Renovierung des Klosters auf, und der Betrieb wurde wiederaufgenommen. 1982 wurde das Kloster vom Staatsrat unter Denkmalschutz gestellt. Ein großer Teil der Gebäude wurde wieder errichtet bzw. renoviert. Die beiden philosophischen Fakultäten wurden jedoch nicht wiederhergestellt, sondern alle Mönche folgen der Tradition von Qê. Derzeit leben rund 750 Mönche im Kloster. Im Jahr 1992 hatte das Kloster offiziell Einnahmen von rund 860.000 Yuan, davon waren die Hälfte Spenden.

Architektur

Kloster Sera 1938/1939

Das Kloster hat heute eine Fläche von 114.946 Quadratmetern. Der größte Teil der Fläche wird von den Gebäuden der Kangcain eingenommen. Die drei größten Gebäude sind die großen Hallen der drei Fakultäten und des Cogqên (tshogs chen), die Große Versammlungshalle des ganzen Klosters.

Der Cogqên wurde 1710 errichtet, ist vier Stockwerke hoch und befindet sich im Nordosten des Areals. Die Haupthalle wird von 125 Säulen getragen und nimmt eine Fläche von 2.000 Quadratmetern ein. In dem Gebäude befindet sich u.a. eine Statue von Xagya Yêxê und eine Ausgabe des Gangyur (bka’ ’gyur), ein Geschenk des Ming-Kaisers Chengzhu. Hinter der Haupthalle sind drei kleinere Hallen, in der u.a. eine Ausgabe des Gangyur (bka’ ’gyur) aufbewahrt wird, ein Geschenk des Ming-Kaisers Zhudi aus dem Jahr 1410.

Das älteste Chacang-Gebäude ist das der Mai-Fakultät aus dem Jahr 1419. Es hat besonders gut erhaltene Fresken. Im Gebäude der Qê-Fakultät von 1435 befindet sich eine berühmte Hayagriva-Statue. Im Debatten-Hof der Qê-Fakultät befindet sich der Uma Lhakang (dbu ma lha khang, Madhyamaka-Tempel). Er soll sich an der Stelle des Steines aus der Gründungslegende von Sêra befinden. Das dritte und kleinste Chacang-Gebäude ist das der Ngagba-Fakultät; es stammt aus dem Jahr 1559.

Sêra hat heute 33 Kangcain-Gebäude mit jeweils einem Hof.

Hinter dem Kloster liegt heute der einzige Platz für Himmelsbestattungen von Lhasa.

Literatur

  • blo bzang kun mkyen / Luòsāng Gòngqīn 洛桑贡钦: chos sde chen po se ra theg chen gling gi gnas bshad gser gyi sgron me / Sèlā Sì jiǎnjiè 色拉寺简介 (Lhasa, bod ljongs mi dmangs dpe skrun khang / Xīzàng rénmín chūbǎnshè 西藏人民出版社 2003), ISBN 7-223-01560-8.
  • Xióng Wénbīn 熊文彬 (Hg.): Sèlā Sì 色拉寺 (Beijing, Wǔzhōu chuánbō chūbǎnshè 五洲传播出版社 1997), ISBN 7-80113-319-6.

Weblinks

Fußnoten

  1. John Powers: Introduction to Tibetan Buddhism. Snow Lion, Ithaca/Boulder 2007, passim.
  2. vgl. Tashi Tsering, William R. Siebenschuh, Melvyn C. Goldstein: The Struggle for Modern Tibet. The Autobiography of Tashi Tsering (Armonk, M.E. Sharpe 1997), ISBN 1-56324-950-2, S. 29.
  3. Melvyn Goldstein: A History of Modern Tibet, 1913-1951: The Demise of the Lamaist State (University of California Press 1991), ISBN 0520075900;
    Patricia Cronin Marcello: The Dalai Lama. A Biography (Westport, Greenwood 2003), ISBN 0-313-32207-4, S. 52;
    Jane Ardley: The Tibetan independence movement. Political, religious and Gandhian perspective, ISBN , S. 17;
    Melvyn C. Goldstein, Matthew Kapstein: Buddhism in Contemporary Tibet. Religious Revival and Cultural Identity (Berkeley / Los Angeles, University of California Press 1998), ISBN 0-520-21130-8, S. 19.

29.69805555555691.1333333333337Koordinaten: 29° 41′ 53″ N, 91° 8′ 0″ O


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