Baltische Verbindungen

Baltische Verbindungen

Als Baltische Studentenverbindungen bezeichnet man die Studentenverbindungen der Deutsch-Balten, einer historischen deutschsprachigen Minderheit im Gebiet der heutigen Länder Estland und Lettland (in den historischen Landschaften Livland und Kurland) an den Universitäten Dorpat (estnisch Tartu), Riga, Sankt Petersburg und Moskau.

Die in diesen Ländern seit dem 12. Jahrhundert eine Oberschicht bildende deutschsprachige Bevölkerung befand sich ab 1561 außerhalb des deutsch beherrschten Gebietes in den russischen Ostseeprovinzen und konnte sich dort bis zur Umsiedlung aufgrund des Deutsch-Sowjetischen Grenz- und Freundschaftsvertrages 1939 halten.

Inhaltsverzeichnis

Deutsch-Balten auf deutschen Universitäten

Göttinger Kurländer von 1773

Die Söhne dieser Familien studierten seit alters her auf Universitäten im deutschen Sprachgebiet. So ist bereits seit dem 17. Jahrhundert ein landsmannschaftlicher Zusammenschluss von Deutsch-Balten an einer deutschen Hochschule überliefert. In Göttingen ist zum Beispiel für 1772, 1778 und 1780 eine „Landsmannschaft der Kurländer“ nachweisbar. Bereits damals zeichneten sich die Kurländer durch eine farblich gekennzeichnete Uniform aus. Sie trugen in Göttingen einen blauen Rock mit roten Unterkleidern, wobei Kragen, Rock und Weste gelb abgesetzt waren. Die Kokarde war weiß. [1] Auch später sind zahlreiche Landsmannschaften der Liv- und Kurländer als studentische Vereinigungen im deutschen Raum nachweisbar.

Seit dem 19. Jahrhundert sind die Farben der Kurländer an deutschen Universitäten „grün-blau-weiß“.

Als mit den Corps um das Jahr 1800 die ersten Studentenverbindungen im heutigen Sinne entstanden, bildeten sich in Jena am 4. Dezember 1801 und in Göttingen im Wintersemester 1804/05 jeweils eine Curonia („Kurland“). Die erste Curonia, die sich „Corps Curonia“ nannte, bestand 1810 in Heidelberg. Weitere Universitäten, in denen kurländische Corps für das 19. Jahrhundert nachgewiesen sind, waren Berlin, Bonn und Leipzig. An allen diesen Universitäten trugen die Kurländer die Farben „grün-blau-weiß“, wobei in Jena die Farben der örtlichen Tradition entsprechend von unten gezählt wurden („grün-blau-weiß von unten“). Weite Verbreitung bei diesen Corps fand auch der lettische Wahlspruch „Tam draugam draugs!“ (deutsch: „Dem Freunde Freund!“), oft abgekürzt als „TDD“.

In Göttingen haben in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts insgesamt nacheinander sechs verschiedene Corps mit Namen „Curonia“ bestanden. Pastor Franz Oehme schreibt in seinen „Göttinger Erinnerungen“ (erschienen in Gotha 1873) über den Zeitraum von 1824 bis 1826 (Zeit des V. Göttinger Curonen-Conventes):

„Die Kurländer stehen oben an. Der Zahl nach nur klein, aber durch edle Haltung ausgezeichnet. Excesse hat kein Kurländer begangen, durch welche ein Tadel auf die Verbindung fallen könnte. Wo es Studentenehre betraf mit dem Schläger in der Hand, trat der Kurländer gegen keinen zurück... In ihrer Verbindung waren nicht solche, die sich hervortaten, die renommierten, sich auffallend kleideten, oder zu erkennen gaben, daß sie reiche Edelleute seien – und doch erkannte jeder ihren Wert an und freute sich, mit ihnen in Verbindung zu stehen. Es ist aber auch nicht zu leugnen; sie hatten etwas Abgeschlossenes.“

Von diesem fünften Göttinger Curonen-Convent, der von 1823 bis 1827 bestand, ist eine Mitgliederliste mit 31 Namen erhalten. Auf dieser Liste stehen 26 Adlige, darunter 19 Barone, 4 Grafen und ein russischer Fürst.

Eine größere Zahl Angehöriger baltischer Herkunft konnten unter den deutschen Corps vor allem Guestphalia Heidelberg und Franconia Jena aufweisen, Affinitäten bestanden zu weiteren renommierten Corps des Grünen sowie den Corps des Weißen Kreises.

Baltische Universitäten

Im Jahre 1802 wurde die Kaiserliche Universität zu Dorpat durch den damals reformgesinnten Zaren Alexander I. (wieder)begründet. Diesmal nach Eigenansätzen der Estländischen Ritterschaft, also des landbesitzenden deutschstämmigen Adels. Daraufhin formierte sich im Jahre 1808 auch in Dorpat eine Curonia als Verbindung der Studierenden mit Herkunft aus der Provinz Kurland (Teil des heutigen Lettlands). Neben dieser bestanden die Landsmannschaften der Estländer und der Livländer, die Estonia und die Livonia.

Unter ihren Mitgliedern fand sich eine Anzahl von Studenten, die auch vorher schon Mitglieder einer Curonia im deutschen Raum gewesen waren. Sie brachten präzise Vorstellungen mit, wie das Studentenleben zu organisieren sei. Durch diese Beziehungen entwickelte sich auch im Baltikum das Verbindungswesen nach deutschem Vorbild. Besonders der Göttinger Comment und die Göttinger Fechtweise wurden übernommen.

Als im Jahre 1862 in Riga eine technische Hochschule eröffnete, das so genannte Baltische Polytechnikum, gründeten sich auch hier verschiedene Corps, so die Fraternitas Baltica (1865), die Concordia Rigensis (1869), die Rubonia (1875) und die Fraternitas Marcomannia (1902), die später nach Moskau verlegte. Bei den Neugründungen in Riga spielte die landsmannschaftliche Herkunft der Studenten bereits keine Rolle mehr. Es folgten in Dorpat und Riga in den nächsten Jahrzehnten weitere Neugründungen, Umbenennungen und Verlegungen.

Seit 1847 bestand auch in Sankt Petersburg ein deutsch-baltisches Corps mit Namen Nevania, seit 1909 die Fraternitas Hyberborea.

Um die Mitte des 19. Jahrhunderts gründeten auch Studenten anderer im Baltikum vertretener Nationen Studentenverbindungen nach dem deutsch-baltischen Muster. So entstanden Verbindungen der Esten, der Letten, der Polen und der Russen.

Baltische Besonderheiten

Die Besonderheit gegenüber der Entwicklung in Deutschland war, dass sich die auf dem frühen Corpsstudententum basierende, zuerst landsmannschaftlich ausgerichtete Verbindungsform im Baltikum voll und ganz durchsetzte und spätere Entwicklungen hier nicht Fuß fassen konnten. Das lag hauptsächlich an der übersichtlichen Situation im Baltikum. Die Zahl der Studenten und der Familien, aus denen sie stammten, war begrenzt, man kannte sich, und für viele unterschiedliche Verbindungsarten gab es gar keinen Raum.

Das baltische Verbindungsstudententum gilt auch unter Studentenhistorikern als „Überlieferungsinsel“ der frühen Sitten und Gebräuche in Deutschland. Da in Deutschland aufgrund der schlechten Quellenlage durch die vielen Verbote manchmal Lücken bei der Erforschung studentischer Bräuche bleiben, werden baltische Überlieferungen aus späteren Zeiten gern zur Erklärung älterer deutscher Phänomene herangezogen.

So hatten die baltischen Studentenverbindungen an der zunehmenden Formalisierung der studentischen Kneipe keinen Anteil. Bis heute sitzt man zwanglos zusammen, der Senior sitzt als Leitender mitten unter den Teilnehmern.

Bei der Mensur, dem studentischen Fechten mit scharfen Waffen, gab es im Baltikum nicht die Entwicklung in Richtung „Bestimmungsmensur“, bei der ohne vorangegangene Beleidigungen ausschließlich zur Ausbildung der Persönlichkeit gefochten wird. Bis ins Jahr 1939 wurden im Baltikum mit dem Korbschläger, wenn nötig auch mit der Duellpistole, grundsätzlich nur Ehrenstreitigkeiten ausgetragen. Die Ausrüstung und die Durchführung des Fechtens entsprach auch bis 1939 dem Stand, wie er in Deutschland um die Mitte des 19. Jahrhunderts üblich war. Wer sich als „Antiduellant“ bekannte, brauchte überhaupt nicht mit scharfen Waffen gegen irgendjemanden anzutreten.

Auf der anderen Seite entstanden aber auch ganz andere Sitten und Formen des Verbindungslebens, die als typisch baltische Entwicklungen anzusehen sind. So war das auf studentischen Kneipen übliche Getränk Bier im Baltikum schwer zu bekommen. Die Studenten verlegten sich auf den ortsüblichen Wodka, der im Zusammenhang mit kleinen Speisen genossen wurde (Siehe auch: Wodka ) und bis heute wird. Auch ein Samowar, aus dem Tee serviert wird, gehört bis heute zu einer baltischen Studentenkneipe.

Besonderheiten gibt es bis heute auch beim Couleur, den in Verbindungsfarben gehaltenen Erkennungszeichen. So ist die Studentenmütze, im Baltikum „Deckel“ genannt, in der Regel oben mit einem Stern, dem so genannten Baltenstern, bestickt. Neumitglieder, die so genannten Füchse, tragen bei einigen baltischen Verbindungen kein Brustband (auch dies ist noch heute üblich). Der „Deckel“ der Füchse zeigt auch keine Verbindungsfarben und ist bei einigen baltischen Verbindungen ganz in schwarz gehalten.

Weitere baltische Besonderheiten bestehen in der Terminologie. So heißt der Senioren-Convent, also der örtliche Zusammenschluss der Verbindungen, im Baltikum „Chargierten-Convent“, abgekürzt „Ch!-C!“ mit Ausrufezeichen statt Punkten als Abkürzungszeichen. Der Fuchsmajor heißt „Oldermann“ und das Korporationshaus wird „Conventsquartier“ („C!Q!“) genannt.

Nach dem Ersten Weltkrieg

Nach dem Ende des Ersten Weltkrieges und der Gründung der unabhängigen baltischen Staaten mussten die deutschbaltischen Verbindungen von Dorpat nach Riga umsiedeln. Gleichzeitig gründeten sich die ersten Verbindungen baltischen Typs in Deutschland, da viele Studenten nun woanders weiterstudierten. So entstand in Jena ein Zweig-Convent der Curonia, der enge Beziehungen zu den dortigen Corps unterhielt und bis 1934 bestand. Von 1921 bis 1931 gab es einen Tochterconvent der Fraternitas Academica Dorpat in Berlin und ab 1924 einen Tochterconvent der Rubonia Riga in München. Von 1922 bis 1930 existierte in Danzig das baltische Corps Fraternitas Dorpatensis.

In der Zeit der Unabhängigkeit der baltischen Staaten zwischen den Weltkriegen begann die große Zeit der estnischen und lettischen Studentenverbindungen. Besonders in den 1920er Jahren wurden viele Verbindungen dieser Art gegründet, die sich als Einrichtungen zur Pflege der nationalen Identität der baltischen Völker verstanden, obwohl sie den von Deutschbalten entwickelten Traditionen folgten. Interessant dabei war, dass sich sehr viele Damenverbindungen (Sororitates) gründeten, die auch die Traditionen – mit Ausnahme des studentischen Fechtens – weitgehend übernahmen.

Nach dem Zweiten Weltkrieg

Nach der Umsiedlung 1939 und den politischen Umwälzungen des Zweiten Weltkriegs schien das Ende des baltischen Verbindungsstudententums besiegelt. Doch schon bald nach 1945 erhoben sich Stimmen, die auf eine Wiedergründung drängten. Das ging natürlich nur in der damals neu entstandenen Bundesrepublik Deutschland. Hier formierten sich bald das

Letzteres gehört dem Weinheimer Senioren-Convent (WSC) an, die erstgenannten hingegen sind in den Kösener Senioren-Convents-Verband (KSCV) aufgenommen worden und pflegen das baltische Erbe auf deutschem Boden weiter.

Mehr in der klassischen Ausprägung entstand die

In Tübingen bestand von 1951 bis ca. 1970 die AV Contubernium Dorpatense [2].

Dachverband der Alten Herren (Philister) der in Deutschland wiederentstandenen baltischen Verbindungen ist der Baltische Philisterverband (B!Ph!V!), der 1951 gegründet wurde. Er sieht sich in der Tradition der Curonia von 1808 und hat den Zweck, die Ziele, Traditionen und Ideen des baltischen Burschentums wachzuhalten, zu fördern und zu unterstützen.

Unabhängigkeit der baltischen Staaten

Im Jahre 1961 wurde in Heidelberg die Tradition des Baltischen Völkerkommerses begründet, der sich zu einer mehrtägigen Wochenendveranstaltung entwickelt hat, in deren Rahmen neben dem eigentlichen Kommers auch ein Ball und ein Festakt stattfinden. Seit der Unabhängigkeit der baltischen Staaten 1991 findet die Veranstaltung – in enger Zusammenarbeit und Abstimmung mit den seit Ende des 19. Jahrhunderts entstandenen und nach der Wende aus dem Exil zurückgekehrten estnischen und lettischen Verbindungen – abwechselnd an deutschen (Hamburg, Göttingen, München), lettischen (Riga) und estnischen Hochschulorten (Tallinn, Tartu) statt. So nahmen am 40. Baltischen Völkerkommers im Jahre 2003 in Tartu mehr als 53 baltische Korporationen teil. Nachfolgende Veranstaltungsorte waren Riga (2004), Hamburg (2005), Tartu (2006), Riga (2007) und Göttingen (2008)[3].

Zur Bildung von Netzwerken zwischen estnischen, lettischen und deutschen Korporationen wurde von deutsch-baltischen Corpsstudenten der Förderkreis „Brücke zum Baltikum“ (FKB) gegründet, der inzwischen Mitglied des europäischen Bildungsprogramms „Leonardo da Vinci“ an der Technischen Universität Riga ist. Der FKB möchte einen Beitrag zur Integration des Baltikums in die Europäische Union leisten. So werden zum Beispiel Praktikumsplätze für baltische Studenten vermittelt, die Praktikanten vor Ort betreut und gesellschaftlicher Anschluss geboten. Aber auch Besuche von Schülern, die in Deutschland studieren möchten, werden unterstützt, die Schulen erhalten Spenden für Lehrmaterial.

Quellennachweise

  1. Hans Becker von Sothen: Die Göttinger Verbindungen und ihre Farben 1800 bis 1833. Dargestellt anhand zweier Stammbuchblätter., in: Einst und Jetzt. Jahrbuch 1994 des Vereins für corpsstudentische Geschichtsforschung, Stamsried 1994, Seite 191.
  2. http://www.imeria.lv/lv/FS_konference_Germany
  3. Jasper von Altenbockum: Baltischer Völkerkommers. Exit! Schmollis! Fiduzit! In: Frankfurter Allgemeine 16. Juni 2008

Weblinks

Literatur

  • Otto von Grünewaldt, Baltisches Burschenleben – Erinnerungen an die Studentenzeit in Dorpat, WJK-Verlag, Hilden 2003 ISBN 3-933892-60-0
  • Kurt U. Bertrams (Hrsg.), Student in Dorpat, Hilden 2004, WJK-Verlag, Band I, ISBN 3-933892-67-8, Band II, ISBN 3-933892-68-6
  • Otto Kraus, Deutsch-baltische Corps, in: Vorstand des Verbandes Alter Corpsstudenten e.V. (VAC) (Hrsg.), Handbuch des Kösener Corpsstudenten, Band I, Würzburg 1985
  • Dietrich G. Kraus, „Baltisches Burschentum in Dorpat und Riga“ in „Jahrbuch des baltischen Deutschtums“, Band XLV – 1998
  • Schack-Steffenhagen: Die Convente der Curonia an den Universitäten Deutschlands 1801–1803. In: Festschrift der Curonia. Bonn 1958
  • Holger Schwill: Baltische Kneipe in der Hauptstadt. Alte Herren in der Hauptstadt erlebten Studententum des Ostseeraums. In: Corps. Das Magazin, Ausgabe 2/2008, S. 33


Siehe auch: Studentenverbindung, Liste verbindungsstudentischer Begriffe, Corps


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