Technokraten

Technokraten

Technokratie (griech.: τεχνοκρατία „Herrschaft der Technik“) bezeichnet – oft im abwertenden Sinne – eine Regierung von Fachleuten und Experten. Kennzeichnend für technokratische Regierungen ist die Ausrichtung ihrer Entscheidungen (ausschließlich) an wissenschaftlich-technischen Argumenten und Sachzwängen. Im Vordergrund steht die rationale, effektive Planung und Durchführung zielorientierter Vorhaben. Während sich die Aufmerksamkeit ganz auf Mittel und Wege konzentriert, verringert sich die Bedeutung demokratischer Willensbildung und politischer Entscheidungsprozesse hinsichtlich der Wahl gesellschaftlicher Ziele.

Inhaltsverzeichnis

Merkmale

Merkmale der Technokratie sind:

  • Auf Sachzwängen aufgebaute Argumentationsmuster, bei denen Sozial- und Bedürfnisorientierungen außer Acht gelassen werden
  • Fortschritt und Wissenswachstum als Zielvorstellung der Gesellschaft
  • Tendenzielle Vernachlässigung von Fragen der Verteilungsgerechtigkeit
  • Verlagerung der Macht von demokratisch gewählten politischen Institutionen in von diesen bestimmte, aber ausschließlich fachgebunden arbeitende Zirkel („Experten-Kommissionen“)
  • Allgemeine Rationalisierung und Verwissenschaftlichung kultureller, politischer/gesellschaftlicher und ökonomischer Prozesse.
  • Statistisch-technisch orientiertes Menschenbild, Vereinheitlichung und Rationalisierung menschlicher Bedürfnisse zur besseren Verwaltung.

Herkunft

Der Begriff wurde im Ausgang des Ersten Weltkriegs in den USA geprägt, wobei Konzepte des amerikanischen Soziologen Thorstein Veblen wegweisend waren. Veblen argumentierte, dass Ingenieure die Leitung jedes Staates übernehmen sollten, da sie am besten geeignet seien, kybernetische Systeme zu bedienen.

Die grundlegende Vorstellung ist aber wesentlich älter. Als technokratische Utopien können der „Sonnenstaat“ von Tommaso Campanella (1602) oder „New Atlantis“ von Francis Bacon (1627) gelten. Mit der Industrialisierung gewann die technokratische Utopie im 19. Jahrhundert eine neue, realitätsnähere Prägung. Henri de Saint-Simon und sein Schüler Auguste Comte haben im Sinne des Positivismus Gesellschaftsentwürfe formuliert, in denen der instrumentellen Vernunft ein fast uneingeschränktes Herrschaftsrecht zukam. Auch die politische Philosophie von Platon kann man als technokratisch verstehen.

Die von Veblen, aber auch etwa von Walter Rathenau gegen Ende des Ersten Weltkriegs vertretene Vorstellung, Ingenieure würden das Gemeinwohl am besten verwalten, ist sowohl in den Kontext einer fundamentalen Krise des Kapitalismus einzurücken als auch auf die Russische Revolution zu beziehen. Die Technokratie der Zwischenkriegszeit, die sich in den USA unter Howard Scott als „Technocracy Inc.“ zu einer politischen Partei verdichtete, verstand sich als „dritter Weg“ zwischen Kapitalismus und Sozialismus. Wichtige Ideologen des Nationalsozialismus wie Gottfried Feder nahmen in diesem Sinne technokratisches Gedankengut auf. Freilich sind technokratische Elemente auch tief im sowjetischen Modernisierungsprojekt verwurzelt, wie es Lenin am VIII. Sowjetkongress 1920 entwarf („Kommunismus – das ist Sowjetmacht plus Elektrifizierung des ganzen Landes“). Und auch der US-Amerikanische „New Deal“ unter Franklin D. Roosevelt kann als technokratisches Vorhaben interpretiert werden.

Die technokratische Vorstellung, wirtschaftliche Entwicklung sei am erfolgreichsten durch mächtige Expertenstäbe zu realisieren, lag dem US-amerikanischen Wiederaufbauplan für Westeuropa nach 1945 zu Grunde (Marshall Plan). Technokratische Planung etablierte sich in der Folge unter dem Stichwort Planification insbesondere in Frankreich. Die französischen Planvorstellungen, die wesentlich von Jean Monnet konkretisiert wurden, bildeten ihrerseits ein wesentliches Grundelement für die Europäische Union. Technokratische Planung erhielt in der Nachkriegszeit in allen westlichen Wohlfahrtsstaaten hohe Bedeutung. Sie wurde unter Wirtschaftsminister Karl Schiller selbst in der Bundesrepublik Deutschland wirksam, wo bisher der Ordoliberalismus prägend war.

In den 1950er-Jahren wurde das Technokratiethema insbesondere in Frankreich durch Jean Meynaud und Jacques Ellul aufgenommen, die den Verlust wertorientierter Handlungsoptionen angesichts einer sich eigendynamisch entwickelnden Technik beklagten. In Deutschland trat Helmut Schelsky in gleicher Absicht hervor. In den 1960er-Jahren haben sich, aufbauend auf der Kritik der instrumentellen Vernunft von Max Horkheimer, insbesondere Herbert Marcuse und Jürgen Habermas gegen die Anmaßung einer Technokratie gestellt. Wesentliche Beiträge zum Thema verfasste auch Hermann Lübbe.

Technokratiedefinitionen

Das Technokratieproblem weist weit über seinen Entstehungszusammenhang hinaus. Insofern es nach dem Verhältnis von wissenschaftlich-technischer Rationalität und moderner Staatlichkeit fragt, ist es ein sehr ambivalentes Thema, dessen Aktualität bis heute besteht. Drei Definitionsebenen sind zu unterscheiden:

  1. Technokratie als Herrschaft der Techniker: Politische Macht wird legitimiert durch Wissen und Expertise (im wissenschaftlich-technischen Sinn der europäischen Aufklärung)
  2. Technokratie als Herrschaft der Technik: Der politische Handlungsraum als Sphäre normativer Entscheide verringert sich im Zuge der Technisierung zunehmend. Technik gerät außer Kontrolle (Langdon Winner) und bringt schließlich den Bereich des Politischen insgesamt zum Verschwinden.
  3. Technokratie als Herrschaft der instrumentellen Vernunft: Eine spezifische Denkweise, die dem kapitalistischen Industriesystem dienlich ist, lenkt soziale Handlungen in allen Bereichen gesellschaftlicher Aktivität.

Von diesen drei Definitionsmustern leiten sich drei Theorietraditionen ab, die jeweils zustimmend-utopischen oder ablehnend-katastrophischen Charakter besitzen:

  1. Elitetheorien, die das Aufkommen einer fachkompetenten Expertenklasse in positiv oder negativ wertender Weise durchdenken. Nach Plato, Saint-Simon und Veblen hat etwa Alfred Frisch das Potenzial einer reinen Experten-Regierung als wünschenswerte Zukunftsvision beschworen. Ablehnend stellten sich hingegen insbesondere Jean Meynaud, später auch Daniel Bell und John Kenneth Galbraith zu der Perspektive, dass Experten als Wissensträger in der entstehenden Informationsgesellschaft eine akzentuierte Machtposition einnehmen könnten.
  2. Strukturtheorien, die der Eigendynamik der technischen Entwicklung in positiv oder negativ wertender Weise ein immenses Wirkungspotenzial auf die Gesellschaft zuschreiben. Positiv formuliert sind die Hoffnungen, soziale Probleme würden durch den technischen Fortschritt obsolet. Eine solche Argumentationsstruktur findet sich in den Schriften von Lenin. Ähnlich funktioniert aber auch die Argumentation von Bill Gates, der in „The Road Ahead“ 1995 den neuen Informations- und Kommunikationstechnologien, v. a. dem Internet, die Fähigkeit zusprach, einen „reibungslosen“ Kapitalismus zu realisieren. Die negativen Versionen der Strukturtheorie sind Legion. Sie beklagen den Freiheitsverlust, mit dem der moderne Mensch wegen der zunehmenden Technisierung seiner Umwelt zu rechnen hat. Besonders wirksam waren die Formulierungen von Jacques Ellul, Helmut Schelsky und Herbert Marcuse.
  3. Ideologiekritiken, die die Herrschaft der instrumentellen Vernunft auf das kapitalistische Industriesystem beziehen. Wichtigste Stimme in diesem Chor war Jürgen Habermas (Technik und Wissenschaft als „Ideologie“), 1969.

Weitere technokratie-kritische Stimmen

Neben Herbert Marcuse sind oder waren in Deutschland Günther Anders, Gotthard Günther, Erich Fromm oder Hermann Lübbe prominente Kritiker der Technokratie, international haben sich u. a. George Orwell (Technokratie sei Vorstufe des Faschismus, in seinen Essays über Faschismus), oder aktuell Noam Chomsky[1] in kritischer Weise über die Technokratie geäußert , siehe auch Gesellschaftskritik, Dystopie, Cyberpunk.

In der 68er-Bewegung wurde diese Kritik an der Technokratie auf breiter Basis aufgegriffen, der Technokratie und dem mit ihr verbundenen rationalen Sachzwang-Denken wurden von Künstlern und Intellektuellen beispielsweise Konzepte wie Subjektivität, der individuelle Wunsch, Selbstverwirklichung und Demokratisierung (bis hin zur Wirtschaftsdemokratie, siehe Mai 68) entgegengestellt. Es gehört freilich zur Ambivalenz des Themas, dass auch die gesellschaftsverändernden Visionen der Neuen Linken nicht frei von technokratischen Aspekten waren.

Eine sehr fundamentale Kritik an der technokratischen Vorstellung eine Gesellschaft quasi am Reißbrett mittels der Vernunft planen zu können, übt Karl Popper in seinem Buch „Die offene Gesellschaft und ihre Feinde“.

Götz Aly und Susanne Heim beschreiben das 3. Reich und die damit verbundenen Herrschaftspläne für Osteuropa des Generalplan Ost sowie die Vernichtung der europäischen Juden als das Resultat einer Expertokratie. So sei „Auschwitz [...] in hohem Maß die Folge einer gnadenlos instrumentalisierten Vernunft“ gewesen.[2]

Zitate

„Die Technik selbst kann Autoritarismus ebenso fördern wie Freiheit, den Mangel so gut wie den Überfluss, die Ausweitung von Schwerstarbeit wie deren Abschaffung. Der Nationalsozialismus ist ein schlagendes Beispiel dafür, wie ein hochrationalisiertes und durchmechanisiertes Wirtschaftssystem von höchster Produktivität im Interesse von totalitärer Unterdrückung und verlängertem Mangel funktionieren kann. (...)“

„Um die wirkliche Bedeutung dieser Veränderungen zu verstehen, ist es notwendig, einen kurzen Überblick zu geben über die traditionelle Rationalität und über die Formen der Individualität, die auf der gegenwärtigen Stufe des Maschinenzeitalters aufgelöst werden. Das menschliche Individuum, das die Vorkämpfer der bürgerlichen Revolution zur Keimzelle wie zum höchsten Zweck der Gesellschaft erhoben hatten, repräsentierte Wertvorstellungen, die offensichtlich denen widersprechen, welche die Gesellschaft heute beherrschen.“

Herbert Marcuse

Literatur

Thematik in Romanen:

  • Max Frisch: Homo Faber
  • Günther Anders: Die Antiquiertheit des Menschen. Über die Seele im Zeitalter der zweiten industriellen Revolution [Band I] (Vlg. C.H. Beck), ISBN 3-406-47644-9 - (Erstpublikation 1956).
  • Thorstein Veblen: The Engineers and the Price System, 2. Auflage, New York 1961 (1. Auflage 1921)
  • Martin Heidegger: Die Frage nach der Technik. Aufsatz in: Die Künste im technischen Zeitalter. Wissenschaftliche Buchgesellschaft, Darmstadt 1956.
  • Klaus Schubert: Politik in der 'Technokratie'. Zu einigen Aspekten zeitgenössischer Kulturkrisentheorie., Campus Verlag, 1981
  • Jörg Berkemann, Gunter Gebauer (Hrsgb.): Technokratie als Ideologie. Sozialphilosophische Beiträge zu einem politischen Dilemma., Stuttgart 1973
  • Neil Postman: Das Technopol. Die Macht der Technologien und die Entmündigung der Gesellschaft., Fischer, 1992
  • Erich Fromm: Die Revolution der Hoffnung. Für eine Humanisierung der Technik., Ullstein, 1981
  • Brigitte Reck: Between Democracy and Technocracy. The Role of Expertise for the European Parliament., Ibidem Verlag, 2003
  • Raimund Krämer: Thema: Technokratie. Berlin: Berliner Debatte. , Wissenschaftsverlag, 1998
  • Pietro Morandi: Technokratie. Von der Endlichkeit eines vitalen Konzepts. Berlin: Berliner Debatte., Wissenschaftsverlag, 1998
  • Axel Görlitz, Hans-Peter Burth: Politische Steuerung. Ein Studienbuch., Opladen: Leske + Budrich, 1995
  • Don Karl Rowney: Transition to technocracy. The structural origins of the Soviet administrative state, Cornell University Press, 1989
  • Gottfried Rickert: Technokratie und Demokratie. Zum Technokratieproblem in der Staatstheorie einschließlich des Europarechts., Frankfurt am Main, 1983.

Siehe auch

Einzelnachweise

  1. Chomsky:Corporate Fascism
  2. Götz Aly, Susanne Heim: Vordenker der Vernichtung, Hoffmann und Campe 1991, ISBN 3-455-08366-8

Weblinks


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