Tocharisch

Tocharisch
Tocharisch
Zeitraum 5. bis 12. Jahrhundert

Ehemals gesprochen in

Tarimbecken (heutiges China)
Linguistische
Klassifikation
Sprachcodes
ISO 639-3:

xto (Tocharisch A), txb (Tocharisch B)

Tocharisches Manuskript aus dem Bestand der Stiftung Preußischer Kulturbesitz in Berlin

Die ausgestorbene tocharische Sprache (siehe auch Tocharer) gehört zur indogermanischen Sprachfamilie und wurde in der zweiten Hälfte des 1. Jahrtausend n. Chr. im Tarimbecken im heutigen Uigurischen Autonomen Gebiet Xinjiang im äußersten Nordwesten Chinas gesprochen.

Seit 1890 wurden ungefähr 7.000 Handschriftfragmente vorwiegend aus dem 5. bis 8. Jahrhundert entdeckt, die zu 90 % Übersetzungen und Bearbeitungen buddhistischer Sanskritwerke und wie die Originaltexte in der nordindischen Silbenschrift Brahmi geschrieben sind. C14-Datierungen zeigen jedoch, dass noch im 12. Jahrhundert tocharische Texte abgeschrieben worden sind.

1908 gelang es den deutschen Sprachwissenschaftlern Emil Sieg und Wilhelm Siegling erstmals, die Manuskripttexte zu lesen und ihre Sprache als indogermanisch zu identifizieren. Sie schlugen den Namen „Tocharisch“ vor und differenzierten die beiden Sprachvarianten Tocharisch A / Ost-Tocharisch und Tocharisch B / West-Tocharisch. Nur in Tocharisch B liegen neben religiösen Texten auch Gebrauchstexte vor; dabei handelt es sich um Aufzeichnungen von Klöstern, Handelsdokumente und medizinische Texte. Dies führte zu der Theorie, Tocharisch A sei zum Zeitpunkt der Entstehung der Quellen eine „tote“, rein liturgische Sprache gewesen, Tocharisch B die lebende Alltagssprache.

Nach einer anderen Theorie bilden die beiden Varianten räumlich getrennte Dialekte, wobei Ost-Tocharisch (A) in der Oase Turfan gesprochen worden sei, West-Tocharisch (B) dagegen vorwiegend in der Region um Kucha. (Zum Zusammenhang von Tocharisch und Kuschan siehe unten). Bis heute ist umstritten, ob Ost- und West-Tocharisch als zwei Dialekte derselben Sprache oder als zwei getrennte Sprachen zu bezeichnen sind.

Die Existenz einer dritten Variante des Tocharischen, Tocharisch C genannt, kann in Spuren aus Lehnwörtern in Prakrit-Texten aus der Region um Loulan abgeleitet werden.

Das Tocharische bildet einen eigenen Zweig innerhalb der indogermanischen Sprachfamilie und weist keine enge Verwandtschaft zu den ihm benachbarten indogermanischen Sprachen auf. Auffällig ist, dass es – obwohl es die am weitesten östlich beheimatete indogermanische Sprache ist – zur westlichen Gruppe der Kentumsprachen gehört, nicht zu den östlichen Satem-Sprachen: So heißt das für die Unterscheidung maßgebliche Zahlwort hundert auf Tocharisch A und B känt bzw. kante (vgl. Lateinisch centum, Sanskrit satám). Die Entdeckung, dass das Tocharische eine indogermanische Sprache ist, hat viel dazu beigetragen, dass die Einteilung in Kentum-Sprachen und Satem-Sprachen sehr stark an Bedeutung verloren hat.

Inhaltsverzeichnis

Phonologie

Das Tocharische unterscheidet sich von nahezu allen anderen indogermanischen Sprachen durch das Zusammenfallen aller Plosive in den drei stimmlosen Plosiven p, t und k.

Das Tocharische besitzt folgende Vokale (in Umschrift): a, ā, ä (etwa altslaw. ь), e, ē, i, o, ō, u

Konsonanten labial dental palatal velar
Verschlusslaute p py t c k ky
Nasale m my n ñ
Reibelaute s ś
Affrikaten ts tsy
Liquiden r l ly
Halbvokale w y

Grammatik

Grammatisch entspricht das Verb mit der Stammbildung und den Personalendungen deutlich der indogermanischen Struktur; das Substantiv weist Spuren von fünf ererbten Kasus – Nominativ, Genitiv, Akkusativ, Ablativ und Vokativ – auf. Eine Reihe weiterer Kasus ist vermutlich aus nachbarsprachlichen Einflüssen heraus hinzugekommen. Es gibt bei den Numeri neben Singular und Plural auch einen Dual und einen Paral, das Westtocharische außerdem den Distributiv, der auch Plurativ genannt wird.

Der Wortschatz weist Einflüsse des Iranischen und des Sanskrit (vor allem durch die Übernahme buddhistischer Begriffe) auf. Geringeren Einfluss hatte die chinesische Sprache (Gewichtsbezeichnungen und ein Monatsname). Es gab Spekulationen, dass es sich bei den Tocharern um die bei Herodot so genannten Königsskythen handelt.

Wortbeispiele:

Deutsch Tocharisch A Tocharisch B Griechisch Hethitisch
Feuer pur powar pyr pahhur
Vater pacar pacer patēr
Mutter macar macer mátēr
Bruder pracar procer phrātēr
Tochter ckacar tkacer thygatēr
Hund ku ku kýōn
Erde tkam kem chthōn tekan

Die Bezeichnung „Tocharisch“ wurde von Emil Sieg und Wilhelm Siegling vorgeschlagen. Sie bezieht sich auf das sich Arshoi nennende Volk, das in griechischen und lateinischen Quellen als tócharoi bzw. Tochari erwähnt wird. Es soll im 2. Jahrhundert v. Chr. am Oberlauf des Flusses Oxus, dem heutigen Amudarja, gelebt haben, nachdem es aus seinem vorherigen Siedlungsgebiet in Gansu unmittelbar östlich von Xinjiang vertrieben worden war.

Diese ethnische Zuordnung ist jedoch spekulativ. Sie basiert auf einer Angabe in einem in einer Turksprache verfassten buddhistischen Text, wonach dieser aus der Sprache twgry übersetzt worden sein soll; da der gleiche Text ansonsten nur in Tocharisch A vorliegt, lag die Annahme nahe, dass twgry eben jenes Tocharisch A bezeichnet. Der Schluss, twgry sei die Sprache der tócharoi gewesen, basiert jedoch allein auf der phonetischen Ähnlichkeit beider Namen.

Spätere Schriftquellen der ethnisch-tocharischen Oberschicht sind in einer iranischen Sprache verfasst, über ihre ursprüngliche Sprache ist nichts bekannt.

In einer zweisprachigen Quelle in Tocharisch B und Sanskrit entspricht das Sanskrit-Wort tokharika offenbar dem Tocharisch-B-Wort kucanne. Dies führte zu der Annahme, das Tocharische sei tatsächlich die Sprache des indogermanischen Nomadenstamms der Kuschan, einem Zweig der Yuezhi, gewesen, die daher auch als „echte Tocharer“ bezeichnet werden. Im Gegensatz dazu wären die arshoi bzw. tócharoi „falsche Tocharer“.

Angesichts der verwirrenden Benennungen wurde vor allem in der englischsprachigen Literatur vorgeschlagen, die Bezeichnungen Tocharisch A und B durch Turfanisch (Turfanian), was von der Oase Turfan abgeleitet wurde, bzw. Kuchisch (Kuchean), dessen Begriff nach Kucha gebildet wurde, zu ersetzen. Da die Zuordnung der beiden Varianten zu diesen zwei verschiedenen Regionen jedoch ebenfalls spekulativ ist, hat sich dieser Vorschlag bisher nicht durchgesetzt und die Begriffsverwirrung eher noch vergrößert.

Literatur

  • Emil Sieg, Wilhelm Siegling: Tocharisch, die Sprache der Indoskythen. Vorläufige Bemerkungen über eine bisher unbekannte indogermanische Literatursprache; Sitzungsberichte der Königlich Preussischen Akademie der Wissenschaften. 1908, 39. Akademie der Wissenschaften, Berlin 1908, 1916
  • Tokharian Pratimoksa Fragment Sylvain Levi; in: The Journal of the Royal Asiatic Society of Great Britain and Ireland 1913, S. 109–120.
  • J. P. Mallory, Victor H. Mair: The Tarim Mummies; London: Thames & Hudson, 2000; ISBN 0-500-05101-1
  • William R. Schmalsteig: Tokharian and Baltic; in: Lituanus 20/3 (1974)
  • Wolfgang Krause, Werner Thomas: Tocharisches Elemantarbuch; Heidelberg: Carl Winter Universitätsverlag, 1960.
  • Tatsushi Tamai: [http://www.bbaw.de/bbaw/Forschung/Forschungsprojekte/turfanforschung/bilder/Tamai.pdf Paläographische Untersuchung und C14-Prüfung. Digitalisierung der chinesischen, tibetischen, syrischen und Sanskrit-Texte der Berliner Turfansammlung; 2. Juni 2005, Berlin (pdf)
  • Melanie Malzahn (Hg.): Instrumenta Tocharica; Heidelberg: Carl Winter Universitätsverlag, 2007; ISBN 978-3-8253-5299-8
  • Benjamin W. Fortson: Indo-European Language and Culture: An Introduction; Blackwell Publishing, 2004; ISBN 978-1405103169

Weblinks


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