Tübinger Motette

Tübinger Motette

Motette (lat. motetus, ital. mottetto, französ. und engl. motet) ist ein Gattungsbegriff der Vokalmusik, der seit dem 13. Jahrhundert anzutreffen ist. Der Begriff beschreibt im Laufe der Jahrhunderte durchaus unterschiedliche musikalische Formen: Unterschiedlicher Text in den verschiedenen Stimmen und ein wiederkehrender Rhythmus in der Unterstimme (Isorhythmie) kennzeichnen die frühe Motette (bis 15. Jahrhundert); die spätere Motette (ab dem 15. Jahrhundert) ist typischerweise geistliche Musik, in der zu den Singstimmen auch Instrumente hinzutreten können.

Inhaltsverzeichnis

Etymologie

Die Ableitung der Bezeichnung Motette bleibt im Dunkeln. Wahrscheinlich ist die Herleitung aus dem Französischen („mot“ = Wort), das die aufkommende Textverschiedenheit mit der Entstehung der Motette erklären würde. Walter Odington sprach um 1300 vom „brevis motus cantilenae“, leitete es also von dem lateinischen Wort für Bewegung ab. Der Kirchenmusikhistoriker Gerbert dagegen bezog es 1774 auf das Wort „mot“ (ital. motto = Spruch). Bei dreistimmigen Motetten wurde gerne auch nur die Mittelstimme als „motetus" bezeichnet.

Texte

Im 13. Jahrhundert standen neben geistlichen Inhalten, meist in lateinischer Sprache, auch durchaus weltliche Inhalte, auch in französischer Sprache. Beide Ebenen konnten sich sogar im gleichen Stück mischen. Im Laufe der Zeit fand allerdings eine Verengung auf geistliche Texte statt, wenngleich in den sogenannten Staatsmotetten auch auf weltliche Ereignisse Bezug genommen werden konnte. Im 17.-20. Jahrhundert gab es nicht nur lateinische, sondern auch volkssprachliche Texte, etwa übersetzte Bibeltexte, aber auch Texte von geistlichen Liedern.

Form

Die ersten Motetten im 13. Jahrhundert waren nur von kurzer Länge. Isorhythmische Motetten des 14. und 15. Jahrhunderts lassen sich anhand des sich wiederholenden Rhythmus in der Unterstimme in Abschnitte einteilen. Manche Stücke sind zusätzlich durch Taktwechsel in mehrere Teile unterteilt. Ab ca. 1500 wurde die Imitation zum wichtigen Stilelement - jetzt wurde für jeden Textabschnitt ein eigenes musikalisches Motiv komponiert und durch die Stimmen geführt. Ab der Barockzeit konnte eine Motette auch aus mehreren Sätzen bestehen.

Stimmenzahl

Die Stimmenzahl der Motetten wuchs vom Mittelalter bis zur Renaissance ähnlich wie die Stimmenzahl in anderen Gattungen. So gibt es im 13. Jahrhundert noch viele zweistimmige Motetten, im 16. Jahrhundert wird die Fünf- bis Sechsstimmigkeit zur Norm, ab 1550 können es bei mehrchörigen Stücken auch acht bis zwölf Stimmen sein. Die Motette „Spem in alium“ für 40 Stimmen von Thomas Tallis ist allerdings eher eine Ausnahme. In der Barockzeit gab es sowohl groß besetzte Motetten, bei denen zu den Singstimmen noch ein ganzes Orchester hinzukam, als auch solche, in denen nur eine einzige instrumental begleitete Singstimme besetzt ist, und daneben aber auch Kompositionen, in denen die A-capella-Tradition der Renaissance, auch mehrchörig, fortgesetzt wurde. Diese Traditionslinie wird auch im 19. Jahrhundert fortgeführt.

Komponisten

Bedeutende Motettenkomponisten sind z.B.

Entwicklung der Motette

Mittelalter

Die frühesten Motetten entwickelten sich im 13. Jahrhundert - besonders an der Schule von Notre Dame in Paris - aus der Praxis der Organa. Sie entstanden aus den „clausulae“, strophischen Einschüben in einer längeren Organum-Sequenz. Clausulae wurden gewöhnlich a cappella über dem Cantus firmus gesungen. Im Gegensatz zum Cantus firmus orientierte sich der raschere musikalische Rhythmus der gegenläufigen „Diskant“stimmen an ihrem (eigenen) Text und bildete so ein meist kurzes rhythmisches Zwischenspiel - „motetus“ genannt (weitere Bezeichnungen: mutetus, motellus, motecta, modulus, auch modulamen oder modulatio). Die Discantus vulgaris positio (um 1200) hob ausdrücklich hervor, dass der motetus nicht Note gegen Note des Tënors gesetzt ist, sondern von diesem in Notenwerten und Pausen verschieden ist. Dies markierte das Ende des Konduktenstils und den Beginn der Polyphonie und des Kontrapunktes in der abendländischen Musikgeschichte.

Aus diesen Anfängen bildete sich bald die mittelalterliche Motette im eigentlichen Sinn heraus: verschiedene Texte (teilweise auch in verschiedenen Sprachen) wurden gleichzeitig über einem lateinischen Cantus firmus gesungen. Dieser war in der Regel einem Gregorianischen Choral entnommen (selten einem weltlichen Volkslied) und wurde wahrscheinlich - im Interesse der Verständlichkeit - meist instrumental dargestellt. Auch weltliche Kompositionen konnten als Motetten bezeichnet werden. Im 14. Jahrhundert wurde die Isorhythmie bei den Motetten eingeführt; erst Philippe de Vitry, besonders aber Guillaume de Machaut setzten diese neue Technik ein. Guillaume Dufay war um 1435 einer der letzten, die noch die Isorhythmie verwendeten.

Renaissance

In der Renaissance wurde die Bezeichnung Motette zwar beibehalten, der Charakter der Komposition jedoch wandelte sich grundlegend: der Cantus firmus wurde gestreckt, sein Rhythmus kaum mehr erkennbar und ohne Einfluss auf die Diskantstimmen. Die Renaissance-Motette wurde zu einem kurzen kontrapunktischen Chorstück, das meist keinen Bezug zu einem bestimmten Feiertag hatte und daher jederzeit eingesetzt werden konnte. Als Motettentexte wurden meist die von Antiphonen herangezogen. Die Unterschiede zu den - weltlichen - Madrigalen waren nun kaum mehr erkennbar: Palestrinas „Motetten“ nutzten das freizügige Hohelied Salomos, seine „Madrigale“ setzte er zu Marientexten Petrarcas. Man sagte auch: wenn es lateinisch ist, ist es eine Motette, wenn in Landessprache, dann ein Madrigal. Auch weltliche Motetten wurden geschrieben, häufig war Fürstenlob das Thema, jedoch nicht mehr (wie noch im Mittelalter) höfische Liebe.

In der zweiten Hälfte des 16. Jahrhunderts entwickelten Giovanni Gabrieli und andere in Venedig einen neuen Motettenstil, bei dem zwei oder mehrere Kapellen wechselweise tätig wurden („polychoraler Stil“ oder „Venezianische Motette“, siehe Venezianische Mehrchörigkeit).

Barock

Auch in der Barockmusik blieb die Bezeichnung Motette erhalten; wiederum änderte sich der Charakter. Mit dem Aufkommen des Generalbasses um 1600 wurde der Begriff Motette auch auf begleitete Gesangsmusik ausgedehnt, sogar Werke für eine einzige instrumental begleitete Stimme (Voce sola oder petit motet) wurden so bezeichnet; dennoch blieb der A-cappella-Stil die Regel.

Die Motette zu Beginn des 17. Jahrhunderts beschreibt Michael Praetorius in seinem Werk „Syntagma musicum“: „Motetto [...] ist eigentlich eine mit Fugen und Imitationibus stark ausgeschmückte, und über einen Biblischen Spruch bloß zum Singen ohne Instrumente (den Generalbaß ausgenommen) verfertigte musicalische Composition; doch können die Singstimmen auch mit allerhand Instrumenten besetzt und verstärkt werden.“ (Johann Gottfried Walther, Musikalisches Lexikon, 1732)

In Frankreich nannte man Stücke mit voller Orchesterbegleitung Grands motets; ein Hauptvertreter war Jean-Baptiste Lully, der Solistenpartien einflocht. Er pflegte auch die Tradition der halb-weltlichen Motette, so etwa Plaude laetare Gallia anlässlich der Taufe des Sohnes von Ludwig XIV.

Auch in Deutschland wurden in der Musiksprache der Barockzeit Kompositionen geschrieben, die man Motetten nannte. Heinrich Schütz etwa veröffentlichte mit den Symphoniae sacrae eine Reihe von Motetten in lateinischer und in deutscher Sprache. Höhepunkt seines Motettenschaffens war die „Geistliche Chormusik“, die er 1648 zum Ende des Dreissigjährigen Krieges schrieb. Johann Sebastian Bach hat fünf bedeutende achtstimmige Motetten komponiert, die zu seinen wichtigsten Werken gezählt werden. Daneben steht die fünfstimmige Choralmotette „Jesu, meine Freude“ und einige vierstimmige motettische Sätze für Chor und Basso Continuo.

19. Jahrhundert

Die Motette im 19. Jahrhundert hat typischerweise einen geistlicher Text, oft weiterhin Bibeltext oder auch Gesangbuchverse, selten geistliche lyrische Prosa (z.B. Cornelius: Liebe). Meist wird ein Text gewählt, der starke inhaltliche Kontraste hat, und sich daher für eine textgebundene Vertonung eignet. Der Inhalt ist ernste geistliche Betrachtung.

Die Motette wird als eine historische Gattung begriffen. Sie orientiert sich also an der Tradition älterer Motettenkomposition, womit zu Beginn des 19. Jahrhunderts vor allem die Bach-Motetten gemeint sind, die ab ca. 1802 in Berlin und Leipzig wieder regelmäßig aufgeführt wurden, in zweiter Linie auch Motetten von Schütz und anderen Komponisten. Die Motetten vor 1600 wurden erst nach 1860 wieder als Vorbilder hochgehalten. Den historischen Vorbildern folgend ist die Besetzung meist Chor a cappella, also ohne Instrumente. Selten kommt ein Wechsel aus Chor und Solisten vor, z.B. bei Felix Mendelssohn Bartholdy. Die Musik folgt dem Text. Der Stil ist meist kontrapunktisch, die Stimmen sind gleichberechtigt.

20. Jahrhundert

Die Auffassung der Motette aus dem 19. Jahrhundert setzt sich im 20. Jahrhundert fort: die Motette bleibt eine a-cappella-Form mit geistlichem Hintergrund und stark historischem Charakter. Die Bezugnahme auf ältere Meister und Werkformen ist hier stärker ausgeprägt als in anderen Genres, zwar findet die individuelle Sprache der Komponisten des 20. Jahrhunderts auch in der Motette ihren Ausdruck, doch zumeist besteht der Reiz der modernen Motette darin, eine Kontrastwirkung zwischen alter Form und moderner Sprache aufzubauen. Obwohl der Musikwissenschaftler Rudolf Stephan in einem Aufsatz vom Niedergang der Motette im 20. Jahrhundert spricht, gibt es doch einige wesentliche Vertreter in dieser Gattung. Genannt seien die Motettenzyklen von Hugo Distler, Ernst Krenek und Francis Poulenc, auch Johann Nepomuk David, Zoltán Kodály und Ernst Pepping sind ebenso zu nennen wie die späte Auseinandersetzung von Arnold Schönberg (Opus 50) mit diesem Genre. Vor allem für die Laienchöre und Kantoreien entstanden nach dem 2. Weltkrieg wieder verstärkt Motetten (Wolfgang Stockmeier, Siegfried Strohbach). Die Entwicklung der zeitgenössischen Musik in den 50er-Jahren jedoch klammerte diese Werkform nahezu völlig aus, selbst Olivier Messiaen schrieb bereits 1937 seine einzige Motette O Sacrum convivium. Nach dem 2. Weltkrieg war sein Zugang zur Chormusik jedoch weitaus experimenteller, so dass man seine Cinq Rechants trotz des Bezuges auf Claude Le Jeune kaum noch als Motette bezeichnen kann. Die avancierte Chormusik des 21. Jahrhunderts schließlich bezieht nur noch selten Motettenformen ein.

Motette als musikalische Andacht

Die Motette als musikalische Andacht hat an verschiedenen Orten eine längere Tradition:

  • In der Thomaskirche in Leipzig werden allwöchentlich zwei musikalische Andachten, Freitags und Samstags, als „Motette“ bezeichnet. Sie werden vom Thomanerchor oder Gastmusikern gestaltet. Die Motette am Freitag findet in der Form einer Vesper statt. Samstags kommt in der Regel eine Bachkantate zur Aufführung.
  • In Tübingen wurde 1945 von Walter Kiefner die Motette als allwöchentliche Samstagsabend-Andacht nach dem Leipziger Vorbild begründet.
  • Auch in Saalfeld in Thüringen finden wöchentlich in der Regel mittwochs um 20 Uhr die „Saalfelder Abendmotetten“ statt, die als regelmäßige Einrichtung seit ca. 200 Jahren bestehen.

Literatur

  • Motette in: Riemann Musik Lexikon, Sachteil, S.588ff., Mainz 1967
  • Horst Leuchtmann / Siegfried Mauser (Hrsg.): Messe und Motette. Handbuch der musikalischen Gattungen 9. Laaber-Verlag 1998, ISBN 978-3-89007-132-9.
  • Jan Henning Müller: Der Komponist als Prediger. Die dt. evang.-luth. Motette als Zeugnis von Verkündigung und Auslegung vom Reformationszeitalter bis in die Gegenwart. Dissertation, Universität Oldenburg, 2002
  • Herbert Schneider: Die Motette, Beiträge zu ihrer Gattungsgeschichte, Schott Music Mainz, 1992, ISBN 978-3-7957-1724-7

Siehe auch

Weblinks


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