V. Bodelschwinghsche Anstalten Bethel

V. Bodelschwinghsche Anstalten Bethel

Die v. Bodelschwinghsche Anstalten Bethel mit Hauptsitz in Bielefeld-Gadderbaum sind eine diakonische Einrichtung, in der Menschen mit Epilepsie, geistiger Behinderung oder psychischen Beeinträchtigungen, aber auch alte Menschen, Jugendliche mit sozialen Problemen und wohnungslose Menschen betreut werden. Für die Betreuung von rund 100.000 Menschen pro Jahr sind etwa 15.000 Mitarbeiter in sechs Bundesländern beschäftigt. Namensgeber ist Friedrich von Bodelschwingh der Ältere, der auch die Kirchliche Hochschule Wuppertal-Bethel, die Hoffnungstaler Anstalten Lobetal sowie die Bethel-Mission gründete.

Inhaltsverzeichnis

Struktur

Die Anstalten bestehen aus einer Reihe eigenständiger Institutionen – das Grundgerüst bilden drei Stiftungen:

  • Stiftung „Anstalt Bethel“
  • Stiftung „Westfälische Diakonenanstalt Nazareth“
  • Stiftung „Westfälische Diakonissenanstalt Sarepta“

Diese Stiftungen unterteilen sich in Stiftungsbereiche:

  • Stiftungsbereich Behindertenhilfe
  • Stiftungsbereich Integrationshilfen
  • Stiftungsbereich proWerk
  • Stiftungsbereich Jugend und Beruf
  • Stiftungsbereich Betriebe
  • Stiftungsbereich Altenpflege

Die Stiftungen sind unmittelbar oder mittelbar an einigen Gesellschaften mbH beteiligt, bei denen es sich im Wesentlichen – aber nicht nur – um gemeinnützige Gesellschaften (gGmbH) handelt. Die wichtigsten Beteiligungen sind:

Geschichte der Anstalten und Anstaltsideal

1867 kaufte die Innere Mission mit Unterstützung Bielefelder Kaufleute einen Bauernhof bei Bielefeld, um dort eine „Anstalt für Epileptische“ zu gründen. Diese Einrichtung namens „Ebenezer“ ist die Keimzelle der v. Bodelschwinghschen Anstalten Bethel.

Friedrich von Bodelschwingh d. Ä. kam erst einige Jahre später dazu und leitete die schnell wachsende Anstalt von 1872 bis zu seinem Tod 1910. Sein Einfluss prägte die Anstalt so stark, dass sie später nach ihm benannt wurde. Nach seinem Tod übernahm sein Sohn Friedrich von Bodelschwingh der Jüngere die Leitung.

1940 werden Teile der Anstalt zerstört. Trotz mondheller Nacht, Leuchtbomben und 29 riesigen roten Kreuzen, die die Anstalt kennzeichnen, kommen bei einem britischen Luftangriff zwölf Kinder ums Leben.

Der Name Bethel kommt aus dem Hebräischen und heißt „Haus Gottes“. Das christliche Gebot der Nächstenliebe bestimmte viele Mitarbeitenden in ihrem Dienst, der sie oft Tag und Nacht in Anspruch nahm. So setzten Frauen und Männer ihr Leben bewusst ein, um als Diakon oder Diakonisse Mitarbeiter im „Haus Gottes“ zu sein.

Im Mittelpunkt der Arbeit Bethels standen als Ideal die Vergessenen und Ausgegrenzten der Gesellschaft, in den Worten Friedrich von Bodelschwinghs die „Menschen, die niemand haben will“. Zu Bodelschwinghs Zeiten waren das vor allem behinderte Menschen und die „Trunkenbolde, Landstreicher und Taugenichtse“. Für Friedrich von Bodelschwingh war jeder Mensch ein Geschöpf Gottes.

Kritik

Die zur v. Bodelschwinghsche Anstalten Bethel gehörende "Diakonie Freistatt bei Diepholz" gehört zu den im Rahmen der Diskussion um die Heimerziehung mittels schwarzer Pädagogik und Misshandlung bekannt gewordenen Anstalten: Zitat: "mit seiner Presstorfproduktion, mit seinen Schlossereien und Schmieden war als reiner Wirtschaftsbetrieb konzipiert, der die billigen Arbeitskräften ausnutzte. Wenn nicht gerade Choräle gesungen wurden, mussten die 14- bis 21-Jährigen im Sommer wie im Winter im Moor Torf stechen und pressen." Noch 1960 beanstandete das Landesjugendamt Hannover "die Verwendung von Forkenstielen, Torflatten, Pantoffeln und Besenstielen als Züchtigungsmittel" [1][2] [3]

"Umerziehung" politisch auffälliger Jugendlicher vor 1918

Im Jahre 1894 wurde der aus Greifswald stammende spätere preussische SPD-Kultusminister Konrad Haenisch von seiner bürgerlich-konservativen Familie unfreiwillig in Bethel untergebracht, nachdem sie ihn aus Leipzig hatte entführen lassen. Der Grund waren sozialdemokratische Aktivitäten Haenischs, wegen deren er ein Jahr zuvor aus dem Gymnasium entlassen und in eine Nervenheilanstalt eingewiesen worden war. Haenisch entkam aus Bethel, der Fall wurde durch eine Pressekampagne der Leipziger Volkszeitung (damals SPD-Parteiblatt) gegen die Familie Haenisch publik. [4]

Wirtschaftsfelder

Die Ortschaft Bethel liegt im Stadtteil Gadderbaum, der wiederum direkt an die Innenstadt anschließt. Es ist Gemeinwesen mit eigenen Geschäften, Handwerksbetrieben sowie kulturellen und gastronomischen Einrichtungen. Wichtigste Arbeitsbereiche der Anstalten sind heute die von Land/Gebietskörperschaften und Versicherungen vergütete Behandlung und Betreuung von Epilepsiekranken, die Behindertenhilfe, Psychiatrie, Wohnungslosenhilfe, Altenhilfe, Jugendhilfe, die Versorgung in Fachkliniken und Akutkrankenhäusern. Im Fachgebiet Epilepsie haben die Fachkliniken und die anderen Bereiche nach eigenem Bekunden internationalen Ruf.

In Bethel wird in fast dreißig unterschiedlichen Schulformen und Ausbildungsstätten unterrichtet. In zahlreichen Werkstätten arbeiten Menschen mit Behinderungen und stellen dabei Produkte her, die auch überregional vertrieben werden. Daneben gehören auch Hotels, Gaststätten und Geschäfte (meist gleichzeitig Teile des Berufsbildungswerks oder von Behindertenwerkstätten) zu Bethel, so dass die Anstalten eine kleine Stadt für sich sind. Alleine auf dem Bethel-Stammgelände in Bielefeld-Gadderbaum arbeiten rund 8.500 Menschen.

Mitarbeiter

Für die Mitarbeiter gelten je nach Arbeitsgebiet und Zugehörigkeit der Einrichtung oder der eigenen Mitgliedschaft in einer rechtlichen Gesellschaft sehr unterschiedliche Arbeits- und Tarifverträge (vergleiche Krankenpfleger, Sanitärpflegedienstleister).

In den drei Stiftungen, in denen die meisten Mitarbeitenden angestellt sind, gilt überwiegend der Bundesangestelltentarifvertrag in kirchlicher Fassung (BAT-KF) mit folgendem Geltungsraum: „Dieser Tarifvertrag gilt für Mitarbeiter, die im Bereich der Evangelischen Kirche im Rheinland, der Evangelischen Kirche von Westfalen und der Lippischen Landeskirche sowie ihrer Diakonischen Werke in einer der Rentenversicherung der Angestellten unterliegenden Beschäftigung tätig sind (Angestellte).“ (§1 (1) BAT-KF)

Der kirchliche Tarif beträgt rund 5 % weniger.

Auf der Grundlage des Grundgesetzes können die Kirchen ihre Angelegenheiten selbst regeln und haben sich ein Mitarbeitervertretungsgesetz MVG-EKD gegeben (Arbeitsrecht der Kirchen).

Einrichtungen

Hospizarbeit

Bethel engagiert sich auch in der Hospizarbeit. Ziel sei es, sterbenden Menschen ein würdiges Leben und Sterben zu ermöglichen. Die von Bodelschwinghschen Anstalten betreiben selbst Hospize in Bielefeld, Dortmund und Berlin-Lichtenberg, des Weiteren sind sie beteiligt an dem Hospiz in Leipzig und dem Kinderhospiz „Löwenherz“ in Syke. Ferner existieren Betreuungsplätze für autistische Menschen oder für Personen, die nach einem Unfall oder einer schweren Erkrankung stark hirngeschädigt bleiben.

Briefmarkenstelle

Zum 100 jährigen Bestehen der Krankenanstalten Bethel, Briefmarke von 1967

Unter dem Stichwort Briefmarken für Bethel können von Briefumschlägen und Postkarten nicht abgelöste Briefmarken nach Bethel geschickt werden. Von den behinderten Beschäftigten werden die Briefmarken mit Wasser abgelöst, getrocknet und zu neuen Sammlungen zusammengestellt. Der Rest der Briefmarken wird an Sammler als „Wundertüte“ und an Briefmarkenhändler verkauft. Der gesamte Erlös wird ausschließlich für soziale Projekte innerhalb der Anstalt verwandt. Auch abtelefonierte Telefonkarten werden hier gesammelt und verwertet.

1967 gab die Deutsche Bundespost eine Sonderbriefmarke zum 100 jährigen Bestehen der Krankenanstalten mit einem Porträt von Friedrich von Bodelschwingh dem Jüngeren heraus.

Im Jahr 1988 wurde die Briefmarkenstelle Bethel selbst zum Motiv auf einer Briefmarke; die Deutsche Bundespost brachte ein Postwertzeichen zum 100jährigen Bestehen der Briefmarkenstelle heraus.

„Brockensammlung“

In der „Brockensammlung“ werden Kleider- und andere Sachspenden aufbereitet und entweder im Anstaltsbetrieb genutzt oder weiter verkauft. Der Name der Einrichtung leitet sich ab aus dem Johannes-Evangelium: „Sammelt die übrigen Brocken, auf dass nichts umkomme!“ (Joh. 6,12). Die „Brockensammlung“ wurde 1891 durch Karl Schnitger, einem Onkel von Marianne Weber, gegründet.

Sonstiges

Bethelgeld

Die verschiedenen Betriebe Bethels halten ein vielfältiges Dienstleistungsangebot bereit. Die Anstalten haben zusätzlich zum offiziellen Zahlungsmittel Euro auch eine eigene „Währung“ in Form von Warengutscheinen, den Bethel-Euro. Das „Bethel-Geld“ gibt es seit 100 Jahren in den v. Bodelschwinghschen Anstalten Bethel. Am 1. September 1908 wurde zum ersten Mal die „Bethel-Mark“ als Warengutscheine ausgegeben, damit das Geld in der eigenen Einrichtung und nicht in Geschäften außerhalb ausgegeben wird. Im Jahr 2002 wurde die Bethel-Mark durch den "Bethel-Euro" abgelöst. Das Geld ist nur in der Ortschaft Bethel, in Bielefeld-Eckardtsheim und im niedersächsischen Freistatt gültig.

Heute sind noch rund 110.000 Scheine im Wert von fast einer Million Euro im Umlauf. Gut ein Dutzend Geschäfte akzeptieren das anstaltseigene Geld – darunter eine Buchhandlung, zwei Kaufhäuser, ein Friseurladen, eine Schuhmacherei, ein Bio-Laden und eine Gärtnerei. Streng gesehen ist das einzigartige Zahlungsmittel ein Warengutschein. Beim Umtausch gibt es fünf Prozent Rabatt für Bewohner, Betreute und Mitarbeitende der v. Bodelschwinghschen Anstalten Bethel.

Drei Monate nachdem in weiten Teilen der EU der Euro eingeführt wurde, mussten sich am 1. März 2002 die behinderten Menschen in Bethel von ihrer Bethel-Mark verabschieden. Nur unter der Bedingung, dass keine Verwechslung mit dem normalen Euro möglich ist, hatte die Europäische Zentralbank das Geld freigegeben.

Gestaltet hat die Geldscheine ein „hauseigener“ Grafikdesigner. Das Wort „Warengutschein“ prangt – neben dem Bethel-Logo – ebenso auf allen Scheinen wie die Unterschriften von Vorstandsmitgliedern. Das Papier ist mit Wasserzeichen und einer Prägung versehen. Den „kleinen Bruder“ des Euro gibt es nicht als Münze, sondern nur als Schein in drei Größen und sieben unterschiedlichen Farbtönen und Werten – von 50 Cent bis 50 Euro – zu haben. Auf den Scheinen sind markante Betheler Ortschaftsgebäude wie die Zionskirche, die Mamre-Patmos-Schule oder die Bethelpforte abgedruckt.

Betheljahr

Als besondere Ausgestaltung des freiwilligen sozialen Jahres bieten die v. Bodelschwinghschen Anstalten das sogenannte Betheljahr an, in dem junge Erwachsene im Alter von 16 bis 27 Jahren einen Einblick in die verschiedenen Tätigkeitsfelder bekommen können. Neben der Arbeit gehören fünf Seminarwochen zum Konzept. Das Betheljahr kann in vielen verschiedenen Einrichtungen Bethels absolviert werden. Neben vielen Stellen in Wohnheimen, Krankenhäusern, Altenheimen, Werkstätten und Schulen gibt es auch die ungewöhnlicheren und sehr beliebten Stellen wie zum Beispiel in der „Neuen Schmiede“, bei Radio Antenne Bethel oder in der Theaterwerkstatt.

Für die Ausgestaltung des Betheljahres wurden die v. Bodelschwinghschen Anstalten 2006 mit dem Westfälischen Friedenspreis ausgezeichnet.

Antenne Bethel

Bei Antenne Bethel handelt es sich um ein nicht-kommerzielles Radioprogramm für die v. Bodelschwinghschen Einrichtungen sowie den Stadtteil Gadderbaum (94,3 UKW). Es wird gemeinsam von behinderten und nicht-behinderten, ehrenamtlich tätigen Mitarbeitenden betrieben.

Hausgemachte Kultur

Theaterwerkstatt Bethel: Im "Volxtheater" entwickeln heterogene Gruppen in Zusammenarbeit mit professionellen Künstlern freies Theater zu klassischen und aktuellen Stoffen und führen sie überregional auf. Die Einrichtung wurde 1983 gegründet.

Bottelschwinger: Die Hausband in Bethel. Behinderte und nichtbehinderte Menschen machen gemeinsam Musik.

Das Kabarett „Ballastwache“ ist ein Projekt dreier Mitarbeiter der vBAB. Die „Ballastwache“ thematisiert aktuelle und historische Insider-Themen aus Bethel und verbindet Musikkabarett mit szenischer Comedy.

Als Musikprojekt existiert die Band „Maluka“ unter der Leitung eines Musiktherapeuten. Die Band setzt sich aus Bewohnern verschiedener Einrichtungen zusammen, und spielt ausschließlich Eigenkompositionen. Maluka trat in der Vergangenheit zu verschiedenen Anlässen innerhalb und außerhalb Bethels live auf.

Siehe auch

Literatur

  • Wolfram Korn, Bärbel Bitter: Bethel und das Geld. Die ökonomische Entwicklung der v. Bodelschwinghschen Anstalten Bethel 1867-1998, ISBN 3922463894, Bielefeld 1998.
  • Kurt Pergande: Bodelschwingh – Der Einsame von Bethel, Stuttgart 1958
  • Friedemann Draeger, Monique Grundmann, Volker Hinz, Walter Schröder: „Anders sein – Alles andere als normal. Bausteine für die Unterrichtspraxis, Sekundarstufe I: Körperliche und geistige Behinderungen, Epilepsien, Psychische Erkrankungen, Wohnungslosigkeit, Diakonie“; Bielefeld 1999.
  • Andreas Piccenini, Ulrich Pohl: „Anders sein – Lernen und das leben genießen wie andere Kinder auch. Und trotzdem … Bausteine für die Unterrichtspraxis in der Primarstufe. Leben mit einer Behinderung, Integration erfahren, Epilepsien, Bethel kennen lernen, Aktionen planen“, Bielefeld 2002.
  • Hans-Jörg Kühne: Herausforderung Migration – Geschichte der Beckhofsiedlung der v. Bodelschwinghschen Anstalten Bethel, ISBN 978-3-89534-764-1, Bielefeld 2008.

Einzelnachweise

  1. http://www.heise.de/tp/r4/artikel/22/22605/1.html
  2. Peter Wensierski: Schläge im Namen des Herrn. Die verdrängte Geschichte der Heimkinder in der Bundesrepublik, Spiegel-Buchverlag in der Deutschen Verlags-Anstalt, München 2006, ISBN 3-4210-5892-X, www.schlaege.com
  3. http://www.spiegel.de/panorama/0,1518,400215,00.html| Spiegel: Heimkinder-Schicksale "Wie geprügelte Hunde"
  4. Matthias John, 2003, Konrad Haenisch (1876-1925) - Und von Stund an ward er ein anderer. Trafo-Verlag, Berlin, ISBN 3-89626-471-0

Weblinks


52.008538.5206397Koordinaten: 52° 0′ 31″ N, 8° 31′ 14″ O


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