Waldorf-Pädagogik

Waldorf-Pädagogik

Die Waldorfpädagogik ist eine durch Rudolf Steiner (1861–1925) begründete Pädagogik auf der Grundlage der ebenfalls von ihm entwickelten anthroposophischen Weltanschauung. Sie wird der Reformpädagogik zugerechnet.

Sie fand bei ihrer Entstehung zu Beginn des 20. Jahrhunderts zunächst Anwendung als Pädagogik der 1919 in Stuttgart eröffneten ersten Waldorfschule, die eine Betriebsschule für die Kinder der Arbeiter und Angestellten der Waldorf-Astoria-Zigarettenfabrik war. Wenige Jahre später wurde bei der Entwicklung einer spezifischen Kindergartenpädagogik und Heilpädagogik auf sie nochmals zurückgegriffen.

Die Freie Hochschule Stuttgart ist ein 1928 gegründetes staatlich anerkanntes Seminar für Waldorfpädagogik und einer Hochschule gleichgestellt. Ab 2009 ist die Ausbildung zur Waldorfpädagogik in Bachelor- und Master-Studium gegliedert.

Inhaltsverzeichnis

Elemente der Waldorfpädagogik

Die Grundlage der Waldorfpädagogik ist die geisteswissenschaftliche Auffassung der Menschenkunde von Rudolf Steiner.

Die vier Wesensglieder des Menschen

Für Steiner gliedert sich der Mensch in ein Ineinander verschiedener 'Wesensglieder', die in verschiedenen Lebensabschnitten unterschiedlich zum Tragen kommen[1]

Die Entwicklung des Menschen erfolgt in Rhythmen von ca. sieben Jahren.[2]

In den ersten sieben Jahren entwickelt der Mensch seinen physischen Leib und die Sinne. Die inneren Organe werden ausgebildet. Das Kind nimmt in diesem Alter die Welt vor allem durch Nachahmung in sich auf. Dementsprechend ist die Kindergartenpädagogik stark rhythmisiert: Die Erzieherinnen beginnen gleiche Wochentage immer mit gleichen Beschäftigungen (z.B. findet immer montags Aquarellmalen statt, dienstags wird Brot gebacken usw.) und Märchen werden so lange erzählt und vorgespielt, bis die Kinder sie auswendig können. Das erste Jahrsiebt wird durch das Eintreten des Zahnwechsels abgeschlossen. Kinderkrankheiten sind notwendige Stationen auf diesem Weg des Kindes in seinen Körper und symbolisieren Fortschritte auf diesem Weg.
In den zweiten sieben Jahren entwickelt sich der 'ätherische Leib'. Die Kräfte der Organbildung sind abgeschlossen und nun frei für 'seelische Denk-, Lern- und Gedächtnisaufgaben'. Die Ausbildung des Ätherleibes unterstützt man durch Bilder, Beispiele und durch Lenken der Phantasie. Es ist die Zeit der Wertebildung des Menschen. Steiner nennt es 'Nachfolge und Autorität' - allerdings einer vorbildhaften Autorität. Dieses Jahrsiebt wird durch den Eintritt in die Pubertät abgeschlossen. Krankheiten sind Stationen der Lern- und Denkfortschritte.
Im dritten Jahrsiebt wird der 'Astralleib' entwickelt und damit die Fähigkeit, das innere Seelische bewusst und intensiv zu erleben. Die intellektuellen Kräfte bilden sich aus, es ist die Zeit der Entwicklung der eigenen Urteilsbildung. Es geht um Wahrheit und Wahrhaftigkeit. Das Erziehungsprinzip ist jetzt Sachlichkeit. Krankheiten sind Stationen der intellektuellen Entwicklung.
Erziehung nach dem 21. Lebensjahr ist vor allem Selbsterziehung. Das Ich ist entwickelt. Es hat in den vorangegangenen Abschnitten die Aufgabe, die 'niederen Wesensglieder' zu durchdringen, sie umzuwandeln und ihre Entwicklung vorantreibend zu veredeln.

"Wie der physische Leib zerfällt, wenn ihn nicht der Ätherleib zusammenhält; wie der Ätherleib in die Bewußtlosigkeit versinkt, wenn ihn nicht der Astralleib durchleuchtet, so müßte der Astralleib das Vergangene immer wieder in die Vergessenheit sinken lassen, wenn dieses nicht vom 'Ich' in die Gegenwart hinübergerettet würde. Was für den physischen Leib der Tod, ist für den Ätherleib er Schlaf, das ist für den Astralleib das Vergessen. Man kann auch sagen: Dem Ätherleib sei das Leben eigen, dem Astralleib das Bewußtsein und demn Ich die Erinnerung[3]

Die vier Temperamente und ihre Berücksichtigung in der Erziehung

Steiner unterscheidet das sanguinische, das melancholische, das phlegmatische und das cholerische Temperament. Diese vier Grundtypen sind seit alters her bekannt und bilden den Inhalt der ersten Seminarbesprechung für die Lehrer der ersten Waldorfschule.

Beim Kind sind den Wesensgliedern die Temperamente zuzuordnen: dem physischen Leib das phlegmatische, dem Ätherleib das sanguische, dem Astralleib das cholerische und dem Ich das melancholische Temperament. Das jeweilige Temperament wird ausgedrückt in der Körperhaltung, der Physignomie, im Gang, in der Gestalt, in Gesten, im Grad der Erregbarkeit und der Stärke.

Die Temperamente bilden polare Gegensätze:

(1) melancholisches T. : wenig Erregbarkeit, viel Stärke
(3) sanguinisches T. : viel Erregbarkeit, wenig Stärke.

und

(2) phlegmatisches T. : Stärke und Erregbarkeit am geringsten
(4) cholerisches T. : Stärke und Erregbarkeit am größten

Die polaren Gegensätze 1 und 3, 2 und 4 bleiben immer getrennt, dagegen verschwimmen 1 und 2 als auch 3 und 4 miteinander. Jeder Mensch besitzt eine einzigartige Mischung, die seine Individualität bedingt. [4]

Pädagogisch nutzt Steiner das und empfiehlt z.B. gleiche Temperamente zusammenzusetzen, denn so schleifen sie sich ab, werden sich überdrüssig.

Der Lehrplan

Der Lehrplan nimmt auf die Entwicklung der Kinder Rücksicht. Er ist daher nicht einseitig an intellektuellen Fächern ausgerichtet, sondern umfasst als 'Bildungsplan' den ganzen Menschen [5]

Hauptunterricht wird in allen 12 Klassenstufen erteilt und umfasste (1919) alle wissenschaftlichen Fächer, sprachliche Fächer und künstlerische Fächer.[6]

  • Englisch und Französisch (oder eine andere Fremdsprache) ab Klassenstufe 1 - 5 je drei Stunden, ab Klasse 6 je 2 Stunden.
  • Eurythmie in allen Klassen
  • Turnen und Gymnastik bis zur Klasse 3 eine, später zwei Stunden
  • Religion in allen Klassen
  • Singen in allen Klassen
  • Instrumentalmusik: in allen Klassen, Flöte und Geige in den Klassen 1 - 4, ab Klasse 5 Orchester (oft alle Schüler einer Klasse)
  • Handarbeit
  • Buchbinden
  • Handwerk und Gartenbau
  • Latein und Griechisch
  • Feldmessen
  • Spinnen
  • Technische Mechanik, Technologie
  • Erste Hilfe
  • Stenographie

Heute ist dieser Lehrplan immer noch Orientierung, auch wenn sich durch die Autonomie der Schulen Änderungen ergeben haben. So wird Latein und Griechisch, Spinnen, Erste Hilfe, Technische Mechanik/Technologie und Stenographie kaum noch unterrichtet, an die anderen Vorgaben Rudolf Steiners wird sich aber nach wie vor gehalten.

Der Lehrplan folgt innerhalb der Fächer keinem fachsystematischen, sondern einem organisch-genetischen Aufbau. Jedes Kind kann dadurch in seiner Entwicklung den die Stufen der Menschheit noch einmal durchlaufen.[7]

Siehe auch

Fußnoten

  1. Skiera, E.: Reformpädagogik, München 2003, S. 242ff
  2. Steiner R.: Die Erziehung des Kindes vom Gesichtspunkt der Geisteswissenschaft. Dornach, (Erstveröffentlichung) 1907
  3. Steiner, R.: Mein Lebensgang, Dornach 1920, S.61f
  4. Steiner, R.: Erziehungskunst. Seminarbesprechungen und Lehrplanvorträge, Dornach, 1977, S. 19f
  5. Die Bezeichnung Lehrplan hat wenig gemein mit dem heutigen Begriffsinhalt eines Lerhplans. C.v. Heydebrand hat Vorschläge und Hinweise von Rudolf Steiner und die Erfahrungen und Arbeitsergebnisse der ersten Waldorflehrer gesammelt. Die Schrift erfüllt damit eine doppelte Aufgabe: 1. Es wird an exemplarischen Beispielen deutlich gemacht, wie aus den Bedingungen der Von Altersstufe zu Altersstufe fortschreitenden Entwicklung des Kindes und Jugendlichen durch entsprechende Stoffwahl nicht nur Wissensvermittlung aufgebaut wird, sondern wie durch Unterricht ein Erziehungswerk geschehen kann. 2. Die Komposition dieses Entwurfes soll verdeutlichen, wie dem Entwicklungsgang des Kindes, das zur Lebenstüchtigkeit und den Zukunftsaufgaben seiner Zeit, eine künstlerische Ganzheit antwortet, in der die einzelnen Fächer wie Instrumente eines Orchesters zum Zusammenspiel geführt werden. Quelle: Caroline Heydebrand: Vom Lehrplan der freien Waldorfschule, Neuauflage 1983 (7. Auflage), Stuttgart, S. 7
  6. Caroline Heydebrand: Vom Lehrplan der freien Waldorfschule, Neuauflage 1983 (7. Auflage), Stuttgart S.56
  7. Skiera, E.: Reformpädagogik, S. 252

Quellen

  • Steiner, Rudolf: Allgemeine Menschenkunde als Grundlage der Pädagogik, Dornach, 1960
  • Steiner, Rudolf: Erziehungskunst. Seminarbesprechungen und Lehrplanvorträge, Dornach 1977
  • von Heydebrand, Caroline: Vom Lehrplan der Freien Waldorfschule, Stuttgart, 1962 (Neudruck)

Literatur

  • Skiera, Ehrenhard: Reformpädagogik in Geschichte und Gegenwart - Eine kritische Einführung. München, 2003, Kapitel 7: Die Waldorfschule: Erziehung als Einführung und Einleben in den sinnlich-übersinnlichen kosmischen Zusammenhang

Weblinks


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