Wirklichkeitsflucht

Wirklichkeitsflucht

Als Eskapismus, Realitätsflucht oder Wirklichkeitsflucht bezeichnet man die Flucht aus bzw. vor der realen Welt und das Meiden derselben mit all ihren Anforderungen zugunsten einer Scheinwirklichkeit (imaginären Wirklichkeit).

Inhaltsverzeichnis

Beschreibung

Eskapismus wird als eine Fluchthaltung oder Ausbruchshaltung, als bewusste oder unbewusste Verweigerung gesellschaftlich allgemein anerkannter Zielsetzungen und Handlungsvorstellungen verstanden.[1] Eine Flucht vor der Realität bzw. vor der Wirklichkeit kann durch geistiges und soziales Abschirmen („Stubenhocker“), durch eine Hinwendung zum Irrationalen, einen übermäßigen Gebrauch von Medien aller Art oder auch durch Substanzdrogen vollzogen werden.

Medienpsychologie

In der Medienpsychologie gilt Eskapismus als wichtiges Motiv der Mediennutzung. Nach der „Eskapismus-These“ werden Medien sowohl zur Befriedigung affektiver Bedürfnisse (Eskapismus), aber auch zur Befriedigung kognitiver Bedürfnisse (Wissenserweiterung) herangezogen.[2]

In diesem Ansatz werden Rezipienten nicht mehr als reiner Reizempfänger nach dem Stimulus-Response-Modell, sondern die Motivation des Medienkonsumenten ermittelt. In der Medienforschung wird Eskapismus dem Uses-and-Gratifications-Ansatz zugeordnet, das heißt, Medienangebote werden zur Alltagsflucht selektiert. Nach diesem „Escape-Konzept“ von Katz und Foulke werden so durch alltäglich erlebte gesellschaftliche Rollenausübungen erzeugte Spannungen abgebaut. Motive sind demnach das Vergessen und Entfliehen vor eigenen Problemen sowie passive Entspannung und das Erzeugen von Emotionen und Ablenken von Regeln und Normen der Realität.[3]

Ergebnisse des medialen Eskapismus sind eine Identifikation mit vorgeführten Lebensweisen, Projektion eigenen Versagens auf fremde Handlungsträger und Kompensation für offene oder unerfüllte Wünsche.

Kritisiert wird die Eskapismus-These insbesondere im Hinblick auf ihren Mangel an einer weitergehenden psychologischen Fundierung. Sie gehört dennoch zum festen Bestand der Bedürfnis- oder Motivforschung in der Medienwissenschaft.[4]

Eskapismus als Ideologie

Eskapismus muss nicht unbedingt als individuelle Vereinsamung und soziale Isolation auftreten. Auch der Eintritt in Sekten oder abgeschirmte Kommunen ist eine Form der Flucht vor der Wirklichkeit, selbst wenn er gemeinsam mit anderen Menschen vollzogen wird. Immerhin kann der „Ausstieg“ in Kommunen auch positiv als „Exit-Option“ und damit als Form des politischen Widerstands gegen gesellschaftliche Zwänge gedeutet werden (vgl. Hippie und New Age). Kritisiert wurde an derartigen politischen Konzepten jedoch oft, dass die abgelehnten Verhältnisse weder durch einen individuellen noch durch einen Gruppenausstieg offensiv verändert werden könnten.

Mit seiner Formel von der Religion als „Opium des Volkes“[5] interpretierte Karl Marx eine gesellschaftlich breite und sozial integrierte Bewegung, das Christentum, als ideologische Flucht vor der Erkenntnis der tatsächlichen sozialen Verhältnisse. Theodor W. Adornos und Guy Debords Beschreibungen der „Kulturindustrie“ und der „Gesellschaft des Spektakels“ übertragen diese Analyse auch auf den Bereich der Konsumgüter, der Unterhaltungsindustrie und der Werbung. Das Spektakel der „falschen Bedürfnisse“, so die Analyse der marxistisch geprägten Kritischen Theorie, lenke die Bevölkerung auf entfremdete Weise von dem materiellen und psychischen Elend und der Entfremdung ab, der sie in der Klassengesellschaft des Kapitalismus ausgesetzt sei.

Eskapismusvorwurf in der Kunst

Gelegentlich wurde der Kunst im Allgemeinen sowie der Dichtung im Besonderen vorgeworfen, Mittel zur Realitätsflucht zu sein. Oft wurde hierfür das Bild des Elfenbeinturms gebraucht, in dem der Dichter sich vor der wirklichen Welt verschanze und zurückziehe. Insbesondere auf die Kunst der Romantik, etwa die Dichtung Friedrich Hölderlins wurde dieser Begriff angewandt. Peter Handke ist diesem Vorwurf in seinem Band Ich bin ein Bewohner des Elfenbeinturmes (1972) begegnet. Dort betont er den utopischen Charakter der Kunst, der gerade durch seine Distanz zur Wirklichkeit ihre Veränderung ermögliche.

Der Schriftsteller J. R. R. Tolkien hielt 1939 einen vielbeachteten Vortrag On Fairy-Stories (Über Märchen), in dem er die Grundsätze des später entstehenden Fantasy-Genres beschrieb und energisch gegen Vorwürfe des Eskapismus verteidigte:

„Why should a man be scorned if, finding himself in prison, he tries to get out and go home? Or if, when he cannot do so, he thinks and talks about other topics than jailers and prison-walls?“[6]
[Deutsch: „Wieso sollte jemand verachtet werden, der sich im Gefängnis befindet und versucht, herauszukommen und heimzugehen? Oder, sofern das nicht geht: wenn er über andere Themen nachdenkt und spricht als über Wärter und Kerkermauern?“]

In diesem Zitat drückt Tolkien seine Unzufriedenheit mit der modernen Welt aus, die er als „Gefängnis“ bezeichnet. Zudem weist er auf die Möglichkeit der Alltagsbewältigung hin. Tolkien unterscheidet in seinem Vortrag des Weiteren zwischen zwei unterschiedlichen Formen von Fluchten, die er unterschiedlich bewertet: Zum Einen die Flucht des Deserteurs, den er als Feigling bezeichnet, zum Anderen die Flucht des Gefangenen, dem man seinen Willen zur Flucht nicht übel nehmen könne, und die er als eine Form des politischen Widerstandes wertet. Die Literatur sieht er – wie bereits Sigmund Freud in seinem Aufsatz Der Dichter und das Phantasieren (1907) – als eine Möglichkeit der phantasiemäßigen Erfüllung von Wünschen und Sehnsüchten, die die „wirkliche“ Welt nicht leisten kann.

Siehe auch

Literatur

  • E. Katz/ D. Foulkes: On the Use of Mass Media as „Escape“: Clarification of a Concept, o.V., o.O. 1962

Quellenbelege

  1. Bertelsmann Universal Lexikon, Band 5: Dri−Fet, S. 245.
  2. Heinz Bonfadelli: Neue Perspektiven: Medienzuwendung als soziales Handeln, S.7.
  3. Petra Sandhagen: Medienpsychologie, S. 64.
  4. Dietmar Müller: Formale Kriterien der Nachrichtenrezeption im Internet, S. 35.
  5. Karl Marx: Einleitung zur Kritik der Hegelschen Rechtsphilosophie (1844), MEW 1, S. 378.
  6. Zit. nach Frank Weinreich: Über Märchen. Tolkiens Sicht des Phantastischen.

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