- Zeit (Soziologie)
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Zeitsoziologie (auch Soziologie der Zeit) ist eine Disziplin der Soziologie, die sich mit dem gesellschaftlichen Aspekt von Zeit beschäftigt. Man spricht hier auch von sozialer Zeit.
Verschiedene Gesellschaften unterscheiden sich sehr stark im Umgang mit der Zeit. Soziale Zeit ist vor allem an Arbeitsrhythmen gekoppelt. Die individuelle Zeitwahrnehmung (subjektive Zeit) hingegen ist Untersuchungsgebiet der Kognitionspsychologie, doch sind diese zwei Aspekte eng verzahnt.
Inhaltsverzeichnis
Geschichte der Zeitsoziologie
Begründet wurde die Zeitsoziologie mit dem Text Social Time 1937 von Pitirim Sorokin und Robert K. Merton, die an Henri Bergson und Émile Durkheim anknüpften. Sie wiesen auf den zwischenmenschlichen Aspekt von Zeitwahrnehmung und Gebrauch hin. Norbert Elias beschreibt in seinem Buch „Über die Zeit“ die Entwicklung des Zeit-Bewusstseins im Zusammenhang seiner Zivilisierungstheorie, die er in seinem Werk Über den Prozeß der Zivilisation (1939) erstmals vorstellte.
Gesellschaftliche Geschichte
Die Woche ist als erste vom Menschen geschaffene Zeiteinheit zu verstehen, die sich nicht an einem von der Natur vorgegebenen Rhythmen orientiert (so die astronomischen Zeitbegriffe Tag, Monat und Jahr).
Zeit und ihre gesellschaftliche Wahrnehmung wurde erst mit der Koordination größerer Verbünde (Arbeitsteilung) notwendig. Jäger- und Sammlerkulturen kennen einen abstrakten Zeitbegriff trotz Lagerhaltung (z.B. von Brennstoffen) meist nicht, wohl aber zeitliche Organisation und Koordination, z.B. bei der Jagd auf große Beutetiere. Bei Ackerbau und Viehzucht ist der Begriff seit dem Aufkommen von Märkten notwendig und auch empirisch festzustellen. Heute ist es bemerkenswert, dass nahezu alle industriellen Gesellschaften die Zeitmessung in Sekunden, Minuten und Stunden übernommen haben, während die Jahreszählsysteme (Kalenderrechnung) noch unterschiedliche Basen haben, und auch der Tagesbegriff verschiedene Konzepte von Beginn und Ende umfasst.
Zeit in arbeitsteiligen Gesellschaften heute
Das Vorhandensein eines gesellschaftlichen Zeitbegriffs hängt direkt mit dem Phänomen des Planens zusammen, also der gedanklichen Vorwegnahme einer zukünftig vorgesehenen Handlung. Wer nicht planen muss, braucht auch keinen Zeitbegriff. Man spricht auch von der gesellschaftlichen Einheitszeit im Gegensatz zur natürlichen Eigenzeit (Zeitbudget-Forschung). Es ist zu beachten, dass die Vorstellung eines linearen Zeitablaufs Voraussetzung für den Gedanken des Fortschritts ist, auch eine Einteilung in „moderne“ und „vormoderne“ Gesellschaften ergibt nur in Verbindung mit einem linearen Zeitverständnis Sinn.
Innerhalb einer modernen Gesellschaft können für einzelne Gruppen unterschiedliche subjektiver Zeitrhythmen als Tagesablauf entstehen (z. B. Bäcker, Studenten, Arbeitslose). Durch zunehmende Technisierung ist eine Abkopplung von der natürlich gegebenen Zeit immer stärker geworden (Nachtleben, Nachtmensch). Arbeitsteilung, Koordinierung, Organisierung ist ohne Berücksichtigung des Zeitaspekts nicht möglich. Die Bedeutung der Synchronisierung von Prozessen, an denen mehrere Handelnde beteiligt sind, nimmt dabei immer stärker zu, je ausdifferenzierter eine Gesellschaft ist.
In den westlichen Gesellschaften wird Zeit überwiegend als Ressource angesehen, die man verwalten (Zeitmanagement) und nutzen soll („Zeit ist Geld“, „Zeit verschwenden“). Es geht darum in möglichst wenig Zeit möglichst viel zu machen. Dadurch entsteht eine Art „Beschleunigung des Lebens“. Zeitdruck und Zeitnot entstehen aus einem Zwang zur Koordinierung in einer Gesellschaft.
Die Freizeit wird anders als in früheren und anderen Gesellschaften als Ausgleich im starken Kontrast zur Arbeitszeit gesehen. Das ist das Interessensgebiet der Freizeitsoziologie.
Mit der wachsenden Mobilfunkdurchdringung beginnt im 21. Jahrhundert die Bedeutung der synchronisierten Uhrzeit als Rahmen für die Zeitplanung und -organisation, vor allem gilt dies für den Freizeitbereich, abzunehmen, da Mobiltelefone es erlauben, sich ad hoc zu verabreden bzw. Verabredungen zu verschieben.[1]
Einzelnachweise
- ↑ Eva Thulin und Bertil Vilhelmson (2007): Mobiles everywhere: Youth, the mobile phone, and changes in everyday practice. In: Young 2007; 15; 235 (DOI: 10.1177/110330880701500302)
Siehe auch
Literatur
- Dux, Günter: Die Zeit in der Geschichte. Ihre Entwicklungslogik vom Mythos zur Weltzeit. Frankfurt am Main 1989.
- Elias, Norbert Über die Zeit Frankfurt/Main, 1984
- Giddens, Anthony (1988) Die Konstitution der Gesellschaft. Grundzüge einer Theorie der Strukturierung [Aus d. Engl.] Frankfurt/Main, New York, Kap. 3.
- Hahn, Alois (1987): Soziologische Aspekte der Knappheit. In: Heinemann, Klaus (Hg.): Soziologie wirtschaftlichen Handelns, Opladen, S. 119-132.
- Lübbe, Hermann (1995): Schrumpft die Zeit? Zivilisationsdynamik und Zeitumgangsmoral: Verkürzter Aufenthalt in der Gegenwart In: Weis, Kurt (Hrsg.): Was ist Zeit? München, S. 53-80.
- Nowotny, Helga (1989) Eigenzeit. Entstehung und Strukturierung eines Zeitgefühls Frankfurt am Main, Kap. 1 „Die Illusion der Gleichzeitigkeit“.
- Linder, Staffan B. (1970): Das Linder-Axiom oder Warum wir keine Zeit mehr haben. New York, London
- Rosa, Hartmut (2005): Beschleunigung. Die Veränderung der Zeitstrukturen in der Moderne. Frankfurt am Main
- Rinderspacher, Jürgen P. (1985) Gesellschaft ohne Zeit. Individuelle Zeitverwendung und soziale Organisation der Arbeit Frankfurt, New York, S. 12-54.
- Robinson, John P./ Godbey, Geoffrey (1999): Time for life. The surprising ways the Americans use their time. Philadelphia
- Schütz, Alfred; Luckmann, Thomas (1975): Strukturen der Lebenswelt Neuwied, Darmstadt, S. 73-87.
- Sorokin, Pitirim; Merton, Robert (1937) Social Time: A Methodological and Functional Analysis In: American Journal of Sociology 42, S. 615-629. (verfügbar als pdf)
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