Zwölftonmusik

Zwölftonmusik

Zwölftonmusik wird eine Musik genannt, wenn sie auf Grundlage der Zwölftontechnik bzw. einer Zwölftonreihe komponiert wurde. In ihr werden die zwölf Töne der chromatischen Skala des gleichstufig temperierten Tonsystems vollkommen gleichberechtigt (das heißt: ohne die Vorherrschaft eines „Grundtones“) behandelt. Die Grundlagen der Zwölftonmusik wurden zu Beginn des 20. Jahrhunderts entwickelt. Zwölftonmusik ist weder mit chromatischer Musik (in der zwar auch alle zwölf Töne auf engem Raum vorkommen können, aber immer noch ein tonaler Bezug bestehen bleibt) noch mit Atonalität zu verwechseln. Die Zwölftontechnik übernimmt die Rolle des musikalischen Ordnungsprinzips, die zuvor die Funktions-Harmonik in der Tonalität innehatte. Da die Anwendung der Zwölftontechnik ebenso wie das Hörerlebnis sehr verschieden sein kann, ist Zwölftonmusik kein Musikstil (wie z. B. der Impressionismus) oder eine Musikrichtung, sondern bezeichnet die dem Musikstück zugrunde liegende Kompositionsmethode.

Zwölftonmusik und die ihr zugrundeliegende Zwölftontechnik sind allgemeine, stilübergreifende Begriffe. Hingegen wird mit dem Begriff Dodekaphonie (griech. dodeka = 12, phone = Stimme), den René Leibowitz eingeführt hat, üblicherweise die Technik der von Arnold Schönberg entwickelten „Komposition mit zwölf nur aufeinander bezogenen Tönen“ bezeichnet.

Inhaltsverzeichnis

Entstehung

Um 1920 wurden in Wien zwei unterschiedliche Zwölftontechniken entwickelt. Die zeitlich frühere war jene Josef Matthias Hauers ab 1919. Musikgeschichtlich viel einfluss- und folgenreicher war aber die durch Arnold Schönberg ab ca. 1921 begründete „Methode mit zwölf nur aufeinander bezogenen Tönen“. Heute ist mit den Begriffen Zwölftonmusik/-technik oder Dodekaphonie überwiegend die auf Schönberg zurückgehende Richtung gemeint.

Für Entwicklung und v. a. theoretische Untermauerung der Zwölftontechnik ist der deutsche Philosoph Theodor W. Adorno (1903–1969) zu nennen, der die Zwölftontechnik als die progressive Antwort auf die in seinen Augen reaktionär gewordene Tonalität interpretierte und auch selbst Stücke mittels der Zwölftontechnik komponierte. Allerdings war sein Umgang mit den Zwölftonreihen nie so strikt wie etwa bei Schönberg, sondern er verteidigte, auch theoretisch, eine gewisse künstlerische Freiheit, die er durch einen allzu orthodoxen Umgang mit der Zwölftontechnik in Gefahr geraten sah. So erweiterte er z. B. für die Vertonung des Trakl-Gedichts „Entlang“ (op. 5, Nr. 4) die Tonreihe auf 98 Töne.[1] Adorno beriet Thomas Mann für seinen Roman Doktor Faustus musikalisch, insbesondere hinsichtlich der musiktheoretischen Reflexionen über die Zwölftonmusik bzw. -technik.[2]

Zwölfton nach Josef Matthias Hauer

Hauer entwickelte 1919, ausgehend von seiner „Klangfarbentheorie“, die Forderung nach einer Klangfarben-Totalität innerhalb einer atonalen Melodie, deren „Gesetz“ darin besteht, „dass innerhalb einer gewissen Tonreihe sich kein Ton wiederholen und keiner ausgelassen werden darf“ (Vom Wesen des Musikalischen, 1920 – Dies ist zugleich die früheste Beschreibung einer Zwölftonreihe). Sein „Nomos“ op. 19 (1919) gilt als erste Zwölftonkomposition überhaupt. Hauer entwickelte im Jahr 1921 die 44 Tropen, ein Ordnungssystem im Zwölftonraum das auf Hexachorden (Sechstonklängen) basiert, von denen je zwei einen Tropus („Wendungen“, im Sinne von Formeln) bilden, mit deren Hilfe Überblick und Anwendung der Eigenschaften (z. B. Symmetrien) aller kombinatorisch möglichen Zwölftonreihen (12! = 479.001.600) erleichtert wird. Hauer entwickelte zu diesem Zweck eine eigene Notation. 1926 erfolgte die Entwicklung des zwölftönigen Kontinuums, einer aus der Zwölftonreihe heraus gebildeten Akkordfolge, die weiterhin als Grundlage einer Komposition verwendet wird. Seine Kompositionen zwischen 1919 und 1940 basieren weitestgehend auf Varianten einer Bausteintechnik, auf Tropentechnik oder auf der Kontinuum-Technik. Nach 1940 schreibt Hauer, aufbauend auf seinen philosophischen Überlegungen, nur noch sogenannte „Zwölftonspiele“.

Die Unterschiede zwischen Hauers Zwölftontechnik und Schönbergs „Komposition mit 12 Tönen“ sind gravierend. Hauers Denken ist zunehmend geprägt von Philosophie und Weltanschauung, von der Vergeistigung von Musik, von der Abkehr von jedem individuellen künstlerischen Ausdruck, aber auch von Melodie und Harmonik.

Zwölftontechnik nach Arnold Schönberg

Bestimmendes Element der „Komposition mit 12 Tönen“ bei Arnold Schönberg sind Reihen (Zwölftonreihen), in denen alle 12 Töne einer Oktave einmal vorkommen sollen. Im Gegensatz zur traditionellen tonalen Musik werden alle Intervalle als völlig gleichberechtigt angesehen, die wertende Unterscheidung von Dissonanzen (die aufgelöst werden mussten) und Konsonanzen (die bevorzugt wurden) entfällt, beide sind gleichrangig („Emanzipation der Dissonanz“). Die Oktave wird, wie in der traditionellen tonalen Musik auch, als derselbe Ton wie die Prim aufgefasst, unterliegt daher dem "Wiederholungsverbot" (was dem Verbot der Oktavparallele im traditionellem Tonsatz entspricht).

Die Zwölftonreihe tritt in vier Gestalten auf: Grundgestalt, Umkehrung (aufsteigende Intervalle werden durch gleichgroße absteigende ersetzt), Krebs (die Reihe wird von hinten nach vorne gelesen) und Krebsumkehrung. Von allen vier Gestalten können 12 Transpositionen (von jedem Ton der chromatischen Skala ausgehend) gebildet werden, so dass 48 Reihen derselben Zwölftonreihe zuzuordnen sind. Die Zwölftonreihe bildet die diasthematische (Tonhöhenfolgen), aber auch die harmonische (vertikale) Materialgrundlage für eine Zwölftonkomposition.

Nach ihrer weitgehenden Abwendung von der Tonalität zu Beginn des 20. Jahrhunderts sahen Arnold Schönberg und seine Schüler, insbesondere Alban Berg und Anton Webern, in der Zwölftontechnik ein grundlegend neues Prinzip musikalischer Komposition und eine logische, evolutionäre Weiterführung der Musikgeschichte. Auch für viele Komponisten, die keine unmittelbaren Schüler Schönbergs und seines Kreises gewesen waren, wurde die Zwölftontechnik zur Grundlage einer Fülle von Personalstilen, die von der erweiterten Tonalität (wie etwa Frank Martin oder Leonard Bernstein) bis zur strikten, fast mechanischen Anwendung (etwa bei René Leibowitz) reichen.

Nach Schönbergs Emigration und dem Beginn seiner Lehrtätigkeit in den USA verbreitete sich die Zwölftontechnik vor allem in Nordamerika. In Westeuropa wurde sie nach dem Zweiten Weltkrieg von der Seriellen Musik verdrängt, die eine Weiterentwicklung der Zwölftontechnik (vor allem in der Ausprägung Anton Weberns) ist.

Siehe auch

Weblinks

Literatur

  • Michael Beiche: Artikel Zwölftonmusik im Handwörterbuch der musikalischen Terminologie, herausgegeben von Hans Heinrich Eggebrecht (jetzt: Albrecht Riethmüller). Wiesbaden: Steiner 1971ff
  • Herbert Eimert: Lehrbuch der Zwölftontechnik. Wiesbaden: Breitkopf & Härtel 1952
  • Nikolaus Fheodoroff: Josef Matthias Hauer. Schriften. Manifeste. Dokumente. Edition Österreichische Musikzeit, Wien 2003
  • Eberhard Freitag: Schönberg. Reinbek bei Hamburg: Rowohlt 1973
  • Josef Matthias Hauer: Vom Wesen des Musikalischen. Leipzig/Wien: Waldheim-Eberle 1920
  • Hanns Jelinek: Anleitung zur Zwölftonkomposition (1952–58), 2 Teile in 4 Bänden. Wien: UE 1967 2teA
  • Ernst Krenek: Studies in Counterpoint (1940), deutsch: Zwölfton-Kontrapunkt-Studien, Mainz: Schott 1952
  • René Leibowitz: Schoenberg et son école (1947). Paris: Janin, 1947
  • René Leibowitz: Introduction a la musique de douze sons (1949). Paris: L’Arche, 1949
  • Arnold Schönberg: Stil und Gedanke. Frankfurt am Main: Fischer Taschenbuch, 1992
  • Arnold Schönberg: Komposition mit zwölf Tönen (1935), in: Stil und Gedanke
  • Anton Webern: Der Weg zur Neuen Musik (16 Vorträge 1932). Wien: Universal Edition 1960
  • Johann Sengstschmid: Zwischen Trope und Zwölftonspiel. Regensburg: Gustav Bosse 1980
  • Josef Rufer: Die Komposition mit zwölf Tönen. Bärenreiter 1966

Vorkommen/Werke

Die Zwölftontechnik fand mitunter in der Filmmusik bei Komponisten wie Jerry Goldsmith oder Leonard Rosenman Verwendung. Ein markantes Beispiel ist die Musik zu dem Film Planet der Affen von Jerry Goldsmith, eine pulsierend symphonische, atonale Musik.

Der Schweizer Komponist und Opernintendant Rolf Liebermann kombinierte 1988 eigene Zwölftonmusik mit Jazz seines Landsmanns George Gruntz und einem Libretto von Allen Ginsberg zur Multimedia-Produktion „Cosmopolitan Greetings“.

Quellen

  1. Stefan Müller-Doohm, „Adorno“, Eine Biographie
  2. Gerhard Schweppenhäuser, „Theodor W. Adorno zur Einführung“

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