Böckel-Bewegung

Böckel-Bewegung
"Berliner Bewegung": Mitte Otto Glagau ; im Uhrzeigersinn Adolf König, Bernhard Förster, Max Liebermann von Sonnenberg, Theodor Fritsch, Paul Förster und Otto Böckel, ca. 1880

Otto Böckel (* 2. Juli 1859 in Frankfurt am Main; † 17. September 1923 in Michendorf) war ein deutscher Bibliothekar, Volksliedforscher und antisemitischer Politiker. Er verwendete auch das Pseudonym Dr. Capistrano.

Inhaltsverzeichnis

Leben

Böckel wurde 1859 als Sohn eines Bauunternehmers in Frankfurt am Main geboren. Er studierte von 1878 bis 1882 Rechtswissenschaften und Nationalökonomie in Gießen und Heidelberg, danach neuere Sprachen in Marburg und Gießen. Er promovierte in Marburg und nahm eine Stelle an der Universitätsbibliothek an. Böckel widmete sich fortan volkskundlichen Studien, insbesondere der Volksliedforschung und der bäuerlichen Alltagskultur in Hessen. Seine von Agrarromantik und Antisemitismus durchzogene Verklärung des kleinbäuerlichen Lebens war stark an Wilhelm Heinrich Riehl angelehnt, trug aber auch antikonservative und antiautoritäre Züge. Seine judenfeindlichen Verschwörungstheorien entnahm Böckel wahrscheinlich den Werken der französischen Antisemiten Alphonse de Toussenel und Édouard Drumont.

Der Weg in die Politik

Otto Böckel sah sich zeitlebens als Kämpfer für die von der Agrarkrise bedrohte kleinbäuerliche Lebenswelt seiner kurhessischen Heimat. Allerdings erblickte er die Gründe für den Niedergang des Bauerntums nicht in Strukturproblemen der Landwirtschaft im heraufziehenden Industriezeitalter (so u.a. Preisverfall durch die Globalisierung der Agrarmärkte, veraltete Produktionsmethoden, Zersplitterung des Besitzes, Arbeitskräftemangel durch Landflucht), sondern sah die Schuldigen in jüdischen Viehhändlern und Kreditgebern, welche die Bauern angeblich durch Wuchergeschäfte schädigten, ihren Besitz zwangsversteigerten („Güterschlächterei“), um mit ihm Bodenspekulation zu betreiben. Die Berechtigung dieser seit dem Mittelalter kursierenden Vorwürfe ist extrem zweifelhaft. Sie wurden damals aber von vielen Zeitgenossen bereitwillig akzeptiert, da sie von der ökonomischen Inkompetenz der verschuldeten Bauern und von überindividuellen Strukturveränderungen in der Landwirtschaft ablenkten.

Ein spektakuläres Gerichtsverfahren gegen Conrad Hedderich, der seine jüdischen Gläubiger ermordet hatte (allerdings mangels Beweisen freigesprochen wurde), motivierte Böckel, politisch tätig zu werden.

Der „hessische Bauernkönig“

Fortan zog Böckel mit einigen Gesinnungsgenossen als antisemitischer Agitator über die hessischen Dörfer und fand unter den Kleinbauern, ländlichen und kleinstädtischen Unterschichten und unter den Marburger Studenten begeisterte Anhänger, die ihn als „hessischen Bauernkönig“ feierten. 1886 hielt er auch eine Rede in der Berliner Bockbrauerei, die die antisemitische Bewegung mitfinanzierte. Kern seiner Agitation war u.a. die Parole „Deutschland den Deutschen“, die 1919 zur Losung des Deutschvölkischen Schutz- und Trutzbundes wurde.[1] Unterstützt wurde seine Agitation durch die Zeitungen Wucherpille, Reichsgeldmonopol und Reichsherold, die Böckel herausgab oder für die er schrieb (z.T. unter dem Pseudonym Dr. Capistrano – Ein mittelalterlicher Inquisitor, der sich auf Judenverfolgung spezialisiert hatte). Der „hessische Bauernkönig“ zählte sich selbst nicht zum „rechten“ politischen Spektrum. Mit seiner Parole „gegen Junker und Juden“ verknüpfte er antikonservatives und antisemitisches Gedankengut. 1887 wurde er für den Wahlkreis Marburg-Kirchhain als erster unabhängiger Antisemit in den Reichstag gewählt. Böckel betrieb einen Selbsthilfe-Antisemitismus, der die Bauern unabhängig vom jüdischen Kapital machen sollte. Er gründete den Kurhessischen Bauernbund, der sich unter seinem Vorsitzenden Alfred Winkler aber nicht der antisemitischen Bewegung anschloss. Daraufhin rief Böckel 1890 den Mitteldeutschen Bauernverein ins Leben. Er förderte landwirtschaftliche Kooperativen, Rechtsberatung für verschuldete Bauern und veranstaltete „judenfreie“ Viehmärkte. 1890 gründete Böckel die Antisemitische Volkspartei, die sich 1893 in Deutsche Reformpartei umbenannte. Sein eigentliches politisches Einflussgebiet blieb aber auf Kurhessen begrenzt. 1890, 1893 und 1898 wurde Böckel in Marburg wiedergewählt, obwohl er von allen anderen Parteien eifrig bekämpft wurde. Die Behörden fürchteten, dass Böckels aggressive Wahlkampffeldzüge der sozialdemokratischen Landagitation Vorschub leisten würden. Deshalb förderten sie die Gründung von der Böckel-Bewegung unabhängiger Selbsthilfe-Organisationen nach dem Raiffeisen-Prinzip.

Politischer Niedergang

Ein Skandal um ein uneheliches Kind und die Zweckentfremdung von Geldern des Mitteldeutschen Bauernvereins für Wahlkampfagitation führten dazu, dass Böckel 1894 Marburg verlassen musste. Als sein Versuch, die Vereinigung seiner Deutschen Reformpartei mit der Deutschsozialen Partei zu verhindern, scheiterte, trat Böckel aus Partei und Fraktion aus. Er kritisierte die Nähe der neuen Deutschsozialen Reformpartei zu den Konservativen und zum Bund der Landwirte, welche er in Hessen als politische Gegner bekämpft hatte. Die Wiederbelebung der Antisemitischen Volkspartei gemeinsam mit Hermann Ahlwardt scheiterte kläglich. 1903 verlor Böckel seinen Marburger Wahlkreis ausgerechnet an den Linksliberalen und ehemaligen Antisemiten Hellmut von Gerlach. Die antisemitische Bewegung in Hessen war mittlerweile aufgrund der Erfolge der Raiffeisen-Bewegung abgeflaut und vom Bund der Landwirte absorbiert worden, für den schließlich auch Böckel von 1897 bis 1899 als Agitator tätig wurde. Alle Versuche Böckels, in der antisemitischen Bewegung wieder Fuß zu fassen, scheiterten. Der gemeinsam mit Paul Förster und Hans von Mosch gegründete Deutsche Volksbund blieb bedeutungslos, und ein Comeback in seinem Marburger Wahlkreis bei der Reichstagswahl von 1912 scheiterte kläglich.

Nachwirkungen

Otto Böckel starb im Alter von 64 Jahren in Michendorf. Die Nationalsozialisten stilisierten ihn zu einem Wegbereiter ihres Gedankenguts. Führende hessische Nationalsozialisten, wie der spätere Staatspräsident Ferdinand Werner, waren in ihrer Jugend in der Böckel-Bewegung tätig.

Werke (Auswahl)

Volkskundliche Schriften

  • Deutsche Volkslieder aus Oberhessen, 1885
  • Der deutsche Wald im deutschen Lied, 1899
  • Dorfbilder aus Hessen und der Mark, 1908
  • Psychologie der Volksdichtung, 1913
  • Seelenland. Bilder aus deutscher Heldenzeit, 1913
  • Das deutsche Volkslied, 1917

Antisemitische Schriften

  • Die Juden – Die Könige unserer Zeit, 1887
  • Die Quintessenz der Judenfrage, 1889
  • Nochmals: Die Juden – die Könige unserer Zeit, 1901

Literatur

  • Thomas Klein: Der preußisch-deutsche Konservatismus und die Entstehung des politischen Antisemitismus in Hessen-Kassel (1866–1893) Ein Beitrag zur hessischen Parteiengeschichte. Marburg 1995.
  • Rüdiger Mack: Otto Böckel und die antisemitische Bauernbewegung in Hessen 1887–1894. In: Wetterauer Geschichtsblätter, 16. Jg. (1967), S. 113–147.
  • David Peal: Anti-Semitism and Rural Transformation in Kurhessen The Rise and Fall of the Böckel- Movement. New York 1985.
  • David Peal: Jewish Reactions to German Antisemitism The case of the Böckel Movement 1887–1894. In: Jewish Studies, 48. Jg. (1986), S. 269–282.
  • David Peal: Antisemitism by other means? The Rural Cooperative Movement in late 19th century Germany. In: Herbert A. Strauss (Hrsg.): Hostages of Modernization Studies on Modern Antisemitism 1870–1933/’39. Berlin u. New York 1993. S. 128–149.
  • Armin Pfahl-Traughber: Antisemitismus, Populismus und Sozialprotest Eine Fallstudie zur Agitation von Otto Böckel, dem ersten Antisemiten im Deutschen Reichstag. In: Aschkenas - Zeitschrift für Geschichte und Kultur der Juden, 10. Jg. (2000), S. 389–415.
  • Eugen Schmahl: Entwicklung der völkischen Bewegung. Die antisemitische Bauernbewegung in Hessen von der Böckelzeit bis zum Nationalsozialismus, Gießen 1933.
  • Peter Straßheim: Die Reichstagswahlen im 1. Kurhessischen Reichstagswahlkreis Rinteln-Hofgeismar-Wolfhagen von 1866 bis 1914 Eine Wahlanalyse. Frankfurt a.M. 2001.
  • Arne Sudhoff: Agitation und Mobilisierung ländlicher Bevölkerung im ausgehenden 19. Jahrhundert. Die kurhessische Zeitung Reichsherold im Schnittpunkt von Antisemitismus und Agrargesellschaft, in: Aschkenas - Zeitschrift für Geschichte und Kultur der Juden, 11. Jg. (2001), S. 87-120
  • Jacob Toury: Antisemitismus auf dem Lande Der Fall Hessen 1881–1895. In: Monika Richarz u. Reinhard Rürup (Hrsg.): Jüdisches Leben auf dem Lande. Studien zur deutsch- jüdischen Geschichte. Tübingen 1997. S. 173–188.

Weblinks

Einzelnachweise

  1. Ulrich Sieg, Deutschlands Prophet. Paul de Lagarde und die Ursprünge des modernen Antisemitismus, München 2007, S. 258, 327.

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