Otto Böckel

Otto Böckel
Dr. Otto Böckel

Otto Böckel (* 2. Juli 1859 in Frankfurt am Main; † 17. September 1923 in Michendorf) war ein deutscher Bibliothekar, Volksliedforscher und antisemitischer Politiker. Er verwendete auch das Pseudonym Dr. Capistrano.

Inhaltsverzeichnis

Leben

Böckel wurde 1859 als Sohn eines Bauunternehmers in Frankfurt am Main geboren. Er studierte von 1878 bis 1882 Rechtswissenschaften und Nationalökonomie in Gießen und Heidelberg, danach neuere Sprachen in Marburg und Gießen. In Gießen wurde er 1879 Mitglied der Burschenschaft Germania.[1] Er promovierte in Marburg und nahm eine Stelle an der Universitätsbibliothek an. Böckel widmete sich fortan volkskundlichen Studien, insbesondere der Volksliedforschung und der bäuerlichen Alltagskultur in Hessen. Seine von Agrarromantik und Antisemitismus durchzogene Verklärung des kleinbäuerlichen Lebens war stark an Wilhelm Heinrich Riehl angelehnt, trug aber auch antikonservative und antiautoritäre Züge. Seine judenfeindlichen Verschwörungstheorien entnahm Böckel wahrscheinlich den Werken der französischen Antisemiten Alphonse de Toussenel und Édouard Drumont.

Der Weg in die Politik

Otto Böckel sah sich zeitlebens als Kämpfer für die von der Agrarkrise bedrohte kleinbäuerliche Lebenswelt seiner kurhessischen Heimat. Allerdings erblickte er die Gründe für den Niedergang des Bauerntums nicht in Strukturproblemen der Landwirtschaft im heraufziehenden Industriezeitalter (so u.a. Preisverfall durch die Globalisierung der Agrarmärkte, veraltete Produktionsmethoden, Zersplitterung des Besitzes, Arbeitskräftemangel durch Landflucht), sondern sah die Schuldigen in jüdischen Viehhändlern und Kreditgebern, welche die Bauern angeblich durch Wuchergeschäfte schädigten, ihren Besitz zwangsversteigerten („Güterschlächterei“), um mit ihm Bodenspekulation zu betreiben. Die Berechtigung dieser seit dem Mittelalter kursierenden Vorwürfe ist extrem zweifelhaft. Sie wurden damals aber von vielen Zeitgenossen bereitwillig akzeptiert, da sie von der ökonomischen Inkompetenz der verschuldeten Bauern und von überindividuellen Strukturveränderungen in der Landwirtschaft ablenkten.

Ein spektakuläres Gerichtsverfahren gegen Conrad Hedderich, der seine jüdischen Gläubiger ermordet hatte (allerdings mangels Beweisen freigesprochen wurde), motivierte Böckel, politisch tätig zu werden.

Der „hessische Bauernkönig“

Fortan zog Böckel mit einigen Gesinnungsgenossen als antisemitischer Agitator über die hessischen Dörfer und fand unter den Kleinbauern, ländlichen und kleinstädtischen Unterschichten und unter den Marburger Studenten begeisterte Anhänger, die ihn als „hessischen Bauernkönig“ feierten. 1886 hielt er auch eine Rede in der Berliner Bockbrauerei, die die antisemitische Bewegung mitfinanzierte. Kern seiner Agitation war u.a. die Parole „Deutschland den Deutschen“, die 1919 zur Losung des Deutschvölkischen Schutz- und Trutzbundes wurde.[2] Unterstützt wurde seine Agitation durch die Zeitungen Wucherpille, Reichsgeldmonopol und Reichsherold, die Böckel herausgab oder für die er schrieb (z.T. unter dem Pseudonym Dr. Capistrano – Ein mittelalterlicher Inquisitor, der sich auf Judenverfolgung spezialisiert hatte).

Der „hessische Bauernkönig“ zählte sich selbst nicht zum „rechten“ politischen Spektrum. Mit seiner Parole „gegen Junker und Juden“ verknüpfte er antikonservatives und antisemitisches Gedankengut. Bei der Reichstagswahl 1887 wurde er für den Wahlkreis Marburg-Kirchhain als erster unabhängiger Antisemit in den Reichstag gewählt. Böckel betrieb einen Selbsthilfe-Antisemitismus, der die Bauern unabhängig vom jüdischen Kapital machen sollte. Er gründete den Kurhessischen Bauernbund, der sich unter seinem Vorsitzenden Alfred Winkler aber nicht der antisemitischen Bewegung anschloss. Daraufhin rief Böckel 1890 den Mitteldeutschen Bauernverein ins Leben. Er förderte landwirtschaftliche Kooperativen, Rechtsberatung für verschuldete Bauern und veranstaltete „judenfreie“ Viehmärkte. 1890 gründete Böckel die Antisemitische Volkspartei, die sich 1893 in Deutsche Reformpartei umbenannte. Sein eigentliches politisches Einflussgebiet blieb aber auf Kurhessen begrenzt. 1890, 1893 und 1898 wurde Böckel in Marburg wiedergewählt, obwohl er von allen anderen Parteien eifrig bekämpft wurde. Die Behörden fürchteten, dass Böckels aggressive Wahlkampffeldzüge der sozialdemokratischen Landagitation Vorschub leisten würden. Deshalb förderten sie die Gründung von der Böckel-Bewegung unabhängiger Selbsthilfe-Organisationen nach dem Raiffeisen-Prinzip.

Politischer Niedergang

Ein Skandal um ein uneheliches Kind und die Zweckentfremdung von Geldern des Mitteldeutschen Bauernvereins für Wahlkampfagitation führten dazu, dass Böckel 1894 Marburg verlassen musste. Als sein Versuch, die Vereinigung seiner Deutschen Reformpartei mit der Deutschsozialen Partei zu verhindern, scheiterte, trat Böckel aus Partei und Fraktion aus. Er kritisierte die Nähe der neuen Deutschsozialen Reformpartei zu den Konservativen und zum Bund der Landwirte, welche er in Hessen als politische Gegner bekämpft hatte. Die Wiederbelebung der Antisemitischen Volkspartei gemeinsam mit Hermann Ahlwardt scheiterte kläglich. 1903 verlor Böckel seinen Marburger Wahlkreis ausgerechnet an den Linksliberalen und ehemaligen Antisemiten Hellmut von Gerlach. Die antisemitische Bewegung in Hessen war mittlerweile aufgrund der Erfolge der Raiffeisen-Bewegung abgeflaut und vom Bund der Landwirte absorbiert worden, für den schließlich auch Böckel von 1897 bis 1899 als Agitator tätig wurde. Alle Versuche Böckels, in der antisemitischen Bewegung wieder Fuß zu fassen, scheiterten. Der gemeinsam mit Paul Förster und Hans von Mosch gegründete Deutsche Volksbund blieb bedeutungslos, und ein Comeback in seinem Marburger Wahlkreis bei der Reichstagswahl von 1912 scheiterte kläglich.

Nachwirkungen

Otto Böckel starb im Alter von 64 Jahren in Michendorf. Die Nationalsozialisten stilisierten ihn zu einem Wegbereiter ihres Gedankenguts. Führende hessische Nationalsozialisten, wie der spätere Staatspräsident Ferdinand Werner, waren in ihrer Jugend in der Böckel-Bewegung tätig.

Werke (Auswahl)

Volkskundliche Schriften

  • Deutsche Volkslieder aus Oberhessen, 1885
  • Der deutsche Wald im deutschen Lied, 1899
  • Dorfbilder aus Hessen und der Mark, 1908
  • Psychologie der Volksdichtung, 1913
  • Seelenland. Bilder aus deutscher Heldenzeit, 1913
  • Das deutsche Volkslied, 1917

Antisemitische Schriften

  • Die Juden – Die Könige unserer Zeit, 1887
  • Die Quintessenz der Judenfrage, 1889
  • Nochmals: Die Juden – die Könige unserer Zeit, 1901

Literatur

  • Helge Dvorak: Biografisches Lexikon der Deutschen Burschenschaft. Band I Politiker, Teilband 1: A-E. Heidelberg 1996, S. 109-110.
  • Thomas Klein: Der preußisch-deutsche Konservatismus und die Entstehung des politischen Antisemitismus in Hessen-Kassel. (1866–1893). Ein Beitrag zur hessischen Parteiengeschichte. Elwert, Marburg 1995, ISBN 3-7708-1057-0 (Veröffentlichungen der Historischen Kommission für Hessen 59).
  • Rüdiger Mack: Otto Böckel und die antisemitische Bauernbewegung in Hessen 1887–1894. In: Wetterauer Geschichtsblätter. 16, 1967, ISSN 0508-6213, S. 113–147.
  • David Peal: Anti-Semitism and Rural Transformation in Kurhessen. The Rise and Fall of the Böckel Movement. University Microfilms International, Ann Arbor MI 1985 (New York NY, Columbia Univ., Diss., 1985).
  • David Peal: Jewish Reactions to German Antisemitism. The case of the Böckel Movement 1887–1894. In: Jewish Social Studies. 48, 1986, ISSN 0021-6704, S. 269–282.
  • David Peal: Antisemitism by other means? The Rural Cooperative Movement in late 19th century Germany. In: Herbert A. Strauss (Hrsg.): Hostages of Modernization. Studies on Modern Antisemitism 1870–1933/39. Band 1 = 3, 1: Germany – Great Britain – France. de Gruyter, Berlin u. a. 1993, ISBN 3-11-010776-7, S. 128–149.
  • Armin Pfahl-Traughber: Antisemitismus, Populismus und Sozialprotest. Eine Fallstudie zur Agitation von Otto Böckel, dem ersten Antisemiten im Deutschen Reichstag. In: Aschkenas. Zeitschrift für Geschichte und Kultur der Juden. 10, 2000, ISSN 1016-4987, S. 389–415.
  • Eugen Schmahl: Entwicklung der völkischen Bewegung. Die antisemitische Bauernbewegung in Hessen von der Böckelzeit bis zum Nationalsozialismus. Roth, Gießen 1933.
  • Peter Straßheim: Die Reichstagswahlen im 1. Kurhessischen Reichstagswahlkreis Rinteln-Hofgeismar-Wolfhagen von 1866 bis 1914. Eine Wahlanalyse. Lang, Frankfurt am Main u. a. 2001, ISBN 3-631-37757-6 (Europäische Hochschulschriften. Reihe 3: Geschichte und ihre Hilfswissenschaften 897), (Zugleich: Berlin, Freie Univ., Diss., 2000).
  • Arne Sudhoff: Agitation und Mobilisierung ländlicher Bevölkerung im ausgehenden 19. Jahrhundert. Die kurhessische Zeitung Reichsherold im Schnittpunkt von Antisemitismus und Agrargesellschaft. In: Aschkenas. Zeitschrift für Geschichte und Kultur der Juden. 11, 2001, S. 87–120.
  • Jacob Toury: Antisemitismus auf dem Lande Der Fall Hessen 1881–1895. In: Monika Richarz, Reinhard Rürup (Hrsg.): Jüdisches Leben auf dem Lande. Studien zur deutsch-jüdischen Geschichte. Mohr Siebeck, Tübingen 1997, ISBN 3-16-146842-2, S. 173–188 (Schriftenreihe wissenschaftlicher Abhandlungen des Leo-Baeck-Instituts 56).

Weblinks

Einzelnachweise

  1. Helge Dvorak: Biografisches Lexikon der Deutschen Burschenschaft. Band I Politiker, Teilband 1: A-E. Heidelberg 1996, S. 109.
  2. Ulrich Sieg, Deutschlands Prophet. Paul de Lagarde und die Ursprünge des modernen Antisemitismus, München 2007, S. 258, 327.

Wikimedia Foundation.

Игры ⚽ Поможем решить контрольную работу

Schlagen Sie auch in anderen Wörterbüchern nach:

  • Otto Böckel — Böckel (bottom right) and other contemporary anti Semites Otto Böckel (born 2 July 1859 in Frankfurt am Main died 17 September 1923 in Michendorf) was a German populist politician who became one of the first to successfully exploit anti Semitism… …   Wikipedia

  • Böckel (Begriffsklärung) — Böckel steht für: Böckel, eine Hofschaft in Hückeswagen im Oberbergischen Kreis, Nordrhein Westfalen Gut Böckel, ein Wasserschloss und Herrensitz in Rödinghausen Bieren im Kreis Herford, Nordrhein Westfalen Böckel ist der Familienname folgender… …   Deutsch Wikipedia

  • Böckel-Bewegung — Berliner Bewegung : Mitte Otto Glagau ; im Uhrzeigersinn Adolf König, Bernhard Förster, Max Liebermann von Sonnenberg, Theodor Fritsch, Paul Förster und O …   Deutsch Wikipedia

  • Böckel — Böckel, Otto, antisemit. Agitator, geb. 2. Juli 1859 in Frankfurt a. M., studierte die Rechte, dann neuere Sprachen, war 1883–87 Bibliotheksassistent zu Marburg in Hessen, dann Buchdruckereibesitzer daselbst und lebt jetzt in Berlin Friedenau.… …   Meyers Großes Konversations-Lexikon

  • Böckel — Böckel, Otto, antisemit. Agitator, geb. 2. Juli 1859 in Frankfurt a.M., Buchdruckereibesitzer in Berlin, 1887 1903 Mitglied des Reichstags …   Kleines Konversations-Lexikon

  • Otto Tanck — Epitaph Porträt von Otto Tanck Epitaph für Otto Tanck im Dom zu Lübeck …   Deutsch Wikipedia

  • Martin von Böckel — (auch: Boeckel, Bökel; * 23. Juni 1610 in Güstrow; † 2. September 1688 in Lübeck) war ein deutscher Rechtsgelehrter und Politiker. Inhaltsverzeichnis 1 Leben 2 Familie 3 Werke …   Deutsch Wikipedia

  • Elisabeth Böckel — Nation Deutschland  Deutschland Geburtstag …   Deutsch Wikipedia

  • Antisemitismus bis 1945 — Der Antisemitismus ist eine mit Nationalismus, Sozialdarwinismus und Rassismus begründete Judenfeindlichkeit, die seit etwa 1800 in Europa auftritt. Für den Nationalsozialismus war der Rasse Antisemitismus zentral und führte im vom Deutschen… …   Deutsch Wikipedia

  • Judenverfolgungen — Der Antisemitismus ist eine mit Nationalismus, Sozialdarwinismus und Rassismus begründete Judenfeindlichkeit, die seit etwa 1800 in Europa auftritt. Für den Nationalsozialismus war der Rasse Antisemitismus zentral und führte im vom Deutschen… …   Deutsch Wikipedia

Share the article and excerpts

Direct link
Do a right-click on the link above
and select “Copy Link”