- Bremer Kollektiv
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„Bremer Kollektiv“ nannte sich eine Gruppe von Deutschlehrern, die zur Zeit der Gruppengründung im Jahre 1969 alle in Bremen lebten und arbeiteten. Gründer der Gruppe war Heinz Ide (1912–1973).
Inhaltsverzeichnis
Entstehung des Bremer Kollektivs
Ide hatte einige Zeit vorher die ADL, das heißt die „Aktionsgemeinschaft demokratischer Lehrer“ ins Leben gerufen. Dieser Zusammenschluss linker Lehrer aller Schularten sollte dazu beitragen, das bremische Schulwesen zu demokratisieren. Die ADL stellte sich zu diesem Zweck an die Seite der damals revoltierenden bremischen Schüler. Sie versuchte ihnen bei der Formulierung ihrer politischen Ziele zu helfen und sie, wenn sie in Bedrängnis gerieten, gegen ihre staatlichen und schulischen Gegner zu verteidigen.
Als die Schülerrevolte langsam abebbte, regte Ernst Busche, ein Lektor des Metzler-Verlages, Heinz Ide zu einer Kritik des zu dieser Zeit an den bundesdeutschen Gymnasien üblichen Deutsch-Unterrichts an. Das Ergebnis war die Aufsatzsammlung „Bestandsaufnahme Deutschunterricht“, die im Jahre 1970 erschien und zu einem großen Buch-Erfolg wurde.
Durch diese Veröffentlichung wurde Ide bundesweit als Kritiker des herkömmlichen gymnasialen Deutschunterrichts bekannt. Der Diesterweg-Verlag, der sein Verlagsprogramm in den Dienst der Deutschunterrichts-Reform stellen wollte, bot ihm deshalb an, eine Zeitschrift mit herauszugeben, die diese Reform vorantrieb. Ide nahm das Angebot an und so konnten die jungen Bremer Kollegen, die ihm schon bei der Herausgabe der „Bestandsaufnahme“ geholfen hatten, mit ihm zusammen ein Konzept für einen neuen, das heißt einen „kritischen“, „politischen“, „emanzipatorischen“ Deutschunterricht entwickeln und bundesweit zur Diskussion stellen. Auf Ides Vorschlag nannten sie sich „Bremer Kollektiv“.
Das „Bremer Kollektiv“ war keine genau abgrenzbare Gruppe. Sie bestand im Wesentlichen aus Hermann Cordes, Klaus Ehlert, Hans Joachim Grünwaldt, Helmut Hoffacker, Heinz Ide, Bodo Lecke und Rudolf Wenzel. Es arbeiteten aber auch Rolf Gutte, Klaus Hildebrandt, Romina Schmitter sowie Werner Krogmann punktuell mit der Gruppe zusammen. Letzterer z.B. war einer der Mitherausgeber der Lesebuchreihe „Kritisches Lesen“.
Nachdem die Gruppe durch die „Bestandsaufnahme Deutschunterricht“ und Veröffentlichungen in der von Ide mit herausgegebenen Zeitschrift „Diskussion Deutsch“ bekannt geworden war, beauftragte sie der Diesterweg-Verlag, zusammen mit einer Gruppe von Deutschlehrern aus Kassel eine sechsbändige Lesebuchreihe für die Sekundarstufe I zu erarbeiten.
Die didaktischen Konzepte der Gruppe
Das kritische Lesen von Dichtung
Das Ergebnis, das unter Leitung des für die Reformideen sehr aufgeschlossenen Verlagslektors Lothar Mundt erarbeitete wurde, waren Lesebücher neuer Art. Sie wurden nicht nur (was neu war) reich illustriert und farbig gedruckt. Sie waren auch keine der bisher üblichen thematisch strukturierten Sammlungen dichterischer Texte, sondern enthielten vielmehr ebenso nichtdichterische Texte wie Zeitungsartikel, Comics oder Auszüge aus Kinderbüchern und Zeitungsanzeigen. Und diese Texte waren zu Leselehrgängen zusammengestellt. Das heißt, sie waren mit erschließenden Fragen versehen, mit deren Hilfe sich die Schüler bestimmte Erkenntnisse erarbeiten konnten; sie waren also Arbeitsbücher, die selbstständiges Lernen ermöglichen sollten.
Vor allem aber waren sie (dem Titel der Lesebuchreihe entsprechend) Leselehren für „kritisches Lesen“ (kritisch hier im Sinne von oppositionell). Der Deutschunterricht der Nachkriegszeit war aus Sicht der Bremer Gruppe „affirmativ“. Er passe ihrer Meinung nach die Schüler mittels des Kanons der „gültigen“ (das heißt: gesellschaftlich akzeptierten) dichterischen Texte an die in der Gesellschaft herrschenden Verhältnisse an. Sein Ziel sei nicht Selbstständigkeit, sondern Angepasstheit. Das aber mache, wie die Auseinandersetzung mit der Naziherrschaft den Deutschlehrern der 68er Generation gezeigt habe, die Menschen zu gehorsamen Untertanen, zu Menschen, die sich zu politischen Verbrechen missbrauchen ließen. Deshalb sei nach ihrer Überzeugung die wichtigste Forderung an alle künftige Pädagogik, dafür zu sorgen, dass (wie Adorno es formuliert hatte) „Auschwitz nicht noch einmal sei“. Und im Deutschunterricht ließe sich dies in der Weise realisieren, dass die Schüler dort einen „kritischen“ Umgang mit Sprache und Literatur erlernten.
Nach Ansicht der Mitglieder des Bremer Kollektivs sollten sie deshalb Texte nicht als solche, als zeitlos gültige, sondern aus ihrem Entstehungs- und Verwendungszusammenhang verstehen. Sie sollten, mit anderen Worten, ihren Ideologie-Charakter erkennen und dann, auf der Grundlage der Erkenntnis der eigenen Interessen, sich ablehnend oder zustimmend zu ihnen verhalten können.
Aufgabe des Deutschlehrers hätte also zu sein, die Schüler jeweils darüber zu informieren, in welchem historischen und sozialen Zusammenhang ein bestimmter Text ursprünglich stand, damit sie diesen „gegen den Strich lesen“, das heißt sein manipulatives Potenzial erkennen können. Da darüber damals in der Deutschlehrerschaft, die auf den Universitäten vor allem das werkimmanente Interpretieren gelernt hätten, nur unzureichende Kenntnisse vorhanden wären, ergab sich daraus aus Sicht des Bremer Kollektivs die Notwendigkeit, solche Informationen zu erarbeiten und zugänglich zu machen. Diese Sicht unterstützte das Lektorat des Metzler-Verlages und beauftragte deshalb das Bremer Kollektiv, unter dem Titel „projekt deutschunterricht“ eine Reihe herauszugeben, die die Fachkollegen mit derartigen Informationen versorgte.
Der Verweis auf „versäumte Lektionen“
Die Reihe, die von 1971 bis 1977 auf 12 Bände anwuchs, informierte aber nicht nur über die behaupteten Hintergründe der affirmativ wirkenden oder in der Schule affirmativ verwendeten Texte. Sie informierte auch über im deutschen Schulunterricht bisher nach Überzeugung der Autoren „versäumte Lektionen“, das heißt über sozialkritische Texte von Autoren wie Heine oder Brecht, die einem auf gesellschaftliche Anpassung ausgerichteten Unterricht entgegengearbeitet hätten und darum im bisherigen Deutschunterricht nicht oder kaum vorgekommen seien.
In den Aufsätzen, die dem Kollektiv aus allen Teilen der Bundesrepublik zugeschickt wurden, wurde aber nicht nur dargelegt, wie man dichterische Texte im Sinne eines „emanzipatorischen Deutschunterrichts“ behandeln könnte. Es wurde auch die Beschäftigung mit den verschiedensten nichtdichterischen Texten empfohlen und gezeigt, wie man damit im Deutschunterricht umgehen sollte.
Die unterrichtlichte Behandlung nichtdichterischer Texte
Ein „kritischer“ Deutschunterricht durfte sich nach Ansicht des Bremer Kollektivs nämlich nicht nur mit dichterischen Texten befassen. Da die meisten Menschen in ihrem Alltag eher Produkte der modernen Medien (wie Zeitung, Rundfunk oder Fernsehen) denn anspruchsvolle Literatur konsumieren und (wenn schon) eher Trivialromane als Gedichte lesen, sollten die Schüler vorzugsweise lernen, damit angemessen umzugehen. Deshalb nahmen die Analyse nichtdichterischer Texte und Empfehlungen für deren Behandlung im Deutschunterricht in der Reihe „projekt deutschunterricht“ eine breiten Raum ein.
Von solch einer Orientierung am Alltag der Schüler sind auch die vom Bremer Kollektiv entwickelten Konzepte für den Umgang mit Sprache geprägt. Die Sprache sollte nach Ansicht des Kollektivs nicht als solche betrachtet und geübt werden, sondern stets im kommunikativen Verwendungszusammenhang. Dies wurde nicht zuletzt in der „Didaktik und Methodik des Deutschunterrichts“ aus dem Jahre 1974 dargelegt, in der das Bremer Kollektiv versuchte, sein Konzept für den Deutschunterricht im Zusammenhang darzustellen.
Die Rezeption der Reform-Vorschläge des Bremer Kollektivs
1974 erschien auch der erste Band der Lesebuchreihe „Kritisches Lesen“. Von diesem Zeitpunkt an begann sich Widerstand gegen die vom Bremer Kollektiv vertretene Didaktik zu formieren. Nicht nur diejenigen Deutschlehrer, die Teile der Lesebücher vor der Drucklegung in ihrem Unterricht ausprobierten, äußerten grundsätzliche Kritik (was zum Beispiel dazu führte, dass ein Kapitel mit dem Titel „Über Sexualität reden“ völlig fallen gelassen wurde). Weitaus heftiger war die Kritik der schulinteressierten Öffentlichkeit. Besonders der hessische Elternverband lief Sturm gegen diese Art von politischem Deutschunterricht und die liberalen und konservativen überregionalen Medien übernahmen diese Sichtweise und verbreiteten sie bundesweit.
Zwar wurde andererseits der erste Band der Lesebuch-Reihe bei seinem Erscheinen von Teilen der Lehrerschaft (besonders der der Gesamtschulen) begeistert begrüßt und die Lesebücher dann auch jahrelang von ihnen benutzt. Insgesamt wurde es für den Verlag aber immer schwieriger, in den einzelnen Bundesländern die Zulassung für die Bücher zu bekommen. Obgleich die Herausgeber-Gruppe ihren Kritikern Zugeständnisse machte, führte dies letztlich dazu, dass der Verlag nach Erscheinen des vierten Bandes der als sechsbändig konzipierten Reihe das Projekt beendete.
Die Mitglieder des „Bremer Kollektivs“ hatten aber trotzdem noch vielerlei Möglichkeiten, für ihr Deutschunterrichts-Konzept in der Fachöffentlichkeit zu werben. Die Reihe „projekt deutschunterricht“ erschien noch einige Jahre. Die Bremer konnten außerdem weiter in der Zeitschrift „Diskussion Deutsch“ publizieren, im Diesterweg-Verlag Unterrichtshandreichungen veröffentlichen oder an der (sozialgeschichtlich orientierten) „Deutschen Literaturgeschichte“ des Metzler-Verlages mitarbeiten. Zwei von ihnen bekamen sogar Gelegenheit, sich an der Ausarbeitung neuer Deutsch-Lehrpläne zu beteiligen, ein anderer konnte als Hochschullehrer das Deutschunterrichts-Konzept an die nächste Generation von Deutschlehrern vermitteln.
Weitere Informationen über das „Bremer Kollektiv“ enthält dessen Archiv, das von Professor Bodo Lecke (Erziehungswissentschaftliches Institut der Universität Hamburg) verwaltet wird.
Literatur
- Bremer Kollektiv (Hrsg.): Grundriss einer Didaktik und Methodik des Deutschunterrichts in Sekundarstufe I und II. Stuttgart: Klett 1974
- Bodo Lecke (Hg.): Der politisch-kritische Deutschunterricht des Bremer Kollektivs. Frankfurt am Main, 2008.
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