Delphi-Studie

Delphi-Studie

Die Delphi-Methode (auch Delphi-Studie, Delphi-Verfahren oder Delphi-Befragung genannt) ist ein systematisches, mehrstufiges Befragungsverfahren mit Rückkopplung bzw. eine Schätzmethode, die dazu dient, zukünftige Ereignisse, Trends, technische Entwicklungen und dergleichen möglichst gut einschätzen zu können.

Namensgeber der Methode ist das antike Orakel von Delphi, das seinen Zuhörern Ratschläge für die Zukunft erteilte.

Inhaltsverzeichnis

Vorgehensweise der Methode

Bei einer Delphi-Befragung wird einer Gruppe von Experten ein Fragen- oder besser: Thesenkatalog des betreffenden Fachgebiets vorgelegt. Die Experten (Expertise wird sehr breit definiert) haben in zwei oder mehreren sogenannten "Runden" die Möglichkeit, die Thesen einzuschätzen. Ab der zweiten Runde wird Feedback gegeben, wie andere Experten geantwortet haben, in der Regel anonym. Auf diese Weise wird versucht, den üblichen Gruppendynamiken mit sehr dominanten Personen entgegenzuwirken.

Die in der ersten Runde schriftlich erhaltenen Antworten, Schätzungen, Ergebnisse etc. werden daher aufgelistet und mit Hilfe z.B. einer speziellen Mittelwertbildung, Perzentilen oder Durchschnittswertberechnungen zusammengefasst und den Fachleuten anonymisiert erneut für eine weitere Diskussion, Klärung und Verfeinerung der Schätzungen vorgelegt. Dieser kontrollierte Prozess der Meinungsbildung erfolgt gewöhnlich über mehrere Stufen. Das Endergebnis ist eine aufbereitete Gruppenmeinung, die die Aussagen selbst und Angaben über die Bandbreite vorhandener Meinungen enthält.

Der Meinungsbildungsprozess enthält die Elemente: Generation, Korrektur / teilweise Anpassung oder Verfeinerung, Mittelwertbildung bzw. Grenzwertbildung, oft auch offene Felder für Erläuterungen. Störende Einflüsse werden durch die Anonymisierung, den Zwang zur Schriftform und der Individualisierung eliminiert. Die Strategie der Delphi-Methode besteht aus: Konzentration auf das Wesentliche, mehrstufiger, teilweise rückgekoppelter Editierprozess, sicherere, umfassendere Aussagen durch Zulassen statistischer fuzzyartiger Ergebnisse. Ein häufiges Problem: die Experten wechseln ihre einmal geäußerte Meinung in den folgenden Runden trotz Anonymität nicht, so dass der Zusatznutzen weiterer Runden oft klein ist.

Als Ergänzung der Delphi Methode kann z. B. die Cross Impact Matrix Method verwendet werden. Auch in der D2-Methode finden sich Elemente der Delphi-Methode wieder. Kombinationen mit Szenarien werden inzwischen ebenfalls erprobt. Aus Delphi-Ergebnissen lassen sich einfache Roadmaps ableiten, so dass auch diese Kombination sich zunehmender Beliebtheit erfreut.

Man findet diverse Formen der Delphi-Methode, die das Verfahren der Schätzung etwas variieren: die Standard- und die Breitband-Methode sind einige der Varianten. Inzwischen werden die meisten Verfahren elektronisch durchgeführt. Realtime Delphi-Verfahren (also Rückkopplung der Ergebnisse sofort) sind eine Variante, die nur elektronisch möglich ist.

Geschichte und Entwicklung

Die Delphi-Methode wurde - nach Vorarbeiten Ende der 50er - von der amerikanischen RAND-Corporation 1963 entwickelt[1] und wird seitdem häufig, wenn auch in variierter Form, für die Ermittlung von Prognosen/Trends sowie für andere Meinungsbildungen im Rahmen von Systemaufgaben angewendet. Mehr und mehr hat sich das Verfahren zu einem Bewertungsverfahren für Themen entwickelt, in dem festgestellt werden kann, ob es einen Konsens über das Thema gibt (bzw. ob dieser erreicht werden kann) oder nicht. In Deutschland war es in den 90er Jahren das damalige Bundesministerium für Forschung und Technologie (BMFT), das die ersten Delphi-Studien zur Entwicklung von Wissenschaft und Technik in Auftrag gab. Die Studien "Technologie am Beginn des 21. Jahrhunderts" (1991-1992) und "Deutscher Delphi-Bericht zur Entwicklung von Wissenschaft und Technik" (1993) wurden vom Fraunhofer-Institut für System- und Innovationsforschung (ISI) durchgeführt.

Kritik

Die Delphi-Methode versucht, durch das mehrstufige, manchmal auf Konsens angelegte Design, Fehleinschätzungen der Experten zu reduzieren. Dennoch lassen sich nicht alle Probleme der Expertenbefragung vermeiden, durch die Befragung mehrerer Personen entstehen weitere Einschränkungen.

  • Themen bzw. Thesen müssen zunächst formuliert werden, bevor sie das zweistufige Verfahren durchlaufen können. In manchen Fällen werden die Thesen zwar im Verfahren selbst erarbeitet, in der Regel sind hierzu jedoch weitere Methoden notwendig.
  • Die Thesen müssen kurz, prägnant, aber eineindeutig formuliert sein. Dies kann ein Vorteil sein, zwingt es doch die Teilnehmer zur Konzentration auf das Wesentliche. Methodisch können aber nur bedingt komplexe Themenstellungen bewertet werden.
  • Experten konzentrieren sich per Definition im wesentlichen auf ihren Expertise-Bereich. Die Interdependenzen mit anderen Entwicklungen, die v.a. bei breit angelegten Studien wichtig sind, werden häufig vernachlässigt oder müssen nachgearbeitet werden.
  • Werden relevante Rahmenbedingungen (z.B. soziale Entwicklungen bei der Prognose der technischen Entwicklung der Mobilkommunikation) beachtet, so kann man sich nicht darauf verlassen, dass die Befragten hierfür dieselbe zuverlässige Expertise besitzen wie in ihrem eigentlichen Expertisebereich.
  • Experten neigen dazu, die Geschwindigkeit von Entwicklungen zu überschätzen. Vor allem die Diffusionsgeschwindigkeit einer Innovation in der Gesellschaft wird schnell überschätzt.
  • Bei der Befragung einer Gruppe entsteht eine soziale Situation. Hierbei können durch Autorität, oder auch aufgrund persönlicher Grabenkämpfe, Verzerrungen entstehen. So ist nicht immer klar, ob ein Konsens (oder ein Dissens) tatsächlich nur auf dem intensiven Hinterfragen der eigenen Meinung beruht. Eine Anonymisierung in der Feedback-Runde kann diese Probleme i.A. nicht vollständig vermeiden. Bei der Verwendung von Fragebögen (E-Mail oder postalisch) wird das Delphi-Verfahren explizit dazu genutzt, diese Dominanzen zu umgehen. Bei Präsenzrunden ist dies nur bedingt möglich.

Standard-Delphi-Methode

Bei der Standard-Delphi-Methode werden mehrere Experten zur Schätzung eines Projektes - oder zur Prognostizierung - herangezogen, die sich nicht untereinander abstimmen dürfen. Der Prozess sieht wie folgt aus:

  • Ein Projektleiter bereitet eine Projektbeschreibung vor, in der die einzelnen Teil-Produkte aufgelistet sind und bereitet sie in einem Arbeitsformular vor.
  • Der Projektleiter stellt die Ziele des Gesamtprojektes vor und verteilt je ein Exemplar des Arbeitsformulars an jeden Experten. Es findet keine Diskussion der Schätzungen statt.
  • Jeder Experte schätzt die im Arbeitsformular enthaltenen Arbeitspakete. Keiner der Experten arbeitet mit einem anderen Experten zusammen.
  • Alle Arbeitsformulare werden vom Projektleiter gesammelt und ausgewertet.
  • Ergeben sich gravierende Diskrepanzen, so werden diese vom Projektleiter einheitlich auf allen Arbeitsformularen in Bezug auf die Abweichung nach oben oder unten kommentiert. Jedes Arbeitsformular geht anschließend an seinen ursprünglichen Bearbeiter wieder zurück.
  • Die Experten überdenken in Abhängigkeit von den Kommentaren ihre Schätzungen.
  • Die beschriebene Schleife wiederholt sich so lange, bis sich in den Schätzungen unabhängig voneinander (in einem Toleranzbereich) Konsens einstellt.
  • Von allen Schätzungen werden die Mittelwerte errechnet und als finale Schätzung präsentiert.

Das Fehlen jeglicher Diskussionen hat zwei Aspekte, die ein Projektleiter bewerten muss: Einerseits wird damit verhindert, dass sich aufgrund einer ungewollten Gruppendynamik Strömungen und Tendenzen in den Meinungen herausbilden, die unter Umständen gute Schätzungen verhindern. Auf der anderen Seite könnten Gruppendiskussionen dazu beitragen, Defizite im Know-how einzelner Experten und die damit verbundenen Fehleinschätzungen zu vermeiden.

Häufig werden Delphi-Umfragen schriftlich und getrennt durchgeführt, d. h., die Fragebogen werden den Experten per Brief oder Mail gesandt. Die einzelnen Experten sehen sich nie und wissen auch erst nach Abschluss aller Umfragerunden die Namen der anderen Befragten. Dieses Vorgehen ist zuverlässiger als das Versammeln aller Experten in einem Raum. Liegt der Schlussbericht einmal vor, werden in der Regel alle Experten und andere Interessierte zu einem Symposium eingeladen.

Breitband-Delphi-Methode

Bei der Breitband-Delphi-Methode werden mehrere Experten zur Schätzung eines Projektes herangezogen, die sich untereinander abstimmen dürfen. Der Prozess sieht wie folgt aus:

  • Ein Projektleiter bereitet eine Projektbeschreibung vor, in der die einzelnen Teil-Produkte aufgelistet sind und bereitet sie in einem Arbeitsformular vor.
  • Der Projektleiter stellt die Ziele des Gesamtprojektes vor und verteilt je ein Exemplar des Arbeitsformulars an jeden Experten. Es findet eine Diskussion der Arbeitspakete unter den Experten statt, in der die Sicht der einzelnen Experten den anderen Teilnehmern in Bezug auf das Gesamtprojekt und die Teilaufgaben vermittelt werden.
  • Anschließend schätzt jeder Experte die in seinem Arbeitsformular enthaltenen Arbeitspakete. Keiner der Experten arbeitet dabei mit einem anderen Experten zusammen.
  • Der Projektleiter fasst die einzelnen Schätzaussagen zusammen, er begründet allerdings die Angaben und Unterschiede nicht. Die Ergebnisse werden an alle Experten verteilt.
  • Der Projektleiter beruft ein neues Meeting mit den Experten zusammen und spricht die größten Diskrepanzen in den Schätzungen an. Jedes Arbeitsformular geht anschließend an seinen ursprünglichen Bearbeiter wieder zurück.
  • Die Experten überdenken in Abhängigkeit von den angeführten Abweichungen ihre Schätzungen.
  • Die beschriebene Schleife wiederholt sich so lange, bis sich in den Schätzungen unabhängig voneinander (in einem Toleranzbereich) Konsens einstellt.
  • Von allen Schätzungen werden die Mittelwerte errechnet und als finale Schätzung präsentiert.

Durch die Wechselwirkungen der Experten untereinander werden unterschiedliche Ansichten kommuniziert, was eine Konsens-Bildung beschleunigt. Vorteil dieser Methode ist zum einen die Anonymität der Schätzungen: Die Experten werden nicht mit ihren gravierenden Abweichungen der Schätzungen konfrontiert und können damit die Schätzaufwände in ihrem Sinne beeinflussen. Massive Abweichungen von Mittelwerten werden transparent. Nachteil dieser Methode ist die Gefahr einer Meinungsbildung durch die Gruppendynamik, in der eine unter Umständen notwendige gravierende Schätzabweichung dem Gruppenzwang unterliegt. Ein weiterer Nachteil ist, dass aufgrund mehrerer Iterations-Schleifen für die Meinungsbildung der gesamte Schätzaufwand recht umfangreich werden kann. Die Breitband-Delphi-Methode ist eine sinnvolle Technik für das Schätzen von großen Projekten, in denen komplexe Architekturen durch eine breite Expertenrunde mithilfe der Interaktion der Experten untereinander zu realistischen Werten führen kann.

Siehe auch

Literatur

  • Michael Häder (Hrsg.): Delphi-Befragungen. Ein Arbeitsbuch. Westdt. Verlag, Wiesbaden 2002, ISBN 3-531-13748-4.
  • Ammon, Ursula. (2005). Delphi-Befragung. Quantitative Organisationsforschung. Qualitative-Research.net, Online-Portal für qualitative Sozialforschung, Freie Universität Berlin. Online verfügbar auf [1]
  • Steinmüller, Karlheinz. (1997). Grundlagen und Methoden der Zukunftsforschung: Szenarien, Delphi, Technikvorausschau. Werkstattbereicht 21, SFZ. Online verfügbar bei Freie Universität Berlin, Arbeitsbereich Erziehungswissenschaftliche Zukunftsforschung, auf [2]
  • Thomas Seeger: Die Delphi-Methode. Expertenbefragungen zwischen Prognose und Gruppenmeinungsbildungsprozessen. Überprüft am Beispiel von Delphi-Befragungen im Gegenstandsbereich Information und Dokumentation. Hochschulverlag, Freiburg i. Br. 1979, ISBN 3-8107-2024-0 (=Dissertation, Freie Universität Berlin).
  • USAF Project RAND Report Delphi Assessment: Expert Opinion, Forecasting and Group Process (pdf)

Sekundärliteratur zur Delphi-Methode:

Delphi-Studien:

  • Höller, A.: Das 21. Jahrhundert - Das Problem von Voraussagen durch Delphi-Studien und dynamische langfristige Betrachtung, Kassel, 2002
  • Keller, A.: Elektronische Zeitschriften im Wandel - eine Delphi-Studie, Wiesbaden, 2001
  • Krauß-Leichert, U.:, Einsatz neuer Technologien im Bibliothekswesen - Eine Expertenbefragung, München, K. G. Sauer, 1990
  • Linstone, H. A.: The Delphi-Method - Techniques & Applications, Massachusetts, 1975
  • Rauch, W ; Wersig G.: Delphi-Prognosen in Information und Dokumentation München, 1978
  • Ullrich, K. und Wenger, C.: "Vision 2017 - Was Menschen morgen bewegt", Heidelberg, 2008, ISBN 978-3-636-01582-2
  • Wissen, D.: Bibliographie der Zukunft - Zukunft der Bibliographie - Eine Expertenbefragung mittels Delphi-Technik in Archiven und Bibliotheken in Deutschland, Österreich und der Schweiz, Berlin, 2007

Weblinks

Fußnoten

  1. vgl. Hüttner, Manfred:Markt- und Absatzprognosen (1982) S.29

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