Depersonalisierung

Depersonalisierung
Vergleichende Klassifikation nach
ICD-10   DSM-IV
F48.1 Depersonalisations- und Derealisationssyndrom 300.6 Depersonalisationsstörung
ICD-10 online DSM IV online

Allgemein bezeichnet Depersonalisation oder Depersonalisierung den Verlust bzw. die Veränderung des ursprünglichen, natürlichen Persönlichkeitsgefühls. Im speziellen Sinne versteht man unter Depersonalisation eine bestimmte Form von psychischer Störung, bei der die Betroffenen

  • ihre eigene Person (d. h. ihren Körper, ihre Persönlichkeit, ihre Wahrnehmung, ihre Erinnerung, ihr Denken, Fühlen, Sprechen oder Handeln) und/oder
  • Personen und Objekte innerhalb ihrer Umwelt

als verändert, fremd, nicht zu-sich-gehörig, leblos, fern oder unwirklich erleben. Entfremdungserlebnisse gegenüber der Umwelt werden auch als Derealisation bezeichnet.

In der ICD-10-Klassifikation ist die Störung dem neurotischen Formenkreis zugeordnet und trägt die Chiffre ICD-10 F48.1. In der DSM-Klassifikation trägt die Störung die Chiffre DSM 300.6 und wird unter die dissoziativen Störungen gerechnet.

Inhaltsverzeichnis

Geschichte

Der Begriff wurde im Jahre 1898 vom französischen Psychiater Ludovic Dugas eingeführt. Bereits 1872 wurden die Syndrome von Krishaber beschrieben.[1]

Symptome

Die Symptome der Depersonalisationsstörung (engl. Depersonalisation disorder) sind vielfältig und für die Betroffenen oft schwer in Worte zu fassen. Zu den Kernsymptomen[2] zählen:

  • Emotionale Taubheit: Betroffene klagen, dass sie nichts fühlen oder dass ihre Gefühle „flach“ oder unwirklich sind. Ihre Wahrnehmung von Personen oder Objekten „lässt sie oft kalt“, d. h. das Beobachten eines Sonnenuntergangs, die Wahrnehmung von Schmerz oder das Berühren ihres Partners löst keine Emotionen aus.
  • Veränderung des Körpererlebens: Der eigene Körper oder Teile des Körpers werden als verändert (leichter/schwerer, größer/kleiner), als leblos oder als nicht zu-sich-gehörig empfunden. Das eigene Spiegelbild oder die eigene Stimme können fremd wirken. Manche Betroffene haben das Gefühl, nur „ein Kopf ohne Körper“ oder nur „Augen ohne Körper“ zu sein.
  • Veränderung der visuellen Wahrnehmung: Viele Betroffene haben das Gefühl, „neben sich zu stehen“, so, als würden sie ihre Umwelt aus einer veränderten Perspektive (von weit weg, von außerhalb ihres Körpers, durch eine Kamera oder wie auf einer Filmleinwand etc.) sehen.
  • Gefühl der Automaten- oder Roboterhaftigkeit der eigenen Bewegungen oder mentalen Prozesse: Bewegungen können zwar problemlos willentlich und kontrolliert ausgeführt werden, doch die Betroffenen empfinden oft keine Zugehörigkeit einer bewusst ausgeführten Bewegungen zu einem eigenen willentlichen Entschluss, diese Bewegung auszuführen. Sie haben z. B. nicht das Gefühl, ihre Hand zu bewegen, sondern empfinden, dass die Hand – wie ferngesteuert – „sich bewegt“.
  • Veränderung von Gedächtnisprozessen: Erinnerungen können als blass, undeutlich oder fern wahrgenommen werden: ein nur wenige Stunden zurückliegendes Ereignis kann in der Erinnerung so empfunden werden, als läge es schon Jahre zurück. In traumatisierenden und extremen Stress-Situationen kann das Bewusstsein so weit eingeengt sein, dass das Erlebte im Gedächtnis nur fragmentarisch und zusammenhangslos abgespeichert wird. Dies kann dazu führen, dass Betroffene solche Erlebnisse später nicht verbal schildern können. Auch ein Déjà-vu-Erlebnis ist in der Regel von einem Gefühl der Entfremdung begleitet, da trotz des starken Eindrucks eines wiederholten Erlebens, detailliertere Gedächtnisinhalte, wie etwa über den Zeitpunkt oder den Zusammenhang des mutmaßlichen früheren Erlebnisses, fehlen.

Darüber hinaus können seltener auch die auditive oder taktile Wahrnehmung, das Geschmacksempfinden oder die Zeitwahrnehmung gestört sein. Weiterhin können Gefühle von „Gedankenleere“ bestehen, die Unfähigkeit, sich visuell oder auditiv etwas vorzustellen, oder eine erhöhte Selbstbeobachtung.

Die Dauer der Entfremdungserlebnisse kann von einigen Sekunden bis hin zu mehreren Stunden oder Tagen reichen.

Trotz der vielen unterschiedlichen Äußerungsformen ist allen Entfremdungserlebnissen gemeinsam, dass sie von den Betroffenen als unangenehm und beunruhigend empfunden werden. Die Betroffenen haben das Gefühl, dass etwas anders ist, als es vor dem Auftreten der Depersonalisationserlebnisse war, und anders ist, als es eigentlich sein sollte. Sie leiden oft unter Ängsten „verrückt zu werden“ oder auch nur solchen, von anderen „für verrückt gehalten zu werden“, wenn sie von ihren Erlebnissen erzählen.

Abgrenzung: Depersonalisationserfahrungen treten auch bei Gesunden auf, z. B. bei großer Müdigkeit, nach stressauslösenden oder lebensbedrohlichen Situationen, während spiritueller Erfahrungen (Meditation, Trance) oder unter dem Einfluss halluzinogener Drogen. Die unterschiedlichen Quellen konstatieren eine Lebenszeitprävalenz in der nicht-klinischen Bevölkerung zwischen 30 % bis 50 %. Von einer Störung im Zusammenhang mit Depersonalisation kann gesprochen werden, wenn bestimmte weitere Faktoren hinzukommen, wie z. B. eine erhöhte Intensität und Frequenz der Entfremdungserlebnisse oder der Zusammenhang mit einer anderen psychischen Störung (vgl. auch Abschnitt Sekundäre Depersonalisationsstörung).

Obwohl Betroffene u. U. auch ihre Umwelt verändert wahrnehmen, bleibt während der Depersonalisationserfahrung die Realitätsprüfung intakt, d. h., die Betroffenen haben – in Abgrenzung zu psychotischen Störungen, wie z. B. der Schizophrenie – keine Wahnvorstellungen, schätzen bei ihren alltäglichen Aufgaben sich und ihre Umwelt richtig ein und haben Kontrolle über ihr Handeln. Wenn Betroffene z. B. das Gefühl haben, Personen und Objekte wie in den Raum projizierte Hologramme zu sehen, so wissen sie dennoch immer, dass diese Personen und Objekte real und keine Hologramme sind. Man könnte es so ausdrücken: Die Depersonalisation verändert für die subjektive Sicht des Betroffenen die Qualität der Wahrnehmung, nicht aber die Qualität des Wahrgenommenen (d. h. der eigenen Person oder der Umwelt).

Primäre Depersonalisationsstörung

Die primäre Depersonalisation ist ein eigenständiges Störungsbild, das durch konkrete Bedingungen ausgelöst werden kann[3] und meist einen rezidivierenden und chronischen Verlauf zur Folge hat [4].

Zur genauen Diagnose siehe hier

Sekundäre Depersonalisationsstörung

Häufig tritt Depersonalisation als Symptom einer anderen psychischen Störung auf. Dazu zählen in erster Linie:

Depersonalisation als Symptom tritt ferner auch auf bei anderen psychischen Störungen wie:

und bei psychischen Ausnahmezuständen wie

sowie in Folge körperlicher Krankheiten oder Defekte wie

auf.

Depersonalisation tritt außerdem als Symptom der

auf. Die Depersonalisation als Folgeerscheinung der Schizophrenie ist allerdings scharf von den sonstigen Formen der Depersonalisation abzugrenzen, insofern der Betroffene bei der Schizophrenie keine Krankheitseinsicht hat (vgl. den Abschnitt Symptome/Abgrenzung oben, letzter Absatz).

Ursachen und Auslöser

Bei der Klärung der Ursachen im einzelnen Fall steht im Vordergrund die Frage, ob die Depersonalisationsstörung im Zusammenhang mit bzw. als Symptom einer anderen psychischen Störung auftritt (vgl. Abschnitt Sekundäre Depersonalisationsstörung). In einem solchen Fall wären zunächst die Ursachen für die Grundstörung zu untersuchen.

Wie bei anderen psychischen Störungen kann auch bei einer Depersonalisationsstörung meist kein einzelner auslösender Faktor als hinreichende Ursache benannt werden. In den meisten Fällen wird man von einer multifaktoriellen Genese ausgehen müssen. Versteht man Depersonalisation als die Reaktion der Betroffenen auf zurückliegende oder aktuelle Lebenssituationen, so muss bei diesen Betroffenen zusätzlich eine besondere Prädisposition für bewusstseinsverändernde Störungen bestehen, um eine Depersonalisationsstörung zu entwickeln, da andere Menschen auf vergleichbare Lebenssituationen nicht mit Depersonalisation reagieren.

Als Auslöser einzelner Depersonalisationserlebnisse oder -phasen gelten extrem stressauslösende und lebensbedrohende Erlebnisse (wie z. B. ein Autounfall). Ferner kommen auch Substanzmissbrauch (z. B. Cannabis, Ecstasy, Alkohol), emotionale Vernachlässigung, Adoleszenz, Prämenstruelles Syndrom sowie Schlafmangel in Betracht.

Erklärungsmodelle

Seit der Intensivierung der Forschung zur Depersonalisation in den 90er Jahren sind innerhalb verschiedener wissenschaftlicher Disziplinen Erklärungsmodelle entstanden[5]:

Neurobiologische Erklärungsansätze: Es liegt eine Störung in den Schaltkreisen im Gehirn vor, die dafür verantwortlich sind zu unterscheiden ob etwas Wahrgenommenes und Empfundenes auf die eigene Person zutrifft oder auf die Außenwelt. Die eigene Person wird der Außenwelt zugerechnet.

Psychologische Erklärungsansätze konzentrieren sich hauptsächlich auf Depersonalisationsstörungen im Anschluss an traumatische Erfahrungen und Erlebnisse von gefährlichen und extrem stressauslösenden Situationen. Unter extremem Stress erlaubt eine funktionale Einschränkung bestimmter Hirnfunktionen dem Körper, effektiver auf Gefahrensituationen zu reagieren und damit das physiologische Überleben zu sichern. Zu diesem Zweck kann auch eine Einschränkung der emotionalen Reaktionsfähigkeit angemessen sein, da sie verhindert, dass die einer solchen Situation Ausgelieferten von starken Gefühlen überwältigt und damit handlungsunfähig werden, und ihnen stattdessen erlaubt, „kaltblütig“ zu reagieren. Ebenso verringern die in solchen Situationen ausgeschütteten Stresshormone die Merkfähigkeit, so dass es zu lückenhafter und unzusammenhängender Erinnerung an solche Erlebnisse kommen kann. Der mit solchen Stressreaktionen einhergehende Bewusstseinszustand kann – muss aber nicht – als Depersonalisation empfunden werden.

Eine Erklärung für das Auftreten einer Depersonalisationsstörung wäre entsprechend, dass – z. B. im Zusammenhang einer posttraumatischen Belastungsstörung – der Körper nicht mehr zu seinem ursprünglichen Zustand zurückfindet. Er befindet sich dann immer soz. „im Alarmzustand“ und reagiert auf kleinste Reize mit Erregungszuständen, die von den Betroffenen wiederum als Depersonalisationserfahrungen empfunden werden.

Kognitionspsychologische Ansätze fokussieren bisher den Zusammenhang zwischen Depersonalisierungsstörung und einer Störung der mentalen Informationsverarbeitung. Neue Informationen werden normalerweise im Gehirn nicht isoliert abgespeichert. Jede neue Information wird zusammen mit einer emotionalen Bewertung in das Organisationssystem der bereits bestehenden Erfahrungen integriert. Dadurch entstehen im Langzeitgedächtnis sog. kognitiv-emotionale Schemata, die immer wieder durch neu dazukommende Information ergänzt und weiter ausdifferenziert werden.

Eine mögliche Erklärung für die Depersonalisationsstörung ist, dass bei den Betroffenen solche bereits vorhandenen Schemata nicht ausreichend aktiviert werden können, um neue Information zu integrieren. Die neue Information wird stattdessen isoliert im Langzeitgedächtnis abgespeichert und dadurch von den Betroffenen als „nicht zu ihrer Geschichte gehörig“ und damit als fremd oder unwirklich empfunden.

Behandlung

Bei einer sekundären Depersonalisationsstörung steht die Behandlung der Grunderkrankung im Vordergrund.

Siehe auch

Einzelnachweise

  1. Psychiatrie und Psychotherapie, März 2005, S. 1354
  2. Die Einteilung wurde übernommen von Sierra M, Berrios GE (2001): The phenomenological stability of depersonalization: comparing the old with the new. The Journal of nervous and mental disease, 189(9):629–36. Zusammenfassung. Zitiert nach Lukas (2003)
  3. Dissoziative Störungen und Konversion, Fiedler, 2001, S. 265f
  4. Das Gefühl ein Nobody zu sein, Berit Lukas, 2003, S. 111
  5. Die Darstellung der genannten Erklärungsansätze orientiert sich weitgehend an Lukas (2003), S. 111ff

Literatur

  • Abugel Simeon: Feeling Unreal. Oxford University Press, 2006, ISBN 0-19-517022-9.
  • Berit Lukas: Das Gefühl, ein No-Body zu sein. Junfermann, Paderborn 2003, ISBN 3-87387-534-9.
  • Uwe Wolfradt: Depersonalisation – Selbstentfremdung und Realitätsstörung. Kölner Studien Verlag, 2003, ISBN 3-936010-04-8.
  • Katharina Maria Dornbusch: Amnesie und Depersonalisation bei der Dissoziativen Identitätsstörung. Der Andere Verlag, 2002, ISBN 3-89959-031-7.
  • Joachim-Ernst Meyer: Depersonalisation. Wissenschaftliche Buchgesellschaft., Darmstadt 1968.

Weblinks

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