Der Lesende Klosterschüler

Der Lesende Klosterschüler

Sansibar oder der letzte Grund ist ein 1957 erschienener Roman des Schriftstellers Alfred Andersch.

Inhaltsverzeichnis

Inhalt

Im Herbst 1937 kommen der kommunistische Funktionär Gregor mit einem Auftrag zu illegaler politischer Arbeit und die Jüdin Judith auf der Flucht vor den Nürnberger Rassengesetzen in die kleine Ostsee-Hafenstadt Rerik. Vor Ort verbindet sich ihr Schicksal mit dem Fischer Knudsen und dessen Schiffsjungen sowie dem Pfarrer Helander. Helander ist bestrebt, eine als „entartete Kunst“ bedrohte Holzplastik ins Ausland - nach Schweden - zu retten.

Um diese Figur, den „Lesenden Klosterschüler“, finden sich die fünf Menschen trotz anfänglichen Misstrauens und unterschiedlicher Interessen zu einer Gruppe zusammen, die vorerst die Selbstbehauptung unter Bedingungen absoluten Terrors ermöglicht.

Gregor, Knudsen und der Junge bewerkstelligen die Rettung Judiths und des Klosterschülers nach Schweden, nehmen jedoch selbst die Gelegenheit zur Flucht nicht wahr, sondern kehren nach Deutschland zurück, einem ungewissen Schicksal entgegen. Der todkranke Helander widersetzt sich der Verhaftung, seine Erschießung willentlich herbeiführend.

Hintergrund

Die Erzählung konzentriert sich auf die Handlungen und Empfindungen der bedrohten und verfolgten Gruppe. Der Terror wird nur andeutungsweise in Spitzeln und Beamten personifiziert, er ist allgegenwärtig und namenlos, so dass auch nie etwa von Nationalsozialisten die Rede ist, sondern immer nur von „den Anderen“.

Der Titel „Sansibar oder der letzte Grund“, der in nicht geringem Maße den Erfolg des Buches mitbegründete und sprichwörtlich wurde, bezieht sich auf einen Tagtraum des Jungen, in dem Sansibar jedoch weniger ein konkretes Ziel ist als vielmehr der utopische Ort einer besseren Zukunft.

Der Lesende Klosterschüler ist nach einer Plastik von Ernst Barlach gestaltet. Die Originalplastik Barlachs ist ca. 1,15 Meter groß und ließe sich somit nicht so einfach wie in dem Roman geschildert (auf dem Rücken) transportieren.

Das Rerik des Romans ist eine Mischung aus den realen Städten Rerik und Wismar.

Die Figuren

Die sechs Figuren - fünf Menschen, eine Plastik - repräsentieren auf typische Weise ihre jeweilige Generation, Gesellschaftsschicht und Weltanschauung. Ihr solidarisches Verhalten in Zeiten des Terrors beweist im Nachhinein die Möglichkeit einer Bündelung aller guten Kräfte, wie sie eben zur Verhinderung des Nationalsozialismus nicht zustande gekommen war.

Gregor. Gregor ist der junge intellektuelle Kommunist, der auf Dauer - und insbesondere nach der Niederlage - einem Zentralkomitee kein bedingungsloses Vertrauen entgegenbringen kann. „Alles muss neu geprüft werden...“ Seinen Auftrag, in Rerik den Widerstand der KPD zu reorganisieren, gibt er zugunsten einer selbstgestellten Aufgabe auf, die schöne Jüdin und den geheimnisvollen Klosterschüler zu retten. Aus der gelungenen Aktion schöpft er den Mut, die Sicherheit seiner eigenen Person auszuschlagen und in Deutschland zu bleiben.

Knudsen. Heinrich Knudsen ist als Fischer der Arbeiter schlechthin. Kommunist ist er gleichsam von Natur aus; Theorie und Ideologie, wie er sie von Gregor repräsentiert findet, machen ihn nicht satt. Knudsens Auffassungen und Ansichten sind erd- und ortsverbunden, er muss und will mit den Menschen auskommen, unter denen er lebt. Er denkt langsam, und an den Ergebnissen seiner Überlegungen hält er fest. Eine schönere Form seiner Sturheit ist die Treue zu seiner Frau Bertha; als Debile ist sie unter den neuen Machthabern in Lebensgefahr, doch Knudsen, der jederzeit die Möglichkeit zur Flucht hat, wird sie nicht im Stich lassen.

Der Junge. Der Schiffjunge von Knudsen ist ein Fünfzehnjähriger, der am besten weiß, was er nicht will: so sein wie die Erwachsenen, in einem Kaff wie Rerik versauern. Er kann seinen Vater gut verstehen, der den Tod auf offener See gefunden hat, betrunken wie die Leute sagen, der Junge aber deutet seinen Tod als Ausbruchsversuch. Die Verwicklung in die Rettung Judiths und des Klosterschülers kommt seiner Abenteuerlust entgegen; bewussten Widerstand gegen „die Anderen“ verbindet er damit nicht. Die Gelegenheit zur Flucht nach Schweden lässt er vorübergehen, was ein Anzeichen dafür ist, dass im Laufe der Handlung des Romans ein Wandel, ein Reifungsprozess stattfindet. So verändert sich die Persönlichkeit des Jungen vom kindlich-verantwortungslosen, verträumten Jugendlichen zum jungen Erwachsenen, der bereit ist, seinen gesellschaftlichen Status zu akzeptieren und Verantwortung zu übernehmen.

Helander. Pfarrer Helander ist der typische Bürger, Weltkriegsveteran, konservativ und deutschnational; als Protestant neigt er zur Gewissensforschung, permanenter Glaubenskrise und rigorosen ethischen Urteilen. Die Haltung der Amtskirchen im Dritten Reich geißelt er: „Die Schande der Kirche war unermesslich.“ Seine Abneigung gegen den Nationalsozialismus ist weniger politisch motiviert als vielmehr allgemeinen Auffassungen von Anstand und Gerechtigkeit geschuldet.

Judith. Judith Levin ist die typische wohlbehütete Tochter aus den „besseren Kreisen“, verwöhnt und lebensunerfahren. Mit den Judenverfolgungen der Nazis und dem Freitod ihrer Mutter bricht für sie eine Welt zusammen. Umstellt von eingebildeten, potenziellen und tatsächlichen Feinden findet sie in Gregor, Knudsen und Helander instinktiv vertrauenswürdige Leidensgenossen. Ihre Flucht über Rerik nach Schweden ist zugleich ihr Eintritt in die Lebenswirklichkeit.

Der Lesende Klosterschüler. Bertolt Brecht schrieb über eine ähnliche Plastik Barlachs, den Buchleser: „Ein sitzender Mann, vornübergebeugt, in schweren Händen ein Buch haltend. Er liest neugierig, zuversichtlich, kritisch. Er sucht deutlich Lösungen dringender Probleme im Buch. Goebbels hätte ihn wohl eine ‚Intelligenzbestie‘ genannt. Der Buchleser gefällt mir besser, als Rodins berühmter ‚Denker‘, der nur die Schwierigkeit des Denkens zeigt. Barlachs Plastik ist realistischer, konkreter, unsymbolisch.“ (B. Brecht, Gesammelte Werke, Band 19, Frankfurt 1967, S. 514.)

Die erzählerischen Mittel

Die Erzählung ist in 37 Kapitel eingeteilt, die sich nach dem Wechsel der Personenkonstellation richten, aber immer in dem Schema Junge - andere Person - Junge - andere Person abläuft. Der Aufbau ähnelt also Auftritten in einem Theaterstück. Die erzählte Zeit beträgt 27 Stunden.

Typisch für Andersch ist die Darstellung der Ereignisse aus der Sicht der jeweiligen Beteiligten, auch in ihrer charakteristischen Sprache, jedoch nicht in Ich-Form, sondern in der Personalen Erzählsituation. Bei dem Jungen ist auffällig, dass seine Gedanken in einem so genannten Bewusstseinsstrom erzählt werden: Seine Gedanken werden durch Assoziationen verknüpft. Die Sprache ist den jeweiligen Personen angepasst, wie zum Beispiel bei Judith, die ein gehobenes Deutsch, und Knudsen, der eher eine Umgangssprache spricht.

Ebenfalls der Perspektive der Figuren entnimmt Andersch eine ebenso einfache wie eindrucksvolle Symbolik: Das Tagtraum-Sansibar des Jungen; die Schrift an der Wand des Pastors Helander; die Bedrohlichen Türme, die die Flüchtlinge und Widerstandskämpfer zu beobachten scheinen; die Offene See, die für alle Personen die Freiheit bedeuten kann.

Rezeption

Im Unterschied zu Anderschs erstem, äußerst umstrittenem Buch Die Kirschen der Freiheit wurde Sansibar oder der letzte Grund durchweg positiv aufgenommen. Eine Beschreibung und Analyse des Nationalsozialismus und seiner Helfershelfer strebte das Buch nicht an.

Man muss berücksichtigen, dass Andersch im Jahre 1957 zu deutschen Lesern sprach, die den nationalsozialistischen Terror aus eigener Anschauung kannten und zumeist als Mitläufer begleitet hatten.

Sansibar galt und gilt wegen seiner versöhnlichen Tendenz und auch wegen seiner Einfachheit und überdies wegen der Identifikations-Figur des Jungen als besonders geeignete Lektüre für jugendliche Leser.

1987 verfilmte Bernhard Wicki den Roman.

Literatur

  • Alfons Bühlmann: Zu der Faszination der Freiheit. Berlin 1973
  • Kai Metzger: Alfred Andersch „Sansibar oder der letzte Grund“. Stuttgart: Ernst Klett 2001. ISBN 3-12-928091-X
  • Friedhelm Niggemeier: Auf den Spuren von Alfred Andersch und Ernst Barlach – ‚Sansibar oder der letzte Grund‘ und ‚Der Lesende Klosterschüler‘. Börgerende: Godewind 2005. ISBN 3-938347-64-3
  • Reiner Poppe: Alfred Andersch: Sansibar oder der letzte Grund. Königs Erläuterungen und Materialien (Bd. 420). Hollfeld: Bange Verlag 2004. ISBN 978-3-8044-1802-8

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