Deutsche Rechtschreibung im 19. Jahrhundert

Deutsche Rechtschreibung im 19. Jahrhundert

Im 19. Jahrhundert gab es noch keine für den gesamten deutschen Sprachraum verbindliche Rechtschreibung. 1876 fand die I. Orthographische Konferenz statt, auf der richtungweisende Beschlüsse zur Reform und Vereinheitlichung der deutschen Rechtschreibung gefasst wurden. Deren Umsetzung war jedoch schwierig, nicht zuletzt wegen prominenten Widerstands (u. a. Reichskanzler Otto von Bismarck) gegen die beschlossenen Neuerungen. So wichen die in den nächsten Jahren erlassenen Schulverordnungen Österreichs, Bayerns und Preußens deutlich voneinander ab. Das ab 1880 in mehreren Auflagen erschienene Wörterbuch Konrad Dudens jedoch gewöhnte die Öffentlichkeit an die 1876 favorisierten Schreibweisen. So konnte die Orthographische Konferenz von 1901 endlich den meisten Beschlüssen von 1876 allgemeine Gültigkeit verschaffen und sogar darüber hinausgehen.

Inhaltsverzeichnis

Die Rechtschreibung der vierten Auflage des Duden (1895)

Der folgende Text enthält teilweise Zitate aus dem Duden von 1895. Die Schreibung dieser Zitate, außer den Wortbeispielen, erfolgen hier in der aktuellen Rechtschreibung.

Th

Folgende acht ursprünglich deutschen Wörter müssen mit "th" geschrieben werden:

Thal, Thon, Thor (der und das), Thran, Thräne, thun und Thür

sowie deren Ableitungen.

Beispiel: Thaler, thönern, thöricht, thranig, thränen, thätig, Unterthan

Weitere Wörter und deren Ableitungen können mit "th" oder "t" geschrieben werden, wobei die Schreibweise mit "t" favorisiert wird:

Thau/Tau, Thee/Tee, Theer/Teer, Theil/Teil, theuer/teuer, Thibet/Tibet, Thier/Tier

Der F-Laut und ph

Es gab auch ursprünglich deutsche Wörter mit ph:

Epheu, Rudolph, Westphalen

In "vollständig eingebürgerten" Fremdwörtern stand auch ph:

Elephant, Elphenbein, Phasan und Sopha

Diese Schreibweisen waren aber schon 1895 veraltet und als solche nur noch teilweise im Duden aufgenommen.

Weitere wichtige Wörter mit abweichender Schreibung

  • Litteratur (in Bayern: Literatur)
  • Wage (heute: Waage)

Über die S-Laute

Wo die Rechtschreibung ein einfaches oder doppeltes s fordert (also kein ß), schreibe man in der Regel ſ.

Beispiel: ſehen, Vaſe, wachſen, Erbſe; Waſſer, ich laſſ’ (aber: Laß das!); Drechſler (wegen drechſeln), Baſler (wegen Baſel).

Am Wort- und Silbenauslaut schreibe man s.

Beiſpiel: das, was, Haus, Wachs; Dresden, Potsdam, Weihnachtsmann.

In betreff des S-Lautes in Verbindung mit anderen Konsonanten merke man folgendes:

Vor t und p steht in der Regel ſ.

Beispiel: faſten, Knoſpe, Kiſte, Pfoſten, Haſt, Luſt, Roſt, er lieſt, reiſt, toſt, Haſpe, Weſpe, Riſpe, knuſpern; aber: Wachstuch, Weihnachtstanne (da Silbenauslaut)

Ebenso in Fremdwörtern.

Beiſpiel: Diſtanz, Deſpot.

s steht im Silbeninlaut vor k.

Beispiel: grotesk, brüsk.

Nur bei Zusammensetzungen, deren erster Teil auf s ausgeht und leicht als ein selbständiger Bestandteil der Zusammensetzung erkennbar ist, bleibt dieses s auch vor t und p.

Beispiel: distribuieren, disputieren, transportieren.
Dagegen: abſtrakt, abſtrus, Abſtinenz.

Bei „tranſpirieren“ und ähnlichen ist das s des ersten Bestandteils (trans) vor dem ſ das zweiten (ſpirieren) ausgefallen.

In Verbindung mit einem zweiten s steht immer ſſ, wenn kein ß stehen muss.

Beispiel: weſſen, Diſſonanz (obwohl dis + ſonanz).

Ein s kann niemals doppelt auftreten.

ſ bleibt auch bei der Worttrennung am Zeilenende erhalten.

Beispiel: Waſ-ſer, weſ-ſen.

Vor anderen Konsonanten als p, ſ und t gehört der S-Laut in der Regel zur ersten Silbe und wird daher mit s bezeichnet.

Beispiel: Maske, Boskett, Rekonvalescent, Diskus

Ist aber aus der Etymologie oder den Lautgesetzen erkennbar, dass der S-Laut zur zweiten Silbe gehört, so schreibt man ihn auch hier mit ſ

Beispiel: proſkribieren, obſkur.

Zusammentreffen dreier gleicher Konsonanten

Nach der preußischen Regel schreibt man:

dennoch, Dritteil, Mittag, Brennessel, Schiffahrt

In allen übrigen Wörtern, in welchen durch Zusammensetzung drei gleiche Konsonanten zusammentreffen, behaupten alle drei ihren Platz.

Beispiel: Betttuch, Schwimmmeister

Das bayerische Regelbuch schreibt vor, dass in allen Wörtern, in denen durch Zusammensetzung drei gleiche Konsonanten zusammenstoßen würden, eins auszulassen sei.

Beispiel: Schalloch, Bettuch, Kammacher
aber: Rückkehr, Schutzzoll

Über die Worttrennung am Zeilenende

Für die Worttrennung am Zeilenende lautet die Hauptregel: Man trennt nach Sprechsilben, d.h. nach der Aussprache, nicht nach der Ableitung.

Beispiel: lie-ben, nicht lieb-en; En-dung, nicht End-ung.

Abweichend von dieser Regel werden zusammengesetzte Wörter nach ihren Bestandteilen zerlegt, auch wenn diese Teilung der Aussprache nicht gemäß ist

Beispiel: war-um, vor-aus, her-ein, be-ob-ach-ten, voll-enden, Inter-esse, Atmo-sphäre, Mikro-skop, Di-stinktion, Dis-put.

Als besondere Regeln merke man:

  1. Steht nur ein Konsonant zwischen zwei Vokalen, so kommt er, wenn nicht, wie in den obigen Beispielen her-ein, Inter-esse etc., Zusammensetzung vorliegt, immer auf die zweite Zeile.
    Beispiel: tre-ten, le-sen, nä-hen, bü-ßen
    Die Konsonantenverbindungen, welche nur einen Laut bezeichnen: ch, sch, ph, th, können nicht getrennt werden und kommen daher ebenfalls auf die zweite Zeile
    Beispiel: Bräu-che, lö-schen, Or-thogra-phie
    Ebenso ist dt zu behandeln, wo es nur einen Laut bildet
    Stä-dte, Verwan-dte
  2. Stehen mehrere Konsonanten im Inlaut, so kommt der letzte auf die zweite Zeile
    Beispiel: här-ten, Las-ten (auch Laſ-ten), Was-ser, klop-fen, Ach-sel, An-ker, Fin-ger, Hoffnun-gen
    ck wird in k-k aufgelöst:
    hak-ken
    Steht vor pf noch ein r oder m, so gehört pf zur zweiten Zeile
    däm-pfen, Kar-pfen
    Ebenso steht nach vorhergehenden Konsonanten st auf der zweiten Zeile
    Für-sten, gün-stig, schwül-stig
    (Trenne nie S und T, denn es tut ihnen furchtbar weh!
    ST wird nicht getrennt, auch wenn das ganze Schulhaus brennt!)
    Bayern und Württemberg lassen pf, Bayern auch sp, st, ck und ß stets ungetrennt auf die zweite Zeile treten. Beide lassen ng stets ungetrennt auf der ersten Zeile
    Fing-er, Hoffnung-en

Über den Bindestrich

(nach dem preußischen Regelbuch)

Wird ein zu mehreren aufeinander folgenden Zusammensetzungen gehörendes Wortglied nur einmal gesetzt, so tritt an den übrigen Stellen statt seiner ein Bindestrich ein.

Beispiel: Feld- und Gartenfrüchte, Vokallänge und -kürze (in diesem Falle wird klein weitergeschrieben)

Der Bindestrich tritt außerdem ein

  • in Zusammensetzung von Eigennamen und in Adjektiven, welche von solchen gebildet sind
Jung-Stilling, Reuß-Greiz, niederschlesisch-märkische Eisenbahn
  • in unübersichtlichen Zusammensetzungen
Oberlandesgerichts-Präsident, Staatsschuldentilgungs-Kommission, das Für-sich-selbst-sein

Anmerkung: Auch sonst lässt es zuweilen die Rücksicht auf die Deutlichkeit der Schrift wünschenswert erscheinen, den Bindestrich zu gebrauchen.

Beispiel: Schluss-s, Dehnungs-h, Erd-Rücken zum Unterschied von Erdrücken u.ä.

Über den Apostroph

(nach dem preußischen Regelbuch)

  • Wenn Laute, die man gewöhnlich bezeichnet, unterdrückt werden, so bezeichnet man in der Schrift ihre Stelle durch einen Apostroph.
Ich lieb' ihn. Das leid' ich nicht. Heil'ge
Jedoch ist in der gewöhnlichen prosaischen Darstellung eine solche Verstümmelung der Wortform zu vermeiden, ausgenommen etwa im Pronomen "es"
ist's, geht's
Wenn die Präposition mit dem von ihr regierten Artikel verschmolzen wird, gebraucht man den Apostroph nicht
am, beim, unterm, zum, ans, aufs, ins
  • Bei Eigennamen ist es nicht erforderlich, das s des Genitivs durch einen Apostroph abzutrennen
Ciceros Briefe, Schillers Gedichte, Homers Ilias
Hingegen wird bei Eigennamen, welche den Genitiv auf s nicht bilden können, das Rektionsverhältnis durch den Apostroph bezeichnet
Voß' Louise, Demosthenes' Reden

Über das Trema

Ä, Ö, Ü statt Ae, Oe, Ue

Das Trema braucht in der deutschen Schrift nur ganz vereinzelt angewendet zu werden. Es ist überall unzulässig, wo ein Missverständnis nicht möglich ist. So ist es nie anzuwenden zur Trennung von a und e, o und e, u und e, auch nicht am Anfang großgeschriebener Wörter. Denn da hier der Umlaut nach den amtlichen Regelbüchern statt durch Ae, Oe, Ue nur noch durch Ä, Ö, Ü bezeichnet werden darf, so muss Ae, Oe, Ue stets zweisilbig sein, und es kann z. B. Aeronaut nur viersilbig gelesen werden.

Auch sonst wendet man das Trema nur an, wo man glaubt, der unrichtigen Aussprache des Geschriebenen vorbeugen zu müssen, z. B. etwa in Aï (Faultier) oder Alëuten, nicht aber bei Rhomboid, Atheist, Wörtern, die nicht leicht jemand falsch, d.h. zweisilbig, aussprechen wird. In amtlichen Regelbüchern wird das Trema überhaupt nicht erwähnt.

Kommaregeln

Der Duden von 1895 macht zu Kommaregeln keine Aussage; da diese in der Reform der deutschen Rechtschreibung von 1901 aber nicht geändert wurden, können die Regeln aus dem Duden von 1919 verwendet werden, die im Artikel Deutsche Rechtschreibung im 20. Jahrhundert zusammengefasst sind.

Siehe auch


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