Die Letzten Tage der Menschheit

Die Letzten Tage der Menschheit

Die letzten Tage der Menschheit ist eine „Tragödie in 5 Akten mit Vorspiel und Epilog“ von Karl Kraus. Sie ist in den Jahren 1915–1922 als Reaktion auf den Ersten Weltkrieg entstanden. In einer Mischung aus Dokumentardrama und surreal-phantastischen Mitteln wird in über 200 nur lose zusammenhängenden Szenen die Unmenschlichkeit und Absurdität des Krieges dargestellt.

Inhaltsverzeichnis

Entstehungsgeschichte

Nach Ausbruch des Ersten Weltkriegs schwieg Karl Kraus zunächst öffentlich, seine Zeitschrift Die Fackel erschien auch nach der üblichen Sommerpause nicht. Erst am 19. November 1914 hielt er in seiner 80. Vorlesung die „Anrede“ In dieser großen Zeit, die auch in der kurz darauf erscheinenden Nummer von Die Fackel erschien. Darin wandte er sich entschieden gegen den Krieg.

Vielleicht bedingt durch seine Versöhnung mit Sidonie Nádherny von Borutin im Sommer 1915 äußerte sich Kraus’ Kriegsgegnerschaft auch in verstärkter Produktivität. Zwischen 5. und 22. Juli stellte er den Band Untergang der Welt durch schwarze Magie aus Artikeln der Fackel zusammen. Ab 26. Juli arbeitete er an dem Weltkriegsdrama, das ab Oktober den Titel Die letzten Tage der Menschheit trug. Einzelne Szenen veröffentlichte er in Nummern der Kriegs-Fackel, viele andere Texte der Fackel sind Vorstufen zu Szenen im Drama, Fackel und Drama sind ja im wesentlichen zeitgleich entstanden. Wesentliche Teile entstanden bis Sommer 1917, vor allem während Kraus’ Aufenthalten in der Schweiz.

Über ein Drittel des endgültigen Textes ist aus Zitaten montiert: aus Zeitungen, militärischen Tagesbefehlen, Gerichtsurteilen u.a. Kraus schrieb darüber im Vorwort: Die unwahrscheinlichsten Taten, die hier gemeldet werden, sind wirklich geschehen; ich habe gemalt, was sie nur taten. Die unwahrscheinlichsten Gespräche, die hier geführt werden, sind wörtlich gesprochen worden; die grellsten Erfindungen sind Zitate. Die erste Fassung des Dramas ist noch wesentlich geprägt von Kraus’ konservativer Haltung, die er bis in die zweite Hälfte des Weltkriegs beibehielt. Er war ein Verehrer des Thronfolgers Franz Ferdinand gewesen, schätzte die Habsburger und das österreichische Militär hoch. In dieser Phase machte er vor allem die liberale Presse, besonders die Neue Freie Presse, hauptverantwortlich für den Krieg. Erst ab etwa 1917 löste er sich von dieser Sicht und näherte sich an die Sozialdemokratie an. Neben der Presse machte er jetzt auch die Habsburger, unverantwortliche Politiker und Militärs für den Krieg verantwortlich. Besonders scharf griff er Wilhelm II. an, dem er – gestützt auf Erinnerungen seiner Zeitgenossen an ihn – Inkompetenz, Größenwahn und Sadismus vorwarf.

Erscheinen konnte das Werk erst nach Aufhebung der Zensur. Noch im Dezember 1918 erschien der Epilog als Sonderheft der Fackel, weitere Teile (mit jeweils zwei Akten) folgten im April, August und (wahrscheinlich) September 1919. Diese sogenannte Aktausgabe erreichte mit Nachdrucken eine Auflage von 6000 Exemplaren.

Bedingt durch seine stark veränderte Einstellung zu den Habsburgern und zum Militär, und auch durch erst nach dem Krieg zugängliche Informationen, veränderte Kraus in den nächsten Monaten die Letzten Tage wesentlich. Rund 50 Szenen kamen neu hinzu, während nur eine gestrichen wurde. Die Szenenabfolge wurde völlig verändert. Die Dialoge zwischen dem Optimisten und dem Nörgler wurden wesentlich ausgebaut, ebenso die deutschlandkritischen Bereiche. Die Verehrer der Reichspost wurden eingefügt, um neben der liberalen Neuen Freien Presse nun auch die christlich-soziale Reichspost bloßzustellen.

Die sogenannte Buchausgabe erschien am 26. Mai 1922 in einer Auflage von 5000 Stück, eine zweite, gleich hohe Auflage folgte im Dezember. Die dritte Auflage 1926 von 7000 Stück blieb bis zum Tode Kraus’ lieferbar.

Das Werk

Das Drama hat keine fortlaufende Handlung, sondern besteht aus über 200 mehr oder weniger kurzen Szenen, die eine Vielzahl von realen und fiktiven Figuren – von den Kaisern Franz Joseph und Wilhelm II. bis zum „einfachen Soldaten, der namenlos ist“ – in den verschiedensten Situationen des Kriegsalltags zeigen.

Kaum eine Szene führt den Leser in die Nähe der Kampfhandlungen. Die wahren Gräuel des Krieges sieht Kraus im Verhalten jener Menschen, die in ihrer Oberflächlichkeit den Ernst und die Schrecken des Krieges nicht wahrnehmen – und auch nicht wahrhaben wollen –, sondern sich fernab vom eigentlichen Kriegsschauplatz an ihm bereichern und ihn mit falschen Phrasen beschönigen: Journalisten, Händler, hohe Militärs, die sich fern vom Schlachtfeld im Ruhm ihres militärischen Ranges baden. Kraus zeigt und entlarvt die Phrasen und Worthülsen („Der Krieg ist ausgebrochen“ – offenbar unabwendbar wie eine Naturkatastrophe), und er zeigt, wer am Krieg profitiert. In nuce findet es sich im Satz des Nörglers, Kraus' Alter Ego in dem Werk: Jawohl, es handelt sich in diesem Krieg!

Die Technik von Kraus’ Satire besteht zu einem großen Teil darin, dass er Zitate seiner Zeitgenossen – die er teils wörtlich, teils nur dem Tonfall nach zitiert – in den Dialogen der Szenen so montiert, dass deren gedankenlose Rücksichtslosigkeit, Dummheit und Verlogenheit offenbar wird: Zum Beispiel im feinen Ton, den wir selbst gegenüber den Feinden anschlagen, die doch die größte Pakasch sind auf Gottes Erdboden (I, 11).

Bestimmte besonders markante Zeitgenossen – etwa Wilhelm II. oder den „Herrn der Hyänen“ (Moriz Benedikt) – baute Kraus nahezu originalgetreu in das Drama ein. Der Kriegsberichterstatterin Alice Schalek setzte er im Drama ein Schandmal; seitdem erinnert man sich ihrer als der Schalek („Ich möchte nämlich wissen, was haben Sie gefühlt, als Sie den Riesenkoloss mit so viel Menschen im Leib ins nasse, stumme Grab hinabgebohrt haben“, II 31).

Das Drama endet in einer apokalyptischen Szene, in der Auslöschung der Menschheit durch den Kosmos. Negativer Held des Kosmos ist nicht eine oder mehrere einzelne Figuren, sondern die ganze Menschheit, die sich des Lebens auf der Erde für unwürdig erwiesen hat, indem sie durch schlampigen Umgang mit dem, was ihr gegeben war, solche Grausamkeiten zugelassen hat.

Ich habe es nicht gewollt“ – der letzte Satz Gottes im Drama – kann als Anklage gelesen werden, ist aber jedenfalls eine Anspielung auf eine entsprechende Äußerung Wilhelm II.

Aufführungsgeschichte

Karl Kraus selbst hatte das Stück zunächst für unspielbar erklärt. Im Vorwort zur Buchausgabe schrieb er: Die Aufführung des Dramas, dessen Umfang nach irdischem Zeitmaß etwa zehn Abende umfassen würde, ist einem Marstheater zugedacht. Theatergänger dieser Welt vermöchten ihm nicht standzuhalten. Es gab einige Aufführungen des Epilogs. Die erste war am 4. Februar 1923 in Wien, an der Kraus selbst mitwirkte. Er hat eine Bühnenfassung erarbeitet, ohne Vorspiel und Epilog, ohne die meisten Nörgler-Szenen, und mit nur einem Drittel der restlichen Szenen. Daraus hat er bis 1930 häufig in seinen Vorlesungen vorgelesen. Als jedoch bekannte Regisseure wie Max Reinhardt oder Erwin Piscator die Letzten Tage inszenieren wollten, lehnte er ab, wahrscheinlich aus Angst, sie würden aus dem Stück ein Unterhaltungsspektakel machen. In der Nacht vom 15. auf den 16. Jänner 1930 kam es zur einzigen deutschen Aufführung des Epilogs, in Berlin am Theater am Schiffbauerdamm durch Heinrich Fischer, unter anderem mit Paul Morgan und Theo Lingen, Musik von Hanns Eisler.

Lesungen und Aufführungen des Epilogs gab es nach dem Zweiten Weltkrieg bereits 1945 in New York, Zürich und Wien. 1947 gab es eine Hörspielversion von Radio Frankfurt, 1957 eine Leseaufführung in Ostberlin.

Da die Rechteverwalter Kraus’ Diktum von der Unaufführbarkeit wörtlich nahmen, konnte die erste szenische Aufführung erst 1964 bei den Wiener Festwochen unter der Regie von Leopold Lindtberg nach einer Bühnenfassung von Heinrich Fischer stattfinden. Seither gab es etliche Inszenierungen, so 1974 in Basel, 1980 in Wien, 1983 in Edinburgh, 1988 in Amsterdam und Lyon, 1990 in Turin, inszeniert von Luca Ronconi.

Zur Bekanntheit des Stückes im deutschen Sprachraum haben die Schallplattenaufnahmen von Helmut Qualtinger (1962–72) wesentlich beigetragen. 1974, zum 100. Geburtstag Kraus’, hat der ORF die Letzten Tage vollständig als vielteiliges Hörspiel mit 160 Schauspielern produziert.

Einige jüngere Aufführungen:

Ausgaben (Auswahl)

  • Die letzten Tage der Menschheit. Tragödie in fünf Akten mit Vorspiel und Epilog. „Die Fackel“, Wien 1919. 639 + 48 Seiten. Mit 7 Abb. (= „Aktausgabe“)
  • Verlag „Die Fackel“, Wien/Leipzig 1922. XXIV + 792 Seiten. Mit 2 Abb. (= „Buchausgabe“)
  • Bühnenfassung für einen Abend von Heinrich Fischer und Leopold Lindtberg. Gustav Kiepenheuer Bühnenvertriebs GmbH, Berlin-Dahlem 1964. 180 Seiten.
  • Bühnenfassung [1930]. Hrsg. von Eckart Früh. Suhrkamp, Frankfurt 1992. 250 Seiten.
  • Die letzten Tage der Menschheit: Tragödie in fünf Akten mit Vorspiel und Epilog, Suhrkamp Verlag, Auflage 11. August 2008, ISBN 978-3518378205
  • der vollständige Text steht hier zum Kopieren bereit

CD-Aufnahmen


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