Differenzielles Training

Differenzielles Training

Unter differenziellem Lernen und Lehren wird eine Lernmethode im Sport verstanden. Die modellhafte Vorstellung motorischer Programme zur Bewegungssteuerung wird beim Ansatz des Differenziellen Lernens zu Gunsten einer systemdynamischen Auffassung der Entwicklung von Bewegungsfertigkeiten aufgegeben (→Modelle der Bewegungssteuerung).

Grundlegend für das Differenzielle Lernen ist die Variation der Bewegungen im weiteren Umkreis eines absoluten Bewegungsideals. Hierbei kommt es insbesondere zu einer Neubewertung von Bewegungs-Fehlern. Diese Fehler, die nach traditionellen Trainingsmethoden zu vermeiden sind, werden bewusst in den Trainingsprozess integriert. Das folgt Erkenntnissen, wonach interpersonell und intrapersonell die Wiederholung einer Bewegung mit sehr hoher Wahrscheinlichkeit nicht möglich ist. In diesem Zusammenhang stellt die Theorie ein personenübergreifendes Bewegungsideal in Frage.

Inhaltsverzeichnis

Grundannahmen

Auf zwei Grundannahmen stützt sich dieser Ansatz:

  1. Bewegungen unterliegen ständigen Schwankungen und können nicht wiederholt werden
  2. Bewegungen sind in hohem Maße individuell

Bei traditionellen Lernmethoden wird eine sukzessive Annäherung an ein vorgegebenes Ziel durch entsprechend hohe Wiederholungszahlen mit ständigem Soll-Ist-Vergleich erreicht (→Regelkreis). Dabei wird die Abweichung vom Ideal (Führungsgröße) nach und nach verringert, bis die Zieltechnik erreicht ist (Lernkurve). Diese angestrebte Zieltechnik unterliegt jedoch sowohl personenunabhängig wie auch individuell zeitlichen Schwankungen, sie ändert sich ständig.

Gleichzeitig ist die identische Wiederholung einer Bewegung mit hoher Wahrscheinlichkeit nicht möglich. Daraus ergibt sich in der Theorie eine wesentliche Neubewertung von Bewegungs-Fehlern: Wenn ein Bewegen ohne Fehler nicht möglich ist, ist umgekehrt auch das Vermeiden von "Bewegungs-Fehlern" nicht möglich. Im Gegensatz zu traditionellen Trainingsansätzen wird beim Differenziellen Lernen daher der Begriff 'Fehler' durch Schwankung ersetzt. Schwankungen in der Bewegungsausführung werden als notwendig für den Lernprozess angesehen und gezielt im Lernprozess eingesetzt.

Aus der Annahme, dass auch das individuelle Bewegungsideal ständig variiert, folgt ein trainingsmethodisches Problem der klassischen Trainingsansätze: bei sich ständig verändernden Zielen ist es wenig effizient, mit einem feststehenden Sollwert (dem Technikleitbild) zu vergleichen. Insofern stellt die Theorie ein personen-unabhängiges Bewegungsideal bzw allgemeines Technik-Leitbild in Frage.

Was macht man im Trainingsprozess?

Während des Trainingsprozesses werden gezielt Unterschiede (= "Differenzen") zwischen den Ausführungsversuchen durch die ständige Veränderung der Bewegungsaufgaben und der Umgebungsbedingungen erzeugt. Idealerweise erfolgt die Veränderung bei jeder Bewegungsausführung. Das zwingt den Körper, sich ständig variabel an neue Situationen anpassen zu müssen, mit der Folge einer verstärkten Reaktion des zentralen Nervensystems.

Begründung

Die Theorie liefert zwei Begründungen für die Wirksamkeit des Konzepts.

Die Bewegungsauführung wird (relativ) weit um eine angenommene allgemeine Zieltechnik herum variiert. Daraus ergibt sich für die Person die Möglichkeit, einen Lösungsbereich aufzuspannen, innerhalb dessen die gerade benötigte optimale Technik interpoliert wird. Da diese Technik sich ständig verändert, bietet der größere Lösungsraum auch eine größere statistische Chance, die Lösung zu finden. Bei der Anwendung in größeren Gruppen ergibt sich der Vorteil, die individuellen Bewegungsideale jedes Gruppenmitglieds anzusprechen. Die angenommene allgemeine Zieltechnik ist nach biomechanischen Gesichtspunkten der Bereich der Lösungen, die vermutlich zu einer größtmöglichen Leistung führen (so ist etwa das rückwärtige Anlaufen beim Weitsprung nicht geeignet, um eine maximale Absprunggeschwindigkeit zu erreichen).

Die Differenzen zwischen zwei Bewegungsausführungen wirken als Rauschen auf den Körper. Erkenntnisse aus dem Bereich der Stochastischen Resonanz belegen, dass Rauschen u.a. in biologischen Systemen zu einer Verstärkung bzw. zu einem Sichtbarwerden unterschwelliger Signale führen kann.

Wirksamkeit

In Untersuchungen zur Wirksamkeit des Differenziellen Lernen konnte mehrfach nachgewiesen werden, dass die Verstärkung des Rauschens in Form von häufigen Variationen der Bewegungsausführung in einer Verbesserung der Leistung resultieren kann. Bei den Untersuchungen wurden im Wesentlichen Vergleiche zwischen der Wirksamkeit des Konzepts des Differenziellen Lernens und den traditionellen Ansätzen, die in der Regel durch methodische Übungsreihen bestimmt sind, angestellt.

Im Bereich der Sportspielarten (Basketball, Fußball und Volleyball), der Leichtathletik und im Krafttraining konnten danach signifikante Leistungssteigerungen im Vergleich mit dem jeweils klassischem Ansatz erreicht werden. Diese Leistungssteigerungen wurden darüber hinaus in unterschiedlichen Leistungsbereichen und unabhängig vom Ausgangsniveau der untersuchten Sportlerinnen und Sportler beobachtet. Bemerkenswert ist das Ergebnis der Untersuchung im Kugelstoßen (Beckmann / Schöllhorn 2003), bei der eine Verbesserung der Kugelstoßleistung in der differenziell trainierten Versuchsgruppe auch nach einer Trainings-Pause ohne zusätzliche Trainingsinterventionen zu beobachten war. Die klassisch trainierte Gruppe fiel ohne Trainingsmaßnahmen auf das ursprüngliche Leistungsniveau zurück.

Vorteile gegenüber traditionellen Methoden

Das Differenzielle Lernen und Lehren ist nach den vorliegenden Forschungsergebnissen u.a. besonders zur Bewältigung größerer Trainingsgruppen geeignet. Weitere Vorteile sind im Bereich der Motivation der SportlerInnen (Abwechslung vom traditionellen "Drill and Practice") sowie einer erhöhten Effektivität (weniger Trainingsumfang bei gleicher Leistung im Vergleich mit traditionellen Verfahren) zu erkennen.

Auszeichnungen

Die Forschungsarbeiten zum Differenziellen Lernen und Lehren wurden national und international ausgezeichnet:

  • 1999 wurden grundlegende Forschungen zum Differenziellen Lernen mit dem ISB-Myashita-Award in Calgary ausgezeichnet
  • 2006 ist die Forschungstätigkeit zum Differenziellen Lernen vom Deutschen Werkbund mit dem Werkbund Label ausgezeichnet worden

Literatur

  • Jürgen Birklbauer (2006). Modelle der Motorik. Meyer & Meyer. Aachen.
  • Wolfgang Schöllhorn (1999). Individualität - ein vernachlässigter Parameter? In: Leistungssport, 29, (2), 7-11.
  • Wolfgang Schöllhorn (2005). Differenzielles Lehren und Lernen von Bewegung - Durch veränderte Annahmen zu neuen Konsequenzen. In H. Gabler, U. Göhner & F. Schiebl (Hrsg.): Zur Vernetzung von Forschung und Lehre in Biomechanik, Sportmotorik und Trainingswissenschaft (S. 125-135). Hamburg: Czwalina.
  • Jürgen Weineck (2007). Optimales Training. 15. Auflage. Spitta Verlag, Balingen, Seite 858

Weblinks

Übersicht zu forschungsrelevanter Literatur: http://www.sport.uni-mainz.de/Sport/401.php


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