Drei-Klassen-Wahlrecht

Drei-Klassen-Wahlrecht

Der Begriff Dreiklassenwahlrecht wird für das Wahlrecht verwendet, das 1849 von Friedrich Wilhelm IV. zur Wahl der zweiten Kammer des Preußischen Landtags, dem Abgeordnetenhaus, eingeführt wurde und bis 1918 in Kraft blieb. Der Name rührt daher, dass die Wähler ein nach Steuerleistung in drei Abteilungen („Klassen“) abgestuftes Stimmengewicht besaßen.

Das Wahlrecht zum Abgeordnetenhaus war angelehnt an das in der Rheinprovinz seit 1845 auf kommunaler Ebene geltende Dreiklassenwahlrecht. Bei Kommunalwahlen in Essen führte dieses dazu, dass Alfred Krupp allein ein Drittel der Mitglieder des Stadtrates bestimmte.

Da der Begriff Dreiklassenwahlrecht nahezu ausschließlich in Bezug auf das Wahlrecht zum preußischen Abgeordnetenhaus verwendet wird, beschränkt sich dieser Artikel hierauf.

Inhaltsverzeichnis

Grundlage und Grundzüge

Rechtsgrundlage war die „Verordnung betreffend die Ausführung der Wahl der Abgeordneten zur Zweiten Kammer“ vom 30. Mai 1849 und auf deren Grundlage von der preußischen Regierung erlassene Ausführungsbestimmungen. Ein in der Verfassung vorgesehenes Wahlgesetz kam bis 1918 nicht zustande, jedoch wurde die Verordnung mehrfach durch Gesetze geändert, die aber keine wesentlichen Änderungen beinhalteten. Die Wahlbezirkseinteilung wurde 1860 gesetzlich geregelt. Die Wahl war ungleich: die Wähler wurden nach Höhe ihrer Steuerleistung in drei Abteilungen (Klassen) eingeteilt und hatten so ein sehr unterschiedliches Stimmengewicht. Die Wahl der Abgeordneten erfolgte indirekt: die wahlberechtigten Wähler wählten Wahlmänner, diese wiederum die Abgeordneten ihres Wahlbezirkes. Die Wahl war nicht geheim.

Wahlverfahren

Wahlberechtigung und Wählbarkeit

Wahlberechtigt war jeder (männliche) Preuße, der das 24. Lebensjahr vollendet hatte, in einer preußischen Gemeinde seit mindestens sechs Monaten seinen Wohnsitz hatte und der nicht durch rechtskräftiges Urteil die bürgerlichen Rechte verloren hatte oder öffentliche Armenunterstützung erhielt. Für den Reichstag betrug die Altersgrenze 25 Jahre, auch hier und in den anderen Bundesstaaten waren die Empfänger öffentlicher Armenunterstützung vom Wahlrecht ausgeschlossen. Zum Abgeordneten wählbar war jeder, der das 30. Lebensjahr vollendet hatte, seit mindestens drei Jahren Preuße war und die bürgerlichen Rechte nicht durch rechtskräftiges Urteil verloren hatte.


Urwahlbezirke

Die Wahlberechtigten wählten in ihrem Urwahlbezirk 3 bis 6 Wahlmänner. Jeder Urwahlbezirk stellte so viele Wahlmänner wie er volle 250 Einwohner (gemäß der letzten Volkszählung) hatte. Ein Urwahlbezirk hatte also mindestens 750 und höchstens 1749 Einwohner. Hatte eine Gemeinde weniger als 750 Einwohner, wurde sie mit anderen Gemeinden zu einem Urwahlbezirk zusammengefasst. In Gemeinden ab 1750 Einwohner war die Gemeindeverwaltung, in den übrigen Gemeinden der Landrat für die Einteilung zuständig. Die für die Einteilung zuständige Stelle ernannte den Wahlkommissar (Wahlleiter) des Urwahlbezirks, dieser berief aus den Reihen der Wahlberechtigten den Schriftführer und drei bis sechs Beisitzer für den Wahlvorstand.

Die Einteilung in Urwahlbezirke wurde teilweise politisch tendenziös gehandhabt, entweder durch Gerrymandering oder dadurch, dass man systematisch Urwahlbezirken mit missliebigem Wahlverhalten so zuschnitt, dass sie eine Einwohnerzahl knapp unter der Schwelle zu einem zusätzlichen Wahlmann hatten (also z.B. knapp unter 1000) und Urwahlbezirke mit erwünschter Mehrheit eine Einwohnerzahl knapp darüber.


Die drei Abteilungen (Klassen)

Die Wähler wurden in drei Abteilungen (meist unkorrekt als Klassen bezeichnet) eingeteilt. Dies geschah bis 1893 grundsätzlich auf Gemeindeebene. Bildeten mehrere Gemeinden einen Urwahlbezirk, wurde die Dreiteilung auf der Ebene des Urwahlbezirks durchgeführt. Grundlage war das Aufkommen der direkten Staatsteuern (Klassensteuer oder klassifizierte Einkommensteuer, Grund- und Gewerbesteuer). Die Wahlberechtigten, die die meisten Steuern zahlten, wählten in Abteilung I. Von ihnen wurden so viele in die erste Abteilung eingeteilt, bis ein Drittel des Steueraufkommens erreicht war. 1908 bestand in 2214 von 29028 Urwahlbezirken die 1. Abteilung nur aus einer Person. 1888 gab es in 2283 von 22749 Urwahlbezirken nur einen Wahlberechtigten, in weiteren 1764 waren es zwei Wahlberechtigte. In 96 Urwahlbezirken gab es auch in der 2. Abteilung nur einen Wahlberechtigten. In die zweite Abteilung wurden die Wähler eingeteilt, die unter den verbleibenden Wahlberechtigten die größte Steuerleistung erbrachten, bis wieder ein Drittel des Gesamtaufkommens erreicht war. Die übrigen Wähler bildeten die 3. Abteilung. In ärmeren Vierteln von Großstädten konnte es vorkommen, dass es nach diesem Verfahren in der ersten oder sogar in der ersten und zweiten Abteilung gar keinen Wahlberechtigten gab. In diesen Fällen wurde die Einteilung auf der Ebene des Urwahlbezirks erneut durchgeführt. 1891 und 1893 wurde die Einteilung der Wähler in die Abteilungen reformiert. Dies geschah im Zusammenhang mit der Einführung der progressiven Einkommensteuer in Preußen, die an die Stelle der Klassensteuer und der klassifizierten Einkommensteuer trat. Die progressive Einkommensteuer hätte zu einem deutlichen Schrumpfen der Wahlberechtigten in der 1. und 2. Abteilung geführt. Um dies zu verhindern, wurde bei Wahlberechtigten, die keine Steuern zahlten, ein fiktiver Betrag von 3 Mark angesetzt. Außerdem wurde die Einteilung jetzt immer auf der Ebene der Urwahlbezirke durchgeführt und auch kommunale Steuern berücksichtigt. Es hing sehr vom Wohnort ab, zu welcher Abteilung man bei gegebener Steuerleistung gehörte. 1903 reichten in ärmeren Urwahlbezirken Berlins eine Steuerzahlung von 12 Mark für die 1. Abteilung, während in der Voßstraße (wo die Reichskanzlei lag) über 27000 Mark für die 2. Abteilung erforderlich waren. Daher musste Reichskanzler von Bülow 1903 in Abteilung III wählen. Der Anteil der Abteilungen an den Wahlberechtigten (Urwählern) schwankte im Laufe der Zeit und auch regional. Auf ganz Preußen bezogen entfielen auf Abteilung III etwa 80-85% der Wahlberechtigten und auf die 1. Abteilung ca. 4%. 1913 waren in Abteilung III 79,8% der Wahlberechtigten (1898: 85,3%), in Abteilung II 15,8% (1898: 11,4%) und in Abteilung I 4,4% (1898: 3,3%).

1913 gab es landesweit 190444 gültige Urwählerstimmen in der 1. Abteilung und 1990262 in der 3. Abteilung. Da beide Abteilungen die gleiche Anzahl an Wahlmännern wählte, hatten die Stimmen der Urwähler der Abteilung I im Durchschnitt ein 10,45 Mal so hohes Gewicht wie die der Wähler in Abteilung III.


Wahl der Wahlmänner (Urwahl)

Die Wahl der Wahlmänner wurde von den Urwählern in einer Versammlung durchgeführt. Zugang zum Wahllokal hatten nur die Wahlberechtigten. Die Wahl wurde getrennt nach Abteilungen durchgeführt. Waren insgesamt 3 Wahlmänner zu wählen, wählte jede Abteilung jeweils einen Wahlmann, bei 6 zu wählenden Wahlmännern jeweils zwei. Waren 4 Wahlmänner zu wählen, wählten die Abteilungen I und III je einen und Abteilung II zwei Wahlmänner, bei 5 Wahlmännern wählten die Abteilungen I und III je zwei und Abteilung II nur einen Wahlmann.

Zuerst wählte Abteilung III. Die Wahlberechtigten wurden nacheinander in absteigender Reihenfolge ihrer Steuerleistung aufgerufen und gaben ihr Votum vor versammelter Wählerschaft zu Protokoll. Sie nannten je nach Zahl der in der Abteilung zu wählenden Wahlmänner einen oder zwei Namen. Wer die absolute Mehrheit erreichte (mehr als die Hälfte Wähler), war zum Wahlmann gewählt. Dieser musste im Urwahlbezirk wahlberechtigt sein, aber nicht der Abteilung angehören, für die er gewählt wurde. Wurde keine absolute Mehrheit erreicht (in der Praxis selten) oder nur für einen von zwei zu Wählenden, fand eine Stichwahl mit doppelt so vielen Kandidaten statt wie noch Wahlmänner zu wählen waren. Sofern erforderlich, entschied bei Stimmengleichheit das Los, wer in die Stichwahl kam. Seit 1906 fand ein Losentscheid statt, wenn im ersten Wahlgang bei einem zu wählenden Wahlmann nur zwei Kandidaten Stimmen bekamen und diese die gleiche Stimmenzahl hatten, entsprechend galt dies bei zwei zu Wählenden und vier Kandidaten mit gleicher Stimmenzahl. Gewählte hatten, sofern anwesend, sofort Annahme oder Ablehnung der Wahl zu erklären. Lehnte ein nicht anwesender Gewählter die Wahl ab, wurde einige Tage später nachgewählt. War die Wahl in Abteilung III abgeschlossen, mussten deren Wähler das Wahllokal verlassen. Dann wählte Abteilung II, die nach Erledigung des Wahlgeschäfts ebenfalls den Raum verlassen musste, sodass nur die Wähler der 1. Abteilung übrig waren und ihr Votum abgaben. Die Wähler der 1. Abteilung konnten das Abstimmungsverhalten aller Wähler beobachten, während die Wähler der 3. Abteilung nicht wussten, wie die höheren Abteilungen wählten. Die Wahl war also, entgegen landläufiger Meinung, nur bedingt öffentlich.

1906 wurde in Städten ab 50000 Einwohnern die Wahlversammlung durch die heute allgemein übliche Fristenwahl ersetzt. Diese konnte darüber hinaus in Urwahlbezirken mit mehr als 500 Wahlberechtigten angewendet werden oder stattdessen mehrere getrennte Wahlversammlungen im Urwahlbezirk durchgeführt werden.


Wahlbezirke (Wahlkreise) und Wahl der Abgeordneten

Alle Wahlmänner eines Wahlbezirks versammelten sich an einem landesweit einheitlichen Tag (Termine für alle Wahlen siehe Artikel Abgeordnetenhaus) an einem seit 1860 gesetzlich festgelegten Wahlort ihres Wahlbezirks zur Wahl der Abgeordneten. Üblicherweise gab es in jedem Wahlbezirk mehrere Hundert Wahlmänner, in einigen Fällen auch weit über 1000. In den Wahlbezirken waren ein bis drei Abgeordnete zu wählen, vor 1860 hatte es auch Wahlbezirke mit mehr Abgeordneten gegeben. 1860 waren durch Gesetz 176 Wahlbezirke festgelegt worden. Die Wahlbezirke umfassten stets einen oder mehrere ganze Stadt- oder Landkreise, lediglich Berlin war in mehrere Wahlbezirke aufgeteilt. Abgesehen von kleineren Verschiebungen von Kreisgrenzen und der Verlegung von Wahlorten einiger Wahlbezirke gab es an diesen Wahlbezirken bis zu einer Gesetzesänderung 1906 (effektiv ab der Wahl 1908) mit einer einzigen Ausnahme keine Änderungen. 1906 wurden mehrere Wahlbezirke mit besonders großem Bevölkerungswachstum in kleinere Wahlkreise aufgeteilt und diesen Gebieten insgesamt 10 zusätzliche Sitze zugeteilt (Großraum Berlin 5, Ruhrgebiet 4, Oberschlesien 1). Ansonsten gab es Veränderungen der Wahlbezirkseinteilung nur durch zusätzliche Wahlbezirke für die nach dem Krieg von 1866 eroberten Gebiete (1867 Hannover, Hessen-Nassau und Schleswig Holstein, 1876 Lauenburg). Langfristig lässt sich eine Tendenz zu mehr Einerwahlbezirken feststellen:

Wahlbezirke nach
Zahl der Abgeordneten
1861 1867 1876 1885 1888 1908
1 Abgeordneter 27 105 106 104 105 132
2 Abgeordnete 122 123 123 124 125 121
3 Abgeordnete 27 27 27 27 26 23
Wahlbezirke insgesamt 176 255 256 255 256 276
Mandate insgesamt 352 432 433 433 433 443

Die kaum der Bevölkerungsentwicklung angepasste Einteilung begünstigte die Konservativen zusätzlich, da deren Abgeordnete überwiegend aus östlichen und ländlichen Landesteilen mit geringem Bevölkerungswachstum kamen.

Die Wahl der Abgeordneten erfolgte wie die Urwahlen durch Stimmgebung zu Protokoll, hier spielten die Abteilungen aber keine Rolle. Waren mehrere Abgeordnete zu wählen, fand für jeden Sitz eine separate Wahl statt. Zur Wahl war die absolute Mehrheit erforderlich. Wurde diese nicht erreicht, fand eine engere Wahl statt. Am zweiten Wahlgang durften bis 1903 alle Kandidaten teilnehmen, die im ersten Wahlgang mehr als eine Stimme bekamen. Bei jedem weiteren Wahlgang schied der jeweils schwächste Kandidat aus. Waren nur noch zwei Bewerber übrig, entschied bei Stimmengleichheit das Los. Seit 1903 fand sofort eine Stichwahl statt. Über 90% der Abgeordneten wurden schon im ersten Wahlgang gewählt.

Schied ein Abgeordneter während der Wahlperiode aus, wählten dieselben Wahlmänner wie bei der Hauptwahl einen Nachfolger. Nur für inzwischen verstorbene oder auf andere Weise ausgeschiedene Wahlmänner fanden ggf. Ersatzwahlen statt.

Auswirkungen

Das Wahlverfahren in Kombination mit der Wahlkreiseinteilung führte zu einer sehr starken Bevorzugung der Konservativen. 1913 erhielten sie 14,8% der Urwählerstimmen, hatten aber 149 der 443 Sitze im Abgeordnetenhaus (inkl. zwei Hospitanten), die Freikonservativen erreichten sogar 53 Sitze mit nur 2% der Urwählerstimmen. Die SPD hingegen erhielt 1913 mit 28,4% der Urwähler nur 10 Sitze. Gemessen am Stimmenanteil wurden Zentrum, National- und Linksliberale vom Wahlrecht eher begünstigt, aber bei weitem nicht im gleichen Ausmaß wie die Konservativen. Die in der Literatur genannten Stimmenzahlen für die Urwahl sind aber mit Vorsicht zu betrachten. Diese wurden so ermittelt, dass der Wahlvorstand bei der Urwahl bei den Wahlen ab 1898 einen Auswertungsbogen ausfüllte. Der Wahlkommisssar trug für jeden, der bei der Urwahl eine Stimme bekam, dessen mutmaßliche politische Orientierung ein. So wurde auf die politische Orientierung der Urwähler geschlossen. Daher sind die Stimmenanteile nur Näherungswerte.

Im Vergleich zum Reichstagswahlrecht war das Wahlrecht zum Abgeordnetenhaus besonders für Konservative, Freikonservative und Nationalliberale günstig. Nachteilig war es für Polen, Antisemiten, Welfen und besonders für die SPD. 1903 errang die SPD 32 der 236 preußischen Sitze im Reichstag, bei der Wahl zum preußischen Abgeordnetenhaus im selben Jahr aber keinen der 433 Sitze.

Die Wahlbeteiligung lag weit unter der bei Reichstagswahlen. 1913 lag sie bei 32,7% (1898 nur 18,4%), bei der Reichstagswahl 1912 in Preußen hingegen bei 84,5%. Die möglichen Gründe sind vielfältig: Die Stimmabgabe dauerte im Gegensatz zur Reichstagswahl in der Regel mehrere Stunden, sie fand zudem durchgehend werktags statt. Auf dem Land war unter Umständen ein weiter Marsch in eine Nachbargemeinde erforderlich, während es bei Reichstagswahlen stets mindestens ein Wahllokal in jeder Gemeinde gab. Das fehlende Wahlgeheimnis und damit mögliche negative Folgen einer Stimmabgabe konnte ebenfalls Wahlberechtigte von der Wahl abhalten. Bei Wahlberechtigten der 3. Abteilung konnte die relativ geringe Bedeutung ihrer Stimme eine Rolle spielen. Vielfach war die Bedeutung der Urwahl auch dadurch gemindert, dass der Wahlkreis politisch unumstritten war und der Sieger praktisch schon vorher feststand.

Besonders in der 3. Abteilung war die Wahlbeteiligung niedrig, sie betrug dort 1913 landesweit nur 29,9%, während sie in der 2. Abteilung bei 41,9% und in der 1. Abteilung bei 51,4% lag. Besonders hoch war die Wahlbeteiligung in den Gebieten mit hohem polnischen Bevölkerungsanteil und in Berlin, während im übrigen Land der ohnehin niedrige Durchschnittswert z.T. noch beträchtlich unterboten wurde. In Städten lag die Wahlbeteiligung höher als auf dem Land.

Das preußische Dreiklassenwahlrecht im Vergleich

Das preußische Wahlrecht galt schon zu Zeiten des Kaiserreichs als besonders rückständig. Dies ist im Vergleich zu den anderen Bundesstaaten des Deutschen Reichs nur bedingt zutreffend. Allgemeines, gleiches, geheimes und direktes Wahlrecht für Männer, wie es bei den Wahlen zum Reichstag galt, hatten 1914 mit Baden und Württemberg nur zwei der 25 Bundesstaaten und das Reichsland Elsass-Lothringen.

Weniger demokratisch als in den meisten anderen Staaten war das preußische Wahlrecht in zwei Punkten, nämlich der nicht geheimen und der indirekten Wahl. In allen anderen Staaten außer Waldeck waren Wahlen geheim, nachdem Bayern 1881, Braunschweig 1899, Hessen 1911 und Schwarzburg-Sondershausen 1912 die geheime Wahl einführten. Anfangs wurde fast überall indirekt gewählt, bis 1914 waren aber die meisten Bundesstaaten zur direkten Wahl übergegangen. Vergleichsweise fortschrittlich – auch im internationalen Vergleich – war hingegen das allgemeine Wahlrecht (für Männer) in Preußen, dieses war 1914 in 14 der 25 Bundesstaaten nicht gegeben. In Mecklenburg-Schwerin und Mecklenburg-Strelitz gab es vor 1918 keine gewählte Parlamentskammer. In Hamburg und bis 1905 in Lübeck galt ein Steuerzensus (Steuerzahlung in bestimmter Höhe als Voraussetzung für das Wahlrecht). In Waldeck war alternativ die Erfüllung eines Steuerzensus oder Grundbesitz erforderlich zur Erlangung des Wahlrechts. In Bayern, Sachsen, Hessen, Schwarzburg-Rudolstadt, Schwarzburg-Sondershausen, Lippe und Lübeck war die Zahlung direkter Steuern Wahlrechtsvoraussetzung, in Sachsen-Altenburg, Sachsen-Coburg-Gotha und Reuß ältere Linie die Zahlung direkter Steuern und ein eigener Hausstand.

Ein Dreiklassenwahlrecht galt neben Preußen in Braunschweig, Lippe, Sachsen (hier 1896-1909), Sachsen-Altenburg und Waldeck. Außerhalb Deutschlands galt in Rumänien bis zum 1. Weltkrieg ein Dreiklassenwahlrecht. Daneben gab es jedoch noch andere Formen ungleichen Wahlrechts. In Hessen hatten Wähler nach der Wahlrechtsänderung von 1911 ab 50, in Oldenburg ab 40 Jahre eine zusätzliche Stimme. In Sachsen galt seit 1909 ein Pluralwahlrecht, die Wähler hatten ein bis vier Stimmen gestaffelt nach Einkommen, Alter und Bildung. In Reuß jüngere Linie galt seit 1913 Ähnliches, hier hatten die Wähler bis zu fünf Stimmen. In Lübeck gab es ein Zweiklassenwahlrecht, wobei die erste Klasse 105 und die zweite nur 15 Abgeordnete wählte. In den meisten Staaten, in denen das Parlament nur aus einer Kammer bestand (zwei Kammern hatten Preußen, Bayern, Württemberg, Baden, Hessen und [ab 1911] Elsass-Lothringen, eine dieser Kammern wurde jeweils nicht gewählt), wurde ein Teil der Abgeordneten entweder vom Landesfürsten ernannt oder von bestimmten Gruppen (wie z.B. verschiedene Kammern, Höchstbesteuerte, Großgrundbesitzer, Akademiker) gewählt. In Bremen z.B. wurden nur 68 der 150 der Sitze in allgemeinen Wahlen vergeben, in Hamburg 80 von 160, in Braunschweig 30 von 48.

Reformbestrebungen

Die Linksliberalen und besonders die SPD verlangten regelmäßig die Übertragung des Reichtagswahlrechts auf Preußen. Die übrigen Parteien und die Regierung lehnten dies ab. Die Nationalliberalen forderten ein Pluralwahlrecht nach belgischem und sächsischem Vorbild, ferner (zusammen mit dem Zentrum) die direkte Wahl und eine Neueinteilung der Wahlkreise zur Anpassung an die Bevölkerungsentwicklung.

1910 brachte die Regierung Bethmann Hollweg einen Entwurf zur Reform des Dreiklassenwahlrechts ein. Dieser sah die Beibehaltung der nicht geheimen Wahl und der drei Abteilungen vor. Die Abgeordneten sollten aber direkt gewählt werden und die Zahl der Bürger in den Abteilungen I und II dadurch erhöht werden, dass über 5000 Mark hinausgehende Steuerzahlungen bei der Bildung der Abteilungen nicht mehr berücksichtigt werden sollten. Zudem sollten sog. Kulturträger in die jeweils nächsthöhere Abteilung aufsteigen. Zu den „Kulturträgern“ sollten Wähler mit Abitur gehören und zusätzlich über längere Zeit im Staatsdienst dienende Personen (u.a. Unteroffiziere). Mit letztgenannter Gruppe sollte ein konservatives Gegengewicht zu den Gebildeten geschaffen werden, die stärker den Liberalen zuneigten und durch die Reform ebenfalls begünstigt wurden. Darüber hinaus sollte die Wahlkreiseinteilung der Bevölkerungsentwicklung angepasst werden. Der Entwurf wurde von der SPD rundweg abgelehnt und fand auch bei keiner anderen Fraktion ungeteilte Zustimmung. Konservative und Zentrum, die beide wenig interessiert waren an einer Neuregelung, änderten den Regierungsentwurf erheblich ab. Der geänderte Entwurf stieß im Herrenhaus auf Widerstand. Daraufhin zog die Regierung den Gesetzentwurf zurück.


Links

Literatur

  • Huber, Ernst Rudolf: Deutsche Verfassungsgeschichte seit 1789, Band 3, Stuttgart 1963
  • Kühne, Thomas: Dreiklassenwahlrecht und Wahlkultur in Preussen 1867-1914, Landtagswahlen zwischen korporativer Tradition und politischem Massenmarkt, Düsseldorf 1994
  • Kühne, Thomas: Handbuch der Wahlen zum Preußischen Abgeordnetenhaus 1867-1918, Wahlergebnisse, Wahlbündnisse und Wahlkandidaten, Düsseldorf 1994
  • Schröder, Heinz Wilhelm: Sozialdemokratische Parlamentarier in den deutschen Reichs- und Landtagen 1867 bis 1933, Düsseldorf 1995
  • Sternberger, D./Vogel, B. (Hrsg.): Die Wahl der Parlamente und anderer Staatsorgane, Berlin 1969

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